Nationalismus in Kurdistan (1993)
Der Krimkrieg, in welchem die Osmanen an der Seite der Briten, Franzosen und zuletzt auch der Sarden (Königreich Sardinien-Piemont) gegen das Russische Reich kämpften und ‚siegten‘, bedeutete für die westlich-kapitalistische Penetration des Osmanischen Reiches den endgültigen Durchbruch, vor allem verwandelte er Istanbul in einer Art Radikalkur von einem Zentrum des Islams zu einer europäischen Hauptstadt. Noch 1833, als Istanbul durch den unaufhaltsamen Vorstoß der Armeen Muhammed Alis unmittelbar bedroht zu sein schien, hatte ein russisches Expeditionskorps, das in Erfüllung eines Beistandsversprechens nahe der Hauptstadt gelandet war, wegen der allgemeinen Empörung über das Auftauchen bewaffneter Ungläubiger im „Haus des Islams“ unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen.[1] Während der Kriegsjahre 1854 bis 1856 nun wurden ganze Stadtteile Istanbuls von französischen, englischen und sardischen Truppen, Generalstäben, Lazaretten und Materialdepots in Beschlag genommen.[2] Zu Zehntausenden bevölkerten uniformierte Europäer die Straßen und benahmen sich daselbst wie Herren in einem eroberten Land.[3]
Man darf dabei nicht aus den Augen verlieren, daß der Konflikt ursprünglich ein russisch-osmanischer gewesen war, denn der unmittelbare Anlaß für den Ausbruch der Kämpfe im Jahre 1853 war das unablässige Drängen des [− S.185 −] Russischen Reiches auf eine privilegierte Sonderstellung für alle orthodoxen Christen im Osmanischen Reich, die durch ein direktes Kontrollrecht des Zaren zu garantieren sei. Ein Begehren, das um so offenkundiger auf die endgültige Demontage des Reiches abzielte, als Zar Nikolaus I. es durch die Besetzung der Donaufürstentümer Wallachei und Moldau — als eine Art ‚Faustpfand‘ — meinte durchsetzen zu können.[4] Die Pforte nahm dies jedoch als casus belli; die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens, ihrerseits in innenpolitischen Nöten, blockierten durch verbale anti-russische Kraftakte eine diplomatische Lösung, und so geriet Europa in einen der blutigsten Kriege des 19. Jahrhunderts.[5]
Dabei wäre ein Ende der Kämpfe bereits nach knapp einem halben Jahr möglich gewesen, die russischen Truppen kamen nämlich aufgrund des hartnäckigen osmanischen Widerstandes weder auf dem Balkan noch im Kaukasus voran, weshalb die Petersburger Führung den österreichischen Vorschlag annahm, die Donaufürstentümer an Habsburger Interimstruppen zu übergeben und erneut mit der Pforte zu verhandeln. Im Juli 1854 war so der status quo ante fast wiederhergestellt. Die Entscheidung, trotzdem in einem gemeinsamen Vorstoß über das Schwarze Meer den russischen Kriegshafen Sewastopol auf der Krim zu zerstören, diente in dieser Situation allein dazu, den tatenlos in der Etappe wartenden französischen und britischen Expeditionstruppen einen siegreichen Abgang zu verschaffen und so den unnützen, aber kostspieligen Truppenaufmarsch durch eine eindrucksvolle Demütigung Rußlands doch noch zu ‚rechtfertigen‘.[6]
Die Osmanen hatten bei diesem Prestigeunternehmen nichts zu gewinnen; während Zehntausende osmanischer Soldaten sinnlos auf der Krim verbluteten und das Reich insgesamt durch die Belastung der Verproviantierung der riesigen alliierten Armee an den Rand einer Hungerkatastrophe geriet,[7] gewährten die westlichen Alliierten kaum Unterstützung an der Kaukasusfront, wo die russischen Truppen auf Dauer die Oberhand gewannen und letztlich sogar Kars erobern konnten.[8] Obendrein hatte sich die Pforte, die vor 1854 noch nie eine Anleihe im Ausland aufgenommen hatte, bei westeuropäischen Banken so stark [− S.186 −] verschuldet, daß die Begleichung der kriegsbedingten Auslandsverbindlichkeiten eins der größten fiskalischen Probleme der folgenden Jahrzehnte wurde. Tatsächlich vergingen zwischen der ersten Auslandsanleihe und dem Staatsbankrott gerade einmal zwanzig Jahre, in denen laufend neue Kredite aufgenommen werden mußten, anfänglich noch zur Tilgung älterer Anleihen, später allein schon, um den Zinsdienst aufrechtzuerhalten.[9]
Auf dem Papier allerdings hatte das Osmanische Reich mit dem Friedensschluß von Paris, der den Krimkrieg formell beendete, erhebliche Erfolge zu verzeichnen. Nicht nur mußte Rußland alles besetzte Territorium (vor allem Kars) räumen und seine Schwarzmeerflotte abwracken, sondern die territoriale Integrität des Reiches in seinen damaligen Grenzen wurde von allen unterzeichnenden Mächten[10] als unverletzlich anerkannt; gleichzeitig verpflichteten sie sich dazu, sich fürderhin jeder Einmischung in die Beziehungen des Sultans zu seinen Untertanen zu enthalten.[11] Im Gegenzug hatte der Sultan jedoch in einem neuen Reformedikt (Islahat Fermanı), dessen Text ihm Satz für Satz von den Botschaftern Großbritanniens, Frankreichs und Österreich-Ungarns diktiert worden war, die vollständige rechtliche Gleichstellung all seiner Untertanen ungeachtet ihrer Religion feierlich versprechen müssen.[12] In diesem Edikt wurden — anders als im Hatt-ı Şerif von 1839 — die zukünftigen Rechte der Christen im Reiche genau spezifiziert, insbesondere sollten ihnen sämtliche Staatsämter und auch der Militärdienst offenstehen.[13] Und während die Nichteinmischung der Großmächte in die inneren Angelegenheiten des Reiches ein leeres [− S.187 −] Versprechen blieb — so landete z.B. keine fünf Jahre nach Vertragsunterzeichnung eine französische Expeditionstruppe im Libanon —, wurde die Pforte immer wieder zur Erfüllung der notgedrungen versprochenen, tatsächlich aber kaum zu realisierenden Emanzipation der Christen angehalten.[14] Letztlich hatte der ungeheuere Preis an Kriegsopfern — von der langfristigen Zerrüttung der Staatsfinanzen einmal ganz abgesehen — kaum mehr bewirkt, als eine Ablösung der permanenten Drangsalierung seitens Rußlands durch eine nicht minder dreiste Drangsalierung durch alle Großmächte zusammen.
Die Erringung vorläufiger Ruhe an den äußeren Grenzen war der einzige positive Aspekt für die Regierung, die sich nun stärker auf ihre eigenes Reformprogramm (tanzimat) konzentrieren konnte. War diese tanzimat ursprünglich auch kaum mehr gewesen als ein Versuch, die verkrustete osmanische Zentralbürokratie etwas effektiver zu machen, so entwickelte sie doch allmählich eine solche Eigendynamik, daß die Reformbestrebungen sich über den traditionellen Horizont des Apparates hinaus auszubreiten begannen. Wichtigster Katalysator hierfür waren die schon in der Frühphase der tanzimat errichteten Militär-, Verwaltungs- und Medizinfachschulen, die — mit westlichem Lehrpersonal und -material bestückt — eine neue Generation von Funktionären heranzogen. Die Absolventen dieser Schulen sowie die auslandserfahrenen Mitarbeiter der 1834 wieder eröffneten diplomatischen Vertretungen in den europäischen Hauptstädten bildeten den Kern einer neuen Machtelite, die nach 1856 ernsthafte Anstrengungen unternahm, die Reichweite der staatlichen Kontrolle auszudehnen.[15]
Wichtige Etappen hierbei waren auf der institutionellen Ebene das Landgesetz (1858), das Nationalitätengesetz (1869), der Start eines breiteren Bildungssystems im selben Jahr und die Ausarbeitung eines ‚Bürgerlichen Gesetzbuches‘ (1869-1876), das die Grundlage eines von der ulema losgelösten, rein staatlichen Rechtswesens bilden sollte.[16] In infrastruktureller Hinsicht ist vor allem [− S.188 −] der rasche Ausbau jener ersten Telegraphenlinien zwischen Istanbul und Bukarest bzw. Belgrad, welche die abziehenden britischen und französischen Truppen den Osmanen hinterlassen hatten, von Bedeutung.[17] Nach nur knapp einem Jahrzehnt erfaßte das osmanische Telegraphennetz bereits alle wesentlichen Provinzzentren, Bagdad beispielsweise wurde schon 1861 direkt mit Istanbul verbunden.[18] Da die Postlinie nach Bagdad über Mosul, Cizre und Diyarbakır verlief, stand nun auch die Verwaltung Kurdistans unter unmittelbarer Kontrolle der Zentrale, denn der durch die Telegraphie gewährleistete, fast verzögerungsfreie Informationsaustausch bedeutete vor allem einen direkteren Zugriff der zentralen Bürokratie auf ihre Stellvertreter in diesen entlegenen Winkeln des Reiches.[19]
Welche Veränderungen sich daraus ergaben, mag die folgende Gegenüberstellung verdeutlichen: Als sich im Jahre 1847 Emir Bedir Khan seinen osmanischen Belagerern ergeben wollte, verhandelte er allein mit Osman Paşa, dem obersten Militärkommandanten vor Ort. Dieser gewährte ihm — trotz aller blutigen Kämpfe — exakt dieselben, überaus günstigen Übergabebedingungen, welche die Pforte im Vorfeld der Auseinandersetzung Emir Bedir Khan für den Fall einer kampflosen Kapitulation offeriert hatte.[20] In Istanbul erfuhr man hiervon erst, als der gefangene Emir sich bereits mit den Garantien des paşas auf dem Weg dorthin befand. Und obwohl man es in Palastkreisen als sicher annahm, daß sich Osman Paşa seine ‚Milde‘ gut hatte bezahlen lassen, wurden seine Versprechungen erfüllt.[21] 1878/9 hingegen mischte sich der Sultan via Telegraph direkt in einen Konflikt mit einem rebellischen Nachkommen Emir Bedir Khans ein: Diesmal war er es, der — zur Verärgerung des verantwortlichen paşas vor Ort — Amnestie und sogar Belohnung versprach, falls der Empörer sich ergeben wolle.[22] Die Gouverneure trauten sich bald nicht mehr, Entscheidungen von größerer Reichweite ohne Rückfrage in Istanbul selbst zu [− S.189 −] treffen.[23] Mit der Zeit begriffen allerdings auch die einheimischen Machteliten in Kurdistan ihrerseits die Bedeutung dieser Direktverbindung, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren telegraphische Appelle und Proteste zu einem geläufigen Politikmittel geworden. Ein frühes Beispiel für solch eine Direktintervention in Istanbul berichtet Rassam im Jahre 1877 aus Siirt, wo das Vorhaben der örtlichen chaldäisch-christlichen Gemeinde, eine neue Kirche zu errichten, die Gemüter der Muslime erregte:
„Wie es scheint, war die notwendige Summe für den Bau eines neuen Gotteshauses in einem anderen Stadtteil durch Kollekten zusammen gekommen, doch die Muslime hatten seine Errichtung verhindert. Kaum hatten die Chaldäer ihre amtliche Erlaubnis erwirkt und Baumaterial zusammengetragen, telegraphierten der kadı und andere Fanatiker nach Konstantinopel, um gegen den Bau zu protestieren [...]“[24](meine Übers.; engl. Original)
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