Nationalismus in Kurdistan (1993)

4. Das 19. Jahrhundert

Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung

Jene anderen Aspekte der tanzimat, die ich weiter oben hervorgehoben habe, wie etwa das Nationalitätengesetz und die Anfänge eines breit angelegten [− S.193 −] öffentlichen Bildungssystems, berührten Kurdistan nur indirekt oder mit großer Verspätung. Die Bewohner Vans, immerhin Hauptstadt einer Provinz, mußten beispielsweise bis 1894 auf die Ankunft eines Beauftragten der neuen staatlichen Bildungsbehörde warten.[1] Diese Aspekte sind hier trotzdem von Bedeutung, weil sie veranschaulichen, mit welchem Tempo die ohnehin schon gewaltige sozio-kulturelle Kluft zwischen Peripherie und Zentrum im Osmanischem Reich sich weiter vertiefte. Besonders das 1869 erlassene Nationalitätengesetz zeigt, wie weit sich die führenden Köpfe der zentralen Staatsbürokratie bereits vom traditionellen Gesellschaftskonsens entfernt hatten. Vordergründig richtete sich das Gesetz gegen die Auswüchse des Protegé-Systems, mittels dessen die Reicheren unter den nicht-muslimischen Untertanen des Sultans sich dem Zugriff des osmanischen Fiskus fast gänzlich hatten entziehen können.[2] Um diesem Übel ein Ende zu setzen, bestimmte das Gesetz alle Einwohner des Staatsterritoriums und alle, die darin geboren waren, zu Bürgern des Osmanischen Reiches, es sei denn, sie bewiesen das Gegenteil.[3] Viele Protegés der ausländischen Botschaften verloren durch diesen Schritt tatsächlich ihre Steuerimmunität und andere Privilegien. Gleichzeitig jedoch definierte sich der osmanische Staat damit erstmals nicht mehr als ein persönliches Verhältnis von Herrscher und Untertan („Personenverbandsstaat“), sondern im Sinne einer territorialen Einheit, indem er das dem muslimischen Staatsdenken bis dahin gänzlich fremde Prinzip einer über das Territorium bestimmten, allgemeinen Staatsbürgerschaft verkündete.

Dies war keine den Osmanen von außen aufgezwungene Veränderung, sondern es handelte sich um einen authentisch osmanischen Versuch, das auseinanderbrechende Imperium wieder zu stabilisieren. Die Legitimationskrise der osmanischen Herrschaft war zur Mitte des Jahrhunderts so offenkundig geworden, daß das Bild vom Sultan als paternalistischem Beschützer all seiner Untertanen unmöglich länger konserviert werden konnte. Die Schaffung eines neuen Konsenses, der alle Untertanen einzubinden vermochte, wurde deshalb auch in den innersten Zirkeln der Macht als eine Überlebensfrage begriffen.

Eine kleine Avantgarde westlich gebildeter Staatsfunktionäre, die zwar aus angesehenen Istanbuler Kreisen stammten, aber auf niederen Rängen der [− S.194 −] Karriereleiter steckengeblieben waren und von daher einen gewissen rebellischen Geist entwickelt hatten, propagierte als Antwort auf die Krise das Konzept des „Osmanismus“, d.h. die Vision eines ‚Reichspatriotismus‘, der alle Reichsbewohner einbeziehen sollte. Diese „Jungosmanen“ waren deutlich vom europäischen Liberalismus geprägt, suchten aber einen spezifisch muslimisch-osmanischen Weg.[4] Sie verbreiteten ihre Ansichten auf den Seiten unabhängiger Zeitungen und von den Bühnen neuer Theater, welche nach dem Krimkrieg in der Hauptstadt aufgeblüht waren. Als organisierte Gruppe wurden die Jungosmanen bald nach ihrer Entdeckung (1867) durch administrative Maßnahmen zerschlagen und zeitweilig ins Exil getrieben.[5] Ihre Ideen jedoch gingen trotzdem in die Regierungspolitik ein, wie auch die meisten ihrer Vertreter später den Weg zurück in den Apparat fanden. So machte sich die Regierung mangels anderer Perspektiven neben der Propagierung des Osmanismus noch zwei weitere wichtige Projekte der Jungosmanen zu eigen, nämlich die Gewährung einer Verfassung (1876) und Wahlen zu einem Parlament (1877).[6]

