Nationalismus in Kurdistan (1993)

4. Das 19. Jahrhundert

Das Landgesetz von 1858

Kein anderer einzelner Aspekt der tanzimat sollte die kurdische Gesellschaft langfristig so nachhaltig beeinflussen wie das 1858 verkündete Gesetz über die Neuordnung des Landbesitzes, das die Neuregistrierung des gesamten Landes vorschrieb und darauf abzielte, das urbare Land der Verfügungsgewalt der sheikhs, Stammes-ağas, ehemaligen Steuerpächter, ayan und aller anderen selbsternannten Grundherren zu entziehen und es jenen als staatlich garantierten Besitz zuzuweisen, die es nachweislich bearbeiteten.[1]

„Wesentlichster Punkt war die Einführung des ›Tapu‹, eines Rechtstitels [...] der Bauer [hatte] lediglich zur Kreisbehörde zu gehen, anzugeben, welches Land in seinem unbestrittenen Besitz war, und eine bestimmte Gebühr zu bezahlen. Sein Land wurde damit ›Tapulu Arazi‹, ›Land mit Besitztitel‹, für das er zwar Steuern zahlen mußte, das er aber auch jetzt verkaufen, vererben und beleihen konnte. Der Titel entsprach also nahezu dem des Eigentums, lediglich die Bedingung permanenter Bebauung war an die Übertragung geknüpft.“[2]

Insbesondere jene Passage des Gesetzes, welche ausdrücklich verbot, ganze Dorfeinheiten auf eine Person einzutragen oder Land als Kollektivbesitz [− S.190 −] anzuerkennen, zeigt deutlich die ursprüngliche Intention der Gesetzesmacher.[3]

Offenbar glaubte man durch eine erzwungene Individualisierung des Landbesitzes mit einem Schlag die Machtbasis der großgrundbesitzenden städtischen Notabeln sowie der Stammeschefs brechen zu können.[4] Die Umsetzung des Gesetzes verlief jedoch mehr als schleppend — angesichts der gigantischen Aufgabe und der zur Verfügung stehenden Ressourcen kein Wunder —, und wo es durchgeführt wurde, erzeugte es ganz andere Ergebnisse als geplant. Die alte Kooperation der unteren Ebenen der Staatsmacht mit den lokalen Patronen funktionierte nämlich auch bei der Durchführung dieses Gesetzes ungebrochen. Und da die osmanischen Beamten auf diese Weise in der Regel keinen Kontakt zu den einzelnen Bauern hatten, sondern nur mit deren Patronen, seien es städtische Notabeln, seien es sheikhs oder Stammeschefs, verhandelten, konnten diese häufig ganze Landstriche und Dörfer auf ihren Namen eintragen lassen, ohne daß die wirklichen Bearbeiter des Landes überhaupt je von ihren Rechten Kenntnis erhalten hätten.[5] Die passenden Zeugen oder ‚Dokumente‘ fanden sich allemal.[6]

Tatsächlich stärkte die Staatsmacht mit dieser verunglückten ‚Reform‘ die Macht der ağas und sheikhs, deren vormaligen Gewohnheitsrechte (oder durch nackte Gewalt erzwungenen ‚Anrechte‘) auf das Mehrprodukt der direkten Produzenten sich nun in staatlich garantierte Besitztitel verwandelten.[7] Langfristig [− S.191 −] hatte dies auch Folgen für die traditionellen Stammesstrukturen: Aus vormals freien Stammesleuten wurden nach der Seßhaftwerdung oftmals rechtlose Habenichtse auf dem Grundbesitz des Stammeschefs, da dieser, dank seines Monopols auf alle Behördenkontakte, in der Lage gewesen war, das ursprünglich kollektiv besessene Weideland unter der Hand auf seinen Namen registrieren zu lassen.[8]

