Nationalismus in Kurdistan (1993)
Über die ersten Jahre der Herrschaft Bedir Khans als erblichen Emir von Botan wurden bis jetzt nur wenige verläßliche Nachrichten zutage gefördert. Man weiß nur, daß nach dem Tode seines Vaters, Abullah Khan, zunächst ein Cousin, Seyfeddin, die Herrschaft übernahm, dieser jedoch wegen angeblich übergroßer Zuwendung zur sufi-Meditation und Mystik die Amtsgeschäfte vernachlässigte und abgesetzt wurde. Angeblich wegen ähnlicher Neigungen wurde auch ein älterer Bruder Bedir Khans in der Erbfolge übergangen.[1] Das Jahr 1821 wird [− S.166 −] allgemein als Datum der Thronbesteigung Bedir Khans angenommen. Ganz wie Mir-i Kora hatte er langwierige Kämpfe zu bestehen, bevor seine Hoheit wenigstens im nominellen Radius des Emirats Botan anerkannt wurde.[2] Wie weiter oben schon geschildert, hielt er seine Position während des osmanisch-russischen Krieges 1828-1829 offenbar bereits für so gefestigt, daß er das vom Sultan angeforderte Hilfskontingent an Soldaten, welches im Kriegsfalle zu stellen höchste Vasallenpflicht war, nicht entsandte. 1834 verteidigten seine Gefolgsleute das Emirat erfolgreich gegen die Invasionsarmee Mir-i Koras, 1836 unterlagen sie den osmanischen Truppen, und Bedir Khan erneuerte seine Unterwerfung unter den Sultan. 1838 beteiligte er sich an der Bestrafung seines fürstlichen Nachbarn Said Beys, 1839 nahm er am gescheiterten Feldzug der Osmanen gegen die Ägypter in Syrien teil.[3] Die größte Ausdehnung erreichte Bedir Khans Herrschaftsbereich um 1846; als seine wichtigsten „Verbündeten“ zu diesem Zeitpunkt werden Nurullah Bey, Emir von Hakkâri, Şerif Bey, Emir von Bitlis, und Khan Mahmud, Herrscher von eigenen Gnaden über ein beträchtliches Gebiet südlich des Van-Sees, genannt.[4]
Es scheint mir aber, daß es sich hier weniger um Bündnisse als um Beziehungen von Vasallität handelte, was sich u.a. daran zeigt, daß Bedir Khan die Herrschaft seiner Vasallen aktiv zu sichern trachtete. Der Emir von Hakkâri beispielsweise hatte als Nachfolger eines verstorbenen Bruders erhebliche Mühe gehabt, seine Autorität über alle ihm nominell untertanen Stämme zu behaupten. Die traditionelle Residenz der Emire, Çölemerik, blieb unter der Hoheit des Sohnes seines Vorgängers, Süleyman, der zudem Rückhalt bei der mächtigsten Stammesgruppe im Hakkâri-Emirat, den militanten Nestorianerstämmen[5] unter [− S.167 −] ihrem erblichen Patriarchen, dem Mar Shimun, hatte.[6] Um sich gegenüber dem Mar Shimun besser durchsetzen zu können, hatte Nurullah Bey sogar beim osmanischen vali von Erzurum um Pardon und um offizielle Bestätigung durch die Pforte nachgesucht.[7] Knapp ein Jahr danach ließ er die Residenz des Mar Shimuns von seinen Gefolgsleuten einäschern, eine Machtdemonstration, die den Patriarchen für einige Zeit zum Einlenken bewegte.[8]