Während in Istanbul das Leben weiterer Bevölkerungskreise also durch neue Institutionen und neue Formen von Kommunikation und Verkehr wie Zeitungs- und Buchdruck, Theater, Staatsschuldscheine (die wie eine Art Papiergeld gehandelt wurden), säkulare Schulen, Telegraphie, Dampfschiffahrt und seit 1873/74 auch Eisenbahnreisen[7] usw. sich umzuwälzen begann, ja sogar der Sprung zur konstitutionellen Monarchie nach europäischem Vorbild geplant wurde, zogen sich die Bergbewohner Kurdistans eher noch weiter in ihre fast autarken Dorfwelten zurück. Der Zerfall der großen Stammeskonföderationen im Streit um die Führung war nur eine der Folgen des mehr oder weniger [− S.195 −] gescheiterten staatlichen Penetrationsversuches, unter denen die kurdische Gesellschaft litt. Ihre städtischen Zentren verödeten, weil zum einen mit dem Zusammenbruch der Sicherheit im Umland auch der Handelsverkehr stranguliert wurde, zum anderen hatten sie nach der ersatzlosen Auslöschung der regionalen Herrscherdynastien und ihrer Höfe ihre Funktion als wichtigste übergreifende Bindeglieder der gesellschaftlichen Vernetzung verloren.[8] Die kurdische Gesellschaft fiel so zeitweilig auf ein niedrigeres Stadium der Integration zurück, ihr sozialer Horizont verengte sich; das Zentrum des Osmanischen Reiches hingegen wurde immer tiefer in das internationale Netz der politischen und ökonomischen Abhängigkeiten hineingezogen, wie der Staatsbankrott von 1875/76 überdeutlich herausstellte.

In den letzten Jahren vor dem Bankrott hatte die Pforte fast sechzig Prozent des Reichshaushaltes zur Begleichung der Auslandsverschuldung aufwenden müssen, das gesamte Räderwerk des Staatsapparats war wegen ausbleibender Gehaltszahlungen an die Beamten zum Stillstand gekommen.[9] Der Schuldendienst wurde deshalb zunächst halbiert und 1876 schließlich vollständig eingestellt.[10] Dieser Griff zur ‚Notbremse‘ hatte früher oder später unvermeidlich kommen müssen, aber im Kontext des sich damals immer mehr zuspitzenden Konflikts mit Rußland über das weitere Schicksal der rebellischen Balkanchristen wurde die Einstellung der Schuldenrückzahlungen, die vor allem französische und britische Banken betraf, zum Auslöser für eine Verkettung von katastrophalen Ereignissen, die auch die politischen Verhältnisse in Kurdistan drastisch verändern sollten.

Von britischer und französischer Seite hatte die Pforte nach diesem Affront keine Hilfestellung mehr zu erwarten, zumal das früher so ausgeprägte Interesse Londons an der Erhaltung des Osmanischen Reiches als einem ‚Bollwerk‘ gegen die weitere Expansion des Zarenreiches seit der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 erheblich nachgelassen hatte.[11] Der Aufkauf des ägyptischen Anteils [− S.196 −] an den Aktien der Kanalgesellschaft (1875) durch die britische Regierung ließ schon erkennen, daß die offene Annexion Ägyptens nicht mehr allzu fern lag.[12] Ohnehin diskutierte man in europäischen Regierungskreisen völlig ungeniert über die endgültige Zerschlagung des Osmanischen Reiches und darüber, wer welchen Teil am besten für sich ‚nehmen‘ solle. Der Ausspruch eines Nahost-Beraters des britischen Premiers: „Ich denke, es ist an der Zeit, es aufzuteilen, und wir sollten uns unseren Anteil nicht entgehen lassen“[13] war symptomatisch für das damalige politische Klima. Als das Zarenreich 1877 den von ihm selbst mühsam in Gang gehaltenen Konflikt zwischen Montenegro und der Pforte zum Vorwand nahm, seine seit 1856 stagnierenden Pläne von einem russisch dominierten Balkan doch noch militärisch zu erzwingen, blieb die osmanische Armee auf sich allein gestellt. Obwohl sie an Mannschaftsstärke und Bewaffnung den Angreifern durchaus ebenbürtig war, stand am Ende des knapp einjährigen Krieges dennoch die bedingunglose Kapitulation der Osmanen: im Osten waren Kars, Ardahan und Batum gefallen, im Westen standen die russischen Truppen bei Abschluß des Waffenstillstands sogar schon in Reichweite der Hauptstadt.[14]