Vorläufig allerdings entstanden daraus nicht überall praktische Konsequenzen: Hoch oben in den Bergen, wo das Stammeswesen unverändert stark verankert war, konnte der ağa es nicht wagen, aufgrund seiner neuen Besitzrechte die Abgaben zu erhöhen oder anderweitig gegen den Willen der Nutzer über das Land zu verfügen. In den Ebenen und im Bergvorland hingegen, wo die nicht-tribale Bauernschaft überwog und der staatliche Einfluß stärker war, kam es in der Regel schneller zu Veränderungen.[9] Die Auswirkungen der Landregistrierung zeigten sich in ihrem ganzen Ausmaß jedoch erst mit der Mechanisierung der Landwirtschaft in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts, denn vor der massenhaften Einführung von Traktoren und Erntemaschinen war Arbeitskräftemangel das eigentliche Problem der Landwirtschaft.[10] „Bauernlegen“ machte wenig Sinn, solange der ağa keine Lohnknechte finden konnte, die das ‚freigewordene‘ Land für ihn bearbeitet hätten. Die theoretische Macht der neuen Landbesitzer, auf Grund ihrer formalen Rechte die Bauern von deren angestammtem Boden zu vertreiben, blieb daher eher eine vage Drohung.[11]

Die mangelnde Effektivität des osmanischen Staatsapparats bei der Durchsetzung seiner eigenen Gesetze in so entlegenen Regionen wie Kurdistan trug ihrerseits dazu bei, die Verhältnisse lange Zeit in der Schwebe zu halten. Gerade in den Bergen wurde die auf dem Papier vollzogene Besitzveränderung vielerorts ignoriert, und die alteingespielten Beziehungen wurden unbeirrt fortgeführt, d.h. der ‚legale‘ Landbesitzer verpachtete den Bauern ihr Land einfach zu den alten Tributbedingungen.[12] Wenn auch erheblich langsamer als im Einzugsbereich der größeren Provinzstädte, in denen die nunmehr [− S.192 −] legalisierten Großgrundbesitzer dank ihres wachsenden Reichtums endgültig zur einflußreichsten Machtfraktion aufstiegen, vergrößerte sich die Polarisierung zwischen Arm und Reich allmählich auch im tribalen Milieu. Zugleich entwickelten sich neue Patronagebeziehungen zwischen den Eliten von Stadt und Land; meistens dergestalt, daß die tribalen Chefs des Umlandes Klienten einflußreicher städtischer Patrone wurden, um von deren guten Kontakten zur osmanischen Staatsbürokratie zu profitieren.[13]

Die Einführung westlich-kapitalistisch inspirierter Rechtsformen des Landbesitzes hatte also letztlich recht zwiespältige Ergebnisse: Einerseits wurden dadurch in manchen Regionen (beispielsweise im Raume Arbil) überkommene Herrschaftsverhältnisse ihres paternalistischen und personalen Scheins entkleidet, indem viele Bauern ihrer angestammten Landnutzungsrechte verlustig gingen und zu landlosen Pächtern rentenziehender Großgrundbesitzer in der Provinzhauptstadt herabsanken, andererseits stabilisierte die Landregistrierung à la ottomane aber auch traditionelle Formen personaler Abhängigkeiten. So konnten etliche ağas und sheikhs, die bis dahin hauptsächlich kraft ihrer tribalen Gefolgschaft und ihrer traditionellen Legitimität aus erprobter Macht über dieses oder jenes Dorf geboten hatten, nun den neuen osmanischen Rechtstitel verstärkend hinzufügen. Umgekehrt wurde der Kauf zusätzlicher Landrechte ein Mittel zum Ausbau der eigenen Machtposition im tribalen System. Sheikh Ubeydullah, der wohl berühmteste Vertreter aus der sheikh-Dynastie der Şamdinan, kaufte beispielsweise gegen Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts etliche Dörfer beiderseits der osmanischen Grenze zu Persien, um die Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs in diese Region vorzubereiten.[14]