Es ist wichtig festzuhalten, daß dies kein Kampf zwischen ausgebeuteten Christen und muslimischen Unterdrückern war, sondern ein politischer Machtkampf innerhalb des tribalen Kräftesystems des Hakkâri-Emirats, ein Kampf von Gleich gegen Gleich. Denn die nestorianische Bevölkerungsgruppe setzte sich genau wie die muslimische aus einer aşiret- und einer reaya-Schicht zusammen, und die tribal organisierten Nestorianer standen ihren muslimischen Standesgenossen an militärischer Potenz in nichts nach.[9] Es gab sogar eine beträchtliche Zahl muslimischer reaya, die in Abhängigkeit von nestorianischen Herren lebten.[10] Als Nurullah Bey sich auch an seinen mächtigen Nachbarn Bedir Khan um Unterstützung gegen die Nestorianer wandte, war dies das offene [− S.168 −] Eingeständnis, daß seine Machtbasis so zerrüttet war, daß er seinen Anspruch auf Oberhoheit mit eigenen Kräften nicht mehr durchsetzen konnte.[11] Indem Bedir Khan 1843 seine Stammestruppen gegen die Nestorianer von Hakkâri ins Feld schickte[12], betätigte er sich als Protektor Nurullah Beys, genau wie er zuvor dem entmachteten Emir von Badinan Unterstützung gewährt hatte, bei dessen (vergeblichem) Versuch, sein Emirat zurückzugewinnen.[13] Zugleich festigte Bedir Khan dabei seine Stellung im eigenen Haus, denn die „Züchtigung“ der Nestorianer war auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, seinen Gefolgsleuten Beute und Ruhm zukommen zu lassen.[14]
Die außerordentliche Härte der Attacken, denen nach einer Schätzung 7 000, nach einer anderen sogar fast 10 000 Nestorianer zum Opfer fielen[15], mag allerdings zum Teil auch der tiefen Irritation unter den Muslimen geschuldet sein, welche die Anwesenheit und offene Agitation ausländischer Missionare unter den Nestorianern hatte aufkommen lassen. Das Wirken dieser nordamerikanischen und britischen Missionare wurde von ihnen als politische Einmischung der christlichen Großmächte in die eigenen Angelegenheiten begriffen und mobilisierte diffuse Ängste vor einer möglichen christlichen Dominanz.[16]
Die heutigen kurdischen Nationalisten haben mit diesen Vorfällen einige Probleme, betont man doch heute gern das gemeinsame Leiden und die Kampfgemeinschaft mit dem „assyrischen Brudervolk“, also den Nestorianern.[17] Man [− S.169 −] schiebt daher die Schuld für die Massaker ganz auf die Missionare, die als Spitzel der Pforte die Christen zu ihrem eigenen Schaden gegen den „nationalen Kampf“ Bedir Khans aufgehetzt hätten. In dieser Version erscheint der Schlag gegen die Nestorianer als bedauerliche, aber notwendige Polizeiaktion, um ‚Wehrkraftzersetzung und Subversion im Inneren‘ zu stoppen.[18] Der überwiegend tribale Aspekt des Konflikts wird dabei völlig ignoriert, während der religiöse sich in einen nationalen zu verwandeln scheint. Interessanterweise verzichtet man hier implizit auf die Fiktion vom „freiwilligen Bündnis“ und von der Selbständigkeit Nurullah Beys, denn schließlich war der Mar Shimun ihm und nicht Bedir Khan tributpflichtig. Wenn eine ‚provokative‘ Tributverweigerung ihm gegenüber unmittelbar Bedir Khans Vergeltung zur Folge haben ‚mußte‘, dann war Nurullah Bey nicht mehr als dessen Statthalter in Hakkâri.[19]