Der neue Sultan Abdülhamit, zu dessen ersten Amtsgeschäften 1876 wider Willen die Gewährung der Verfassung gehört hatte, nutzte diese Krise dazu, die alte autokratische Herrschaftsform wiederherzustellen, und löste das Parlament auf. Entgegen allen Erwartungen hatten sich die Abgeordneten nämlich nicht mit der ihnen zugedachten Rolle als bloße Claqueure der Regierung zufriedengegeben, sondern sogar offene Kritik an der Person des Sultans selbst zu äußern gewagt.[15] Die Verfassung wurde zwar nicht förmlich abgeschafft, tatsächlich wurde die Auflösung des Parlaments sogar in verfassungskonformer Weise [− S.197 −] vollzogen, aber de facto herrschte ab nun wieder der Sultan allein. Der ‚liberale Weg‘ der Jungosmanen war gescheitert.

„[...] der Text der Verfassung erschien weiterhin jährlich im offiziellen Almanach (salname), als wenn sie immer noch geltendes Recht gewesen wäre. Die Pforte ging in ihrer Heuchelei sogar so weit, daß sie ihre Regierungsakte mit Verfassungsbestimmungen rechtfertigte. Natürlich fiel niemand auf dieses Versteckspiel herein. Die Verfassung war tot [...]“[16] (meine Übers.; engl. Original)

