Nationalismus in Kurdistan (1993)
Als sheikh bezeichnet man in Kurdistan von alters her jene spirituellen Führer, die sich durch asketische Lebensführung, Weisheit (einschließlich heilpraktischer Kenntnisse) und Vertiefung in mystisch-religiöse Lehren einen Ruf als heilige und verehrungswürdige Persönlichkeiten erworben haben.[1] Man darf sich diese sheikhs dabei nicht als entrückte ‚Säulenheilige‘ vorstellen. Sie schossen, ritten und kämpften wie jeder andere Stammeskrieger, und etliche von ihnen erwarben sich auch einen großen Ruf als militärische Führer. Im übrigen verschmähten sie auch weltlichen Reichtum nicht, denn ein großer Teil ihres Prestiges beruhte darauf, daß sie ihre Gefolgsleute und andere Gäste häufig großzügig bewirteten und im Falle der Not gelegentlich mit materieller Hilfe (z.B. Saatgut) beiseite standen.[2] Umgekehrt brachten ihre Anhänger bei jedem Besuch kleine (oder sofern sie reich waren große) Geschenke mit.[3] Landschenkungen wurden offenbar recht häufig vorgenommen.[4]
Diese materiellen Beziehungen waren jedoch von kapitalistischen Warentauschgesetzen weit entfernt, denn der Gastgeschenke darbietende Besucher eines sheikhs ‚bezahlte‘ diesem nicht etwa ein ‚Äquivalent‘ für eine empfangene ‚Dienstleistung‘, sondern er bestätigte damit dessen sozialen Status. Umgekehrt wäre die bloße Akkumulation von Gaben als Selbstzweck — etwa im Sinne einer „Schatzbildung“ — ohne die gleichzeitige Bereitschaft zur demonstrativen [− S.178 −] Verschwendung, wie z.B. die überreichliche Bewirtung Hunderter von Gästen an besonderen Feiertagen, für den sheikh einem sozialen Selbstmord gleichgekommen.[5] Die folgende Beobachtung, die der Anthropologe Leach im tribalen Milieu Irakisch-Kurdistans machte, zeigt, daß dieser soziale Mechanismus selbst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts ungebrochen in Kraft war:
„Je ausufernder die Gastfreundlichkeit des Aghas, desto höher steigt er in der Wertschätzung seiner Gefolgsleute; dies gilt in solchem Maße, daß das einem Mann dank seiner Qualität als guter und freigebiger Gastgeber zustehende Prestige auf der Ebene der Ehre Handicaps aufgrund geringer Geburt vollständig aufzuwiegen vermag. Hamid Amin Agha aus Naupurdan beispielsweise genoß trotz Armut und nur recht schwacher verwandtschaftlicher Nähe zum herrschenden Chef des Klans ein unglaubliches Ansehen im ganzen Distrikt — allein aufgrund seiner Gastfreundschaft. Überall konnte man hören, daß er viel mehr Ehre im Leib habe [...] als sein nomineller Herr, Sheikh Mohammad Agha von Walosh [...] Sheikh Mohammad sei geizig und ein altes Weib [...] Die gesellschaftliche Struktur ist derart gestaltet, daß diese Art des Ansehens höher als alle anderen geschätzt wird.“[6] (meine Übers.; engl. Original)
In dieser vorbürgerlichen Sozialwelt erlangte man Macht weniger durch Anhäufung von Besitz als durch exzessive Verausgabung von Gütern — mit dem dadurch erhöhten sozialen Status konnte man allerdings unter bestimmten Umständen um so mehr Leistungen und Abgaben einfordern[7] —, weil Reichtum letztlich als eine abgeleitete Funktion des Status erschien.
Teilweise vermochte sich das besondere Prestige eines sheikhs auf seine Nachkommen zu vererben. Sofern diese jedoch nicht selbst den entsprechenden Lebenswandel an den Tag legten, verflachte die aktive Verehrung rasch zu einem diffusen Respekt. Sheikh war (und ist) daher ein Titel, der vorwiegend durch praktischen Lebenswandel errungen und behauptet werden mußte und nicht wie ein Amt von irgend jemand verliehen werden konnte.[8] Wer allerdings [− S.179 −] als Lehrmeister eines der bestehenden sufi-Orden akzeptiert sein wollte, bedurfte der Einführung und Lossprechung durch einen etablierten sheikh der betreffenden Gruppierung. Daneben sind aber auch Einzelgänger ohne jede Verbindung zu einem bestimmten Orden zu weithin akzeptierten sheikhs aufgestiegen. Von diesen vermochte jedoch keiner seinen Einfluß dauerhaft auf Nachfolger zu übertragen.[9] Im Gefolge der sufi-Orden hingegen entstanden regelrechte sheikh-Dynastien, in denen Prestige und Einfluß in gewisser Weise akkumulierbar gewesen zu sein scheinen.[10] So waren die einflußreichsten sheikhs in Kurdistan allesamt entweder Mitglieder der „Kadiriye“ oder der „Nakşbendî“, jener beiden Orden, welche allein — aus der Vielzahl der sufi-Gemeinschaften im ganzen islamischen Raum — in Kurdistan zu größerer Bedeutung gelangten.[11]
Die sufis boten ihren Anhängern im Vergleich zur rationalen und eher äußerlichen Ritual-Theologie der sunnitischen ulema eine sinnlich erfahrbare und popularisierte Glaubensvariante, die den immer noch stark vorislamisch, schamanistisch geprägten Glaubensbedürfnissen der breiten Mehrheit der Bergbewohner mehr entgegenkam.[12] Besonders das Moment der persönlichen Verehrung und unbedingten Gefolgschaft der sufi-Schüler für ihren sheikh, die bisweilen selbst die Grenzen zur Vergöttlichung überschreiten konnte, wurde allgemein angenommen.[13] In jedem Fall wurde den sheikhs ein mehr oder minder direkter Kontakt zum Allmächtigen zugeschrieben. Nach einer weit verbreiteten bildhaften Vorstellung durfte der gehorsame Anhänger eines sheikhs darauf hoffen, nach dem Tode von seinem Meister in einer Tasche sicher durch [− S.180 −] die göttliche Prüfung ins Paradies gebracht zu werden.[14] So etwas propagierten die sheikhs allerdings nicht selbst. Die „inneren Mysterien“ der Nakşbendî beispielsweise waren eher orthodox und auch von der sunnitischen ulema anerkannt.[15] Das hinderte ihre Anhänger nicht daran, sie als wundertätige Magier und Heilige zu verehren, und die sheikhs unternahmen auch nichts dagegen, da solch eine Reputation der Entfaltung ihres Einfluß' nur dienlich sein konnte.[16] Die Erstellung wundertätiger Amulette und Briefchen, z.B. zum Schutz vor Verletzung durch Gewehrkugeln, gehörte dabei durchaus zu den akzeptablen Betätigungen eines seriösen sheikhs.
Natürlich hatte ein sheikh auch ganz irdische Funktionen, denn sein Rat wurde in allen wichtigen Entscheidungen (Heirat, weite Reisen, Krankheit) eingeholt, vor allem aber trat er als Schlichter bei schwerwiegenden Konflikten auf.[17] Je größer das Prestige des sheikhs, desto eher fanden die beiden Streitparteien sich bereit, seinen Schiedsspruch zu akzeptieren. Umgekehrt erhöhte jeder geschlichtete Streitfall das Prestige des erfolgreichen Schlichters. Die Funktion des obersten Schlichters war in der Vergangenheit jedoch eindeutig von den Emiren aus den großen Dynastien wie Baban, Soran oder Botan besetzt, und solange diese Herrscherhäuser noch existierten, wurden den sheikhs nur weniger bedeutsame Streitigkeiten vorgetragen. Die Schlichtung eines gewichtigen Konflikts, beispielsweise zwischen den Chefs zweier großer Stämme, wäre nämlich einer Herausforderung der Souveränität des Emirs gleichgekommen, denn durch die Unterwerfung unter seinen Schiedsspruch hätten die Konfliktparteien den Status des Schlichters als über dem ihren stehend hingenommen und den sheikh dadurch mehr oder weniger als Herrn akzeptiert.[18] Zudem qualifizierten sich die Emire, abgesehen von ihrem Prestige, zusätzlich durch die ihnen zu Gebote stehende, überlegene Streitmacht für das Amt des obersten Richters: eine Streitpartei, die einem fürstlichen Schlichtungsspruch zu trotzen wagte, mußte mit einer vernichtenden Strafexpedition rechnen.[19] [− S.181 −]
Die Beseitigung der mehr oder weniger unabhängigen Herrschaften in den Bergen Kurdistans und der Aufstieg der sheikhs von lokal verehrten weisen Männern zu überregionalen Machthabern gehören daher ursächlich zusammen. Die sheikhs standen als einzige weit genug außerhalb der Stammesorganisation, um nicht selbst automatisch Partei werden zu müssen in jenem Strudel ungebändigter segmentärer Konflikte, in welchem die gesellschaftlich dominante Schicht der Stammesleute nach dem Verschwinden der Emiratsstrukturen unterzugehen drohte. Gleichzeitig waren sie akzeptierter Teil des Systems — anders als die osmanischen Statthalter, deren offizielle Herrschaft das Chaos nur noch verschlimmerte — und konnten durch geschickte politische Allianzen und Heiraten die militärisch potenten Stämme an sich binden und so allmählich wieder eine gewisse gesellschaftliche Stabilität etablieren.[20] Auf diese Weise hatten sich binnen weniger Jahrzehnte die drei großen sheikh-Dynastien der Şamdinan, Barzan und Barzinci zu den eigentlichen Herren Kurdistans aufgeschwungen.[21]
Dieser Prozeß wurde beschleunigt durch den gänzlichen Zusammenbruch der staatlichen Autorität in den östlichen Provinzen des Reiches während des sogenannten „Krimkrieges“ (1853-1856) und das dadurch bedingte Chaos. All jene Potentaten, die sich früher in ihrem Einflußgebiet einer autonomen Herrschaft erfreut hatten, beeilten sich, von der neuerlichen Schwäche der Pforte zu profitieren. So versuchte sich auch ein Neffe Bedir Khans, İzzeddin Şir, an der Wiedererrichtung des zerschlagenen Emirats von Botan.