Was die anderen Verbündeten, Şerif Bey und Khan Mahmud, angeht, so ist über den ersteren fast gar nichts bekannt und das wenige spricht eher gegen ein Bündnis mit Bedir Khan.[20] Über die Verbindung Khan Mahmuds zu Bedir Khan gibt es hingegen reichlich Nachricht, sie scheint aber keineswegs immer von gemeinsamen Interessen geprägt gewesen zu sein. Schon 1838 mußte er sich [− S.170 −] zur Verteidigung gegen einen Angriff von Seiten des letzteren rüsten, sechs Jahre später (nach dem großen Angriff auf die Nestorianer) unterwarf Bedir Khan einen Bruder Khan Mahmuds gewaltsam und zwar jenen, dessen Residenz als die größte und stärkste Festung von allen galt.[21] Ein Wink, den auch Khan Mahmud nicht mißverstehen konnte. Ebenso sprechen die Berichte von Augenzeugen über den persönlichen Verkehr zwischen Bedir Khan und seinen „Verbündeten“ klar für ein Verhältnis von Herr und Vasallen.[22]
Ein weiteres Argument, das gegen eine ‚nationale‘ Interpretation Bedir Khans Bestrebungen spricht, ist die Tatsache, daß es deutliche Anzeichen dafür gibt, daß der Emir zu keinem Zeitpunkt seiner sogenannten „Rebellion“ die Hoheit des Sultans ernstlich angezweifelt hat; vielmehr bemühte er sich, selbst nachdem seine Macht gewaltig angewachsen war, seinem Status als Vasallen des Sultans wenigstens der Form nach gerecht zu werden.[23] Umkehrt schien die Pforte ihrerseits bemüht, unter allen Umständen einen friedlichen Interessensausgleich mit Bedir Khan zu bewerkstelligen. 1842 beispielsweise, als eine ernste Krise um die vom vali in Mosul angestrebte Gebietsreform ausbrach, die Bedir Khan um beträchtliche Revenuen gebracht hätte, entschied der Sultan auf Vermittlung des valis in Diyarbakır zugunsten Bedir Khans. Zur Beschwichtigung des erbosten Emirs wurde er sogar mit einem Ehrenschwert ausgezeichnet.[24] Und im Jahre 1844 wurde Bedir Khan von höchster Stelle dafür belobigt, bei der Bestrafung eines „räuberischen“ Stammes geholfen zu haben, der einen für [− S.171 −] Bagdad bestimmten Lebensmitteltransport geplündert hatte.[25] In das gleiche Jahr fällt die folgende, von einem nordamerikanischen Missionar berichtete Episode, die in diesem Zusammenhang charakteristisch ist:
„Sie werden schon zuvor gehört haben von der Unterredung Keimal Effendis, des türkischen Sonderbeauftragten, mit Bader Khan Bey, davon daß er Position zugunsten der Nestorianer bezog und von der darauffolgenden Freisetzung von über vierzig Gefangenen. Der Sonderbeauftragte tat dies, als er auf dem Weg von Konstantinopel hierher [der Autor schreibt aus Mosul, G.B.] war. Etwa zur gleichen Zeit erging Befehl von der Pforte an Bader Khan Bey, all seine Gefangenen freizugeben. Er gehorchte allerdings nur soweit, als hinlänglich war, um den Anschein von Gehorsam zu wahren — bei geringstmöglicher realer Befolgung des Befehls; d.h., er ließ ein paar Menschen frei, damit es so aussah, als komme er der Anordnung der Regierung nach, während er gleichzeitig den größeren Teil weiterhin in Gefangenschaft hält.“[26] (meine Übers.; engl. Original)
Der gleiche Geist spricht aus Bedir Khans zahlreichen Eingaben an die Pforte, in denen es vor Ergebenheitsfloskeln nur so wimmelt, die aber in der Sache durchaus von wohlverstandenem Eigennutz geprägt sind.[27]
Die Pforte ihrerseits schien es nicht übermäßig eilig zu haben, ihre staatliche Autorität in Bedir Khans Herrschaftsbereich gewaltsam durchzusetzen, wurde aber von den Großmächten massiv zu Strafmaßnahmen wegen der Massaker an den Nestorianern — als deren Schutzpatrone sich England und Frankreich aufwarfen — gedrängt.[28] Das ganze Jahr 1846 über schleppten sich die zögerlichen Vorbereitungen für eine militärische Strafexpedition hin, gleichzeitig wurde durch spezielle Regierungsemissäre intensiv mit dem ‚aufsässigen‘ Emir verhandelt. Anfang 1847 bot Bedir Khan im untertänigsten Ton — er hatte mittlerweile vom Aufmarsch einer starken Armee in Diyarbakır erfahren — an, für all seine Missetaten geradestehen zu wollen, denn „sofern ich tatsächlich unfreundliche Akte verübt habe, für die die gebührende Strafe zu akzeptierten ich klar bereit bin, und eventuell auch jetzt noch Fehler begehe, so doch nur weil ich in eingestandener Unkenntnis vorging.“ Weiter beteuert er demütig: „Und wenn ich tausend Leben hätte, ich gäbe sie alle freudig für meinen Großherrn hin.“[29] [− S.172 −] Allerdings geht aus Bedir Khans letztem Unterwerfungsangebot vom 19. April 1847 auch hervor, daß er sich mittlerweile ein wichtiges Prärogativ des Sultans angemaßt hatte: nämlich das Freitagsgebet (hutbe) in der Zentralmoschee in seinem Namen lesen zu lassen.[30] Woraus man deutlich erkennen kann, daß er bei aller Kompromißbereitschaft zielstrebig daran arbeitete, die eigene Machtstellung weiter auszubauen. Doch die osmanische Militärmaschine war — einmal angelaufen — nicht mehr zu stoppen. Im Juni 1847 kam es zur Entscheidungsschlacht, die mit einer Niederlage für den Emir endete. Bedir Khans Vasallen ließen ihn daraufhin sofort im Stich, und so mußte er am 29. Juli 1847 kapitulieren.[31] Im Oktober des gleichen Jahres wurde er unter höchst ehrenvollen Bedingungen nach Kreta verbannt.[32]
Die von Bedir Khans Nachfahren später in Umlauf gebrachte Geschichte von großartigen Schlachtensiegen und vom achtmonatigen heldenhaften Ausharren ihres Ahnen in seiner Bergzitadelle gegen eine erdrückende Übermacht darf getrost ins Reich der nationalistischen Mythenbildung verwiesen werden.[33] [− S.173 −] Ebenfalls unzutreffend ist die Behauptung, die ‚Alliierten‘ Bedir Khans hätten auch nach dessen Gefangennahme noch jahrelang weitergekämpft.[34] Was z.B. Nurullah Bey betrifft, so schrieb er selbst ein Jahr später in einer Petition an den Sultan:
„[...] als Osman Paşa gegen Bedir Khan Bey ins Feld geschickt wurde, leistete ich ihm Hilfe; indem ich mich samt meinen Soldaten dem Heer anschloß, war ich ihm eifrigst zu Diensten. In Anerkennung dieser meiner Dienste geruhte man Euerem Diener die Gunst der Ernennung zum Obertürhüter zu gewähren, und indem man mir ein Bataillon Soldaten mitgab, wurde dafür gesorgt, daß ich den Schutz meiner Festung und meiner Orte gewährleisten konnte.“[35] (meine Übers.; türk. Original)