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Fußnoten

1
“[...] in 1894 a Director of Public Instruction arrived in the city of Van to reorganize the educational structure of the city. He immediately set about to establish a secular school system to replace that of mosque education [...]” (Duguid „The Politics of Unity“ S.146)
2
So sieht es auch İnalcık: “By his law on Ottoman nationality of 1869, ‘Ālī Pasha hoped to put an end to one of the gravest abuses of the capitulations [...]” (İnalcık „Stichwort: İmtiyāzāt“ S.1188) Siehe auch: Karpat An Inquiry into the Social Foundations of Nationalism S.87
3
«Art. 9. Tout individu habitant le territoire ottoman est réputé sujet ottoman et traité comme tel jusqu'à ce que sa qualité d'étranger ait été régulièrement constatée.» (Young Corps de droit Ottoman Bd.2 S.229) In einem erläuternden Zirkular hierzu hieß es eindeutig: «Il est clair que, en cas de contestation, la preuve de la nationalité étrangère incombe à celui qui la revendique [...]». (ebenda Anm.8) Siehe auch: Davison Reform in the Ottoman Empire, 1856-1876 S.263
4
Bei allem Bemühen um eine Einbindung der nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen wurde die muslimische Grundidentität des Osmanischen Reiches auch von ihnen nie ernstlich in Frage gestellt. Über einen der propagandistisch erfolgreichsten Vordenker des Osmanismus, Namık Kemal, heißt es beispielsweise, “Kemal was an ardent patriot longing for liberty and equality of the ‘Ottoman nation‘” — mit dem bezeichnenden Nachsatz: “at least among the Muslim subjects.” (Arai The Turkish Nationalism S.2)
5
„Der Bund der Jungen Osmanen war eigentlich nur ungefähr fünf Jahre — von 1865 bis 1870 — aktiv. Die meisten ihrer Veröffentlichungen wurden noch dazu außerhalb des Reiches gedruckt und über die ausländischen Postämter, die unter dem Schutz der Kapitulationen im Osmanischen Reich errichtet worden waren, ins Land geschleust. Viele Mitglieder des Bundes mußten zeitweilig aus dem Lande fliehen; doch nach 1870 kehrten die meisten von ihnen wieder zurück und traten in den Dienst jener Regierung, die sie so heftig kritisiert hatten.“ (Shaw „Das Osmanische Reich und die moderne Türkei“ S.129)
6
In diesem Parlament gab es übrigens je einen Vertreter aus Diyarbakır, Mardin und Harput, nicht vertreten waren hingegen die Regierungskreise Van, Muş und Hakkâri, obwohl ihnen ebenfalls Delegierte zugestanden hätten. Siehe: Devereux The First Ottoman Constitutional Period “Appenix B: List of Deputies” S.261-265
7
Die Eisenbahnverbindungen Istanbuls reichten zu dieser Zeit bereits bis Sofia und Izmit. Fünfzehn Jahre später war der Anschluß an das österreichisch-ungarische Schienennetz erreicht, und so verkehrte 1888 erstmals ein Direktzug Paris — Istanbul. Siehe: Shaw/Shaw History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Vol.II S.121
8
Der deutsche Forscher Eduard Sachau durchquerte Kurdistan im Winter 1879/1880 auf der Route Mosul - Zakho - Cizre - Nusaybin - Mardin - Diyarbakır. Dabei berichtete er durchgängig, daß diese Städte längst nicht mehr den gesamten Innenkreis ihrer eigenen Stadtmauern ausfüllten. Über Nusaybin heißt es z.B.: „Das alte Stadtgebiet, von dem die heutige Ortschaft nur einen kleinen Theil einnimmt, besteht nur noch aus Hügeln von Steinen, Ziegeln, Scherben und Schutt aller Art [...]“ (Sachau Reise in Syrien und Mesopotamien S.392; zu Mosul: S.353; zu Cizre: S.378)
9
“[...] the sum set aside to pay interest and amortization rose from nearly £1,000,000 (or just under 10 per cent of total expenditure) at the beginning of the 1860s to nearly £5,000,000 (33.3 per cent) at the end, and then to over £12,000,000 (nearly 60 per cent) in 1874. Few, if any, countries could have continued to carry a burden of this size for long.” (Owen The Middle East in the World Economy S.109)
Siehe: Pamuk The Ottoman Empire and European Capitalism S.61
“The opening of the Suez Canal in 1869 and the constantly increasing use of it by British shipping had made the Eastern Question more than ever before one of imperial defense [...] While the fate of Constantinople and the Euphrates Valley was still occasionally mentioned as being vitally connected with the saftey of India and the road to it, Englishmen in 1875 directed their gaze toward Egypt as the real center of British interest and the best compensation for Great Britain in case Turkey should be partitioned.” (Lee Great Britain and the Cyprus Convention Policy of 1878 S.11f)
Der Verkauf seines 44%igen Anteils am Suezkanal war eine letzte verzweifelte Aktion des Vizekönigs von Ägypten, um den unmittelbar bevorstehenden Bankrott seiner autonomen Provinz noch einmal hinauszuzögern. Siehe: Schölch „Wirtschaftliche Durchdringung ... im Osmanischen Reich“ S.424
Im Original: “I think the time has come to cut it up, and let us have our share of it” (Colonel Home, zitiert in: Lee Great Britain and the Cyprus Convention S.36 (nach Dokumenten des Foreign Office, London); meine Übersetzung)
Siehe: Shaw/Shaw History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Vol.II S.182-184 und S.186f
“When Parliament was called into being, the Ottoman hierarchy had no doubt resigned itself to occasional criticisms by the Chamber, but it could hardly have been expected to brook with patience to the unending torrent of criticisms, complaints, and charges which issued from that body [...] day by day, their strident denunciations of the course of events and of the persons they deemed responsible for those events — denunciations which touched the Sultan himself — grew louder.” (Devereux The First Ottoman Constitutional Period S.235)
ebenda S.248