Nationalismus in Kurdistan (1993)
Die Bewohner Kurdistans kamen mit diesem Krieg vom Regen in die Traufe. Schon vor Kriegsausbruch litt die ohnehin geringe Effektivität der staatlichen Verwaltung unter dem chronischen Geldmangel der Regierung, Rückstände bei den Gehaltszahlungen von ein bis zwei Jahren waren durchaus keine Seltenheit.[1] Annahme von Bestechungsgeldern und Veruntreuung von Staatseinkünften waren angesichts der gegebenen Bedingungen gang und gäbe, ja sogar notwendig für die Verwaltungsfunktionäre, waren es doch oft lange Zeit ihre einzigen Einkünfte. Erschwerend kam hinzu, daß die Stärke der regulären Armee auch in Friedenszeiten nie hinreichte, um alle wichtigeren Orte des Reiches unter Kontrolle zu halten, weshalb vielerorts sogenannte başı bozuks („Irreguläre“) angeheuert wurden, von den es heißt, daß sie „ohne jede Disziplin und berüchtigt durch ihre Wildheit und Raubgier“ gewesen seien.[2] Ihre Neigung zu Willkürakten und zu Razzien auf eigene Rechnung mußte alle Bemühungen um eine Verrechtlichung der osmanischen Staatsgewalt weiter schwächen.[3]
Reiseberichte aus den Jahren 1849 - 1857 lassen den Schluß zu, daß die Masse der in Kurdistan eingesetzten Regierungssoldaten başı bozuks waren.[4] Nach Clément wurden beispielsweise die halbzerstörten Fluchtburgen der verjagten Emire und Beys vorzugsweise mit başı bozuks besetzt und als «poste avancé» benutzt.[5] Garnisonen der regulären osmanischen Armee scheint es nur in zentralen Orten wie Van, Cizre oder Çölemerik gegeben zu haben, aber selbst hier waren teilweise zusätzlich Kontingente von Irregulären stationiert.[6]
Unter solchen Umständen war die Ausführung der tanzimat fast unmöglich, in der Regel blieben gerade jene Bestimmungen, welche Verbesserungen an Rechtssicherheit für die christlichen reaya bringen sollten, unbeachtet. Schon 1857 mußte sich der deutsche Forscher Otto Blau lange Vorträge seines armenisch-christlichen Gastgebers in einem kleinen Ort in der Nähe von Van über die Fruchtlosigkeit des Islahat Fermanı anhören.[7] Zwanzig