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Fußnoten

1
“The Turks wanted to create a strong central government, on top of a large number of small cultivators, in order to be able to extract the maximum revenue from the land. They were therefore, anti-shaikh, since the tribal power of the Shaikh's was a threat to the central government.” (Issawi The Economic History of of the Middle East S.73)
2
Hütteroth Türkei S.228
3
Es geht um folgenden Artikel des Gesetzes: «Art. 8. La totalité des terres d'une commune ou d'un canton ne peut être concédée, en bloc, à l'ensemble des ses habitants, ou bien, par voie de choix, à un ou deux d'entre eux. Ces terres sont concédées à chaque habitant séparément, et on lui fait remise d'un titre possessoire (tapou), établissant son droit de possession.» (Young Corps de droit Ottoman Bd.6 S.48f) İnalcık kommentiert diesen Art. 8 so: “This is an important indication of the conception of the Tanzimât against the large estates. But as usual this remained in the law books.” (İnalcık „Land Problems in Turkish History“ S.226)
4
Siehe: Owen The Middle East in the World Economy S.185
5
“[...] it seems very unlikely that more than a very few titles passed directly into the hands of the real cultivators.” ( ebenda S.186)
6
Barth berichtet aus dem Gebiet des ehemaligen Emirats Baban im Süden des irakischen Kurdistans: “Though the rule existed that no whole village should be registered as the property of any single person, this and other rules were generally overlooked. Thus leaders of tiras, Begs, or in fact any other person who could bribe a few witnesses, registered large tracts of land as their personal property. Although actual power was of course necessary to make these formal transactions effective as far as the collectiong of tax was concerned, the result was that a category of landowner emerged for which there were no clear traditional prescedents, and their claims, when supported by power and supposed Ottoman land code, could not truly be disputed.” (Barth Principles of Social Organization S.53) Siehe auch: Shaw/Shaw History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Vol.II S.115
7
“The general trend of the reforms was to abrogate the earlier agrarian relationships and progressively to extend and confirm the rights of use, of possession, and of ownership. [...] The actual cultivators, their rights and status much diminished, became share-croppers or hired labourers, at the mercy of a reinforced landlord class which was the principal beneficiary of the reform. The harmful effects of the new law were modified only by the inefficiency of its application.” (Lewis The Emergence of Modern Turkey S.117)
8
Siehe: van Bruinessen Agha, Shaikh and State S.230-231 (dt.: S.245-246); Hütteroth Türkei S.323
9
Van Bruinessen (Agha, Shaikh and State S.99 (dt.: S.118)) nennt die Ebene um Arbil als ein Beispiel, hier sei über die Hälfte der gesamten verfügbaren Landfläche in die Hände einer ağa-Familie gelangt, die wiederholt auch osmanische Truppen zum Schutze ihrer ‚Rechte‘ aufmarschieren ließ.
Siehe: Pamuk The Ottoman Empire and European Capitalism S.87
„Therefore, whatever the legal changes in the title situation from the nineteenth century on, it is likely that there would have been few real changes in the landlord-farmer economic balance unless these were accompanied by changes in agricultural technology and physical communications. These, we know, did not alter much until recent years.“ (Yalman „On Land Disputes in Eastern Turkey“ S.188)
Siehe: van Bruinessen Agha, Shaikh and State S.231 (dt.: S.246)
Siehe: ebenda S.232 (dt.: S.246)
Der britische General-Konsul in Täbris, William Abbott, erwähnte diese Kaufaktivitäten in einem Bericht über Sheikh Ubeydullah an seinen Vorgesetzten, den britischen Botschafter Mr. Thomson in Teheran: “I learn that he is purchasing villages both in Turkey and Persia, which will greatly increase his influence [...]” (“Inclosure 2 in No.8 Consul-General Abbott to Mr. Thomson, Tabreez, July 15, 1880” in: The House of Commons „Correspondence Respecting the Kurdish Invasion of Persia 1881“ S.9) Abbotts Quelle ist ein US-amerikanische Missionsarzt in Urmia, Dr. Cochran, der u.a. berichtete, daß Ubeydullah mittels Kauf eines Dorfes versuchte, die ihm feindlich gesonnenen Stämme der Shikak und Herki unter Kontrolle zu bekommen: “[...] the Sheikh [...] bought a village and erected a fort at Beradoost, between the Shekak and Herkee lands.” (“Inclosure 4 in No.8, [Dr. Cochran] to Consul-General Abbott (Extract), Oroomiah, July 8, 1880” in: ebenda S.10) Zu weiteren Informationen über diesen Bericht Dr. Cochrans siehe: Anm.14 S.216