Er erhielt also außer einem Ehrentitel vor allem militärische Unterstützung bei der Durchsetzung seiner Machtposition gegenüber seinem weiter oben bereits erwähnten Rivalen und Neffen Süleyman Bey.[36]
Genau betrachtet unterscheidet sich Bedir Khans Revolte kaum von der anderer derebeys vor ihm: In einer Zeit der Schwäche der Zentralgewalt dehnte er seinen Herrschaftsradius aus und beanspruchte innerhalb dessen alleinige Autorität. Erfolgreiche Feld/Raubzüge mehrten die Zahl seiner Gefolgsleute, die erhöhte militärische Schlagkraft wiederum erlaubte es ihm, seinen Schiedsspruch zum einzigen Gesetz zu machen.[37] Die Konkurrenz von osmanischen kadis und Steuereintreibern konnte er dabei nicht dulden, nicht weil sie ‚fremdnational‘ gewesen wären, sondern weil sie seine fürstliche Machtbasis schmälerten — materiell die einen, ideell die anderen. Die Oberhoheit der Osmanlı als Großherrn hingegen war ihm so lange unproblematisch, als dadurch seine eigene Herrschaft nicht in Frage gestellt wurde, im Gegenteil: Bedir Khan betonte auch auf dem Höhepunkt seiner Macht, daß er sich seinem Vasalleneid nach wie [− S.174 −] vor verpflichtet fühle.[38] Nichts deutet darauf hin, daß er oder Mir-i Kora „die Kurden“ oder „Kurdistan“ als eine präexistente Wesenseinheit aufgefaßt hätten, welcher allein schon durch das Faktum ihrer schieren Existenz ein Recht auf vollständige Freiheit von „Fremdbestimmung“ zugestanden hätte.[39] War Mir-i Koras Ziel ein universell vergrößertes Emirat Soran gewesen, so galt Bedir Khans Streben einem allumfassenden Emirat Botan. Beide waren sie von der Erschütterung des Reiches durch den Konflikt zwischen Muhammed Ali und Mahmud II. begünstigt worden, aber das mehrmalige Eingreifen der Europäer zugunsten des von ihnen erwünschten status quo verkürzte in beiden Fällen die ihnen verbleibende Zeitspanne zu sehr, als daß sie sich endgültig als Regionalherrscher hätten festsetzen können. Mit ihnen ging allerdings die ganze Ära der fürstlichen „kurdischen“ Sonderrechte ihrem Ende zu. Nach der Eroberung von Bitlis (1849) erlosch mit dem Emirat Baban (1850) die letzte der großen alten Dynastien.[40]
Mitte des Jahrhunderts hatte die Pforte also ihr Hauptziel weitestgehend erreicht, die meisten Provinzen unterstanden wieder dem direkten Zugriff der Zentralgewalt, und kein von ihr bestellter vali mußte mehr zittern, ob es den [− S.175 −] ihm mitgegebenen Truppen wohl auch gelingen möge, seinen Vorgänger gewaltsam aus dem Amt zu vertreiben. Selbst die über ein Jahrzehnt schwelende „ägyptische Krise“ war mit Hilfe europäischen Drucks in einer Weise bereinigt worden, die eine erneute Bedrohung der Souveränität des Sultans aus diesem Teil seines Reiches unmöglich machte. Aber eigentlich war die Beseitigung der übermächtigen Provinzherren nur als erster Schritt im Rahmen der „heilsamen Neuordnung“, der tanzimat, geplant gewesen, und gerade beim zweiten Schritt, der Gewährleistung einer regulären, zentral kontrollierten Verwaltung, Steuererhebung und Rechtssprechung auch in den entfernteren Provinzen, versagte die Pforte — zumindest was Kurdistan betrifft — auf ganzer Linie.
„Die Schwäche der türkischen Regierung können die Erfolge des Mohammed Pascha von Mosul nur auf kurze Zeit bemänteln. Man legt den Häuptlingen Tribut auf, treibt in den Gränzbezirken [sic] einige Rekruten ein und hält dazu einen oder zwei Plätze — wie Basch Kalah und Dschulamerk — und ich glaube auch Amadia — mit Truppen besetzt. — Inzwischen warten die Häuptlinge im Inneren, wo sie wie vorher unbekümmert um den Sultan und seinen Tansimat schalten und walten [...] die Zeit ab, da günstigere Umstände, etwa ein Angriff auf die Türkei von Rußland oder Persien her [...], das leichte Joch abzuschütteln erlauben mögen.“[41]
Nur zu bald hatte die Pforte erfahren müssen, daß sich an den Umständen, welche die Sultane vergangener Jahrhunderte dazu bewogen hatten, ihre überlegene Militärgewalt nicht zur Zerschlagung der aufsässigen lokalen Herrschaften in Kurdistan zu benutzen, nichts geändert hatte. Auch nachdem alle größeren Orte wie Cizre, Sulaymaniya, Bitlis, Amadiya oder Çölemerik von osmanischen Truppen besetzt waren[42], reichte die Macht ihrer Statthalter außerhalb der Mauern dieser Garnisonsstädte kaum weiter als bis zum jeweiligen Standort ihrer Armee.[43]
Das entscheidende Problem war, daß das Reich unverändert stark genug geblieben war, um für einmalige Schläge eine erdrückende Übermacht zu versammeln, es jedoch für eine dauerhafte Beherrschung Kurdistans an Kräften fehlte. Folglich stellte sich alsbald die alte Kräftebalance zwischen den eingesessenen Herren in der Provinz und der Zentralgewalt auf etwas niedrigerem Niveau wieder ein. Nunmehr arbeiteten statt Sultan und erblichen Emiren eben regionale Statthalter mit lokalen ağas und Stammeschefs zusammen.[44] So hatte [− S.176 −] Kurdistan allerdings zwei Herren und die Untertanen wurden doppelt besteuert: von der osmanischen Zentralgewalt nämlich, die in jährlichen, feldzugartigen Kampagnen die staatlich festgelegten Steuern (und mehr) eintrieb, und von den alteingesessenen ağas, die gar nicht daran dachten, auf den ihnen nach Gewohnheitsrecht zustehenden Tribut zu verzichten.[45] Der daraus resultierende wirtschaftliche Niedergang wurde weiter dadurch beschleunigt, daß die neuen osmanischen Statthalter weder über die gewachsene Autorität altehrwürdiger Dynastien noch über die materielle Macht verfügten, um im Falle schwerwiegender tribaler Konflikte die Funktion der abgesetzten Emire als übergeordnete Schlichtungs- und Entscheidungsinstanz übernehmen zu können.[46]
Als Konsequenz zerbrach die fragile Kräftebalance der kurdischen Gesellschaft in einem schier unentrinnbaren Strudel allseitiger Konflikte. Die großen Konförderationen der alten Emirate lösten sich auf in einander permanent bekämpfende und befehdende Stämme und Stammesabsplitterungen.[47] Die Allianz der osmanischen Statthalter mit einzelnen lokalen ağas verschlimmerte die Krise nur noch: ohne diese Zusammenarbeit konnten sie im Umland ihrer Residenzen nicht einmal die minimalste Ordnung aufrechterhalten; gleichzeitig trieb aber gerade diese Allianz die tribalen Rivalen der protegierten ağas zur offenen Rebellion gegen den Staat. Die periodischen Strafexpeditionen größerer Truppeneinheiten hatten dabei keinerlei bleibende Wirkung, und die öffentliche Sicherheit brach schlicht zusammen.[48]
Während die Reform- und Rezentralisierungsanstrengungen der Pforte in den osmanischen Kernlanden vor allem durch die ökonomische Schwäche der Zentralgewalt teilweise bis zum Stillstand gebremst wurden, aber trotzdem allmählich zu Veränderungen im Sinne der Pforte führten, wirkten sie im gänzlich anders gearteten Kontext der kurdischen Gesellschaft offenbar bloß destruktiv. Als Reaktion auf die Unfähigkeit der osmanischen Zentralgewalt, das von ihr selbst angerichtete Chaos in der östlichen Peripherie zu stoppen, erwuchs hier [− S.177 −] schließlich durch ‚Mutation‘ einer jahrhundertealten spirituell-sozialen Institution, den sheikhs, eine neue einheimische Machtelite, die die Gestalt der kurdischen Gesellschaft während der hundert Jahre zwischen 1850 und 1950 nachhaltig prägen sollten. Dem Aufstieg dieser neuen Schlüsselfiguren muß das Augenmerk daher als nächstes gelten.
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