Seinerzeit durch frühzeitigen Frontwechsel dem Schicksal des Onkels entgangen und sogar mit einem Gouverneursposten belohnt, war er einige Zeit vor dem Krieg in Ungnade gefallen und seines Posten wieder enthoben worden.[22] Erst bei Kriegsausbruch besann man sich eines anderen und gab ihm den [− S.182 −] Auftrag, eine Truppe von einigen tausend irregulären Reitern aufzustellen.[23] İzzeddin Şir lagerte mit den ersten 1 500 Freiwilligen in der Nähe Cizres, als sich herausstellte, daß der versprochene Sold für seine Leute veruntreut worden war.[24] Daraufhin bemächtigte sich İzzedin Şir an der Spitze seiner düpierten Truppe der Stadt und ließ sich dort selbst zum Herrscher ausrufen.[25] Ein Vorstoß der Rebellen auf Zakho wurden zunächst abgeschlagen, doch Siirt konnte praktisch kampflos eingenommen werden. Mitte Dezember 1854 schließlich beherrschte İzzeddin Şir unangefochten Siirt, Cizre und Zakho.[26] Die Pforte brauchte mehrere Monate, um der Sache Herr zu werden, zumal die Rücksichtslosigkeit, mit welcher die im Frühjahr 1855 herbeigezogene, größere Armee unter Ferik Mehmet Paşa auch in unbeteiligten Gebieten zu Werke ging, diese ebenfalls zur Rebellion trieb.[27] Im Juni 1855 kam es zur Entscheidungsschlacht, die mit einer Niederlage der Rebellen endete. İzzeddin Şir gab Cizre daraufhin preis, verschanzte sich in einer Bergfestung und nahm Verhandlungen mit Mehmet Paşa auf. Da er aber den Garantien des osmanischen paşas nicht trauen wollte, flüchtete sich İzzeddin Şir schließlich nach Mosul und unterstellte sich dem Schutz des dortigen britischen Vize-Konsuls Rassam, der ihm tatsächlich [− S.183 −] solange Asyl gewährte, bis eine vergleichsweise glimpfliche Strafe (Verbannung nach Vidin) mit der Pforte ausgehandelt war.[28]
Es wird wohl hauptsächlich an der verwandtschaftlichen Verbindung İzzeddin Şirs zu Bedir Khan liegen, daß diese Revolte in der einschlägigen Literatur besonders hervorgehoben wird.[29] Tatsächlich gab es während des Krimkrieges (besonders nach dem Fall Kars') etliche solcher Versuche, lokaler oder regionaler Art, die Kontrolle der Zentralgewalt wieder abzuschütteln. Ein Aufstand unter einem gewissen Mohammed Ağa führte z.B. zur Eroberung von Başkale, woraufhin für einige Zeit ein neuer Emir für Hakkâri ausgerufen wurde.[30] Der nordamerikanische Missionar Samuel Rhea schrieb im Februar 1856 aus Mosul:
„Die Kapitulation von Kars hat zweifelsohne diesem gesetzlosen Treiben Vorschub geleistet. Man hat gegenwärtig in den Bergen wohl allgemein den Eindruck, daß die Türken am Ende sind; und da die Engländer und Russen zu weit weg und überhaupt zu sehr mit anderem beschäftigt sind, als daß sie um den Schutz der christlichen Bevölkerung kümmern würden, glauben die Kurden, sie könnten nach Belieben rauben und plündern. Ihr Motto ist zur Zeit: ‚Laßt uns essen und trinken, denn morgen werden wir sterben.“[31] (meine Übers.; engl. Original)
Der Krimkrieg allerdings ist — als ein Wendepunkt in der osmanischen [− S.184 −] Geschichte — von zu großer Bedeutung, als daß er hier nur als ‚Hintergrund‘ diverser Aufstände abgehandelt werden könnte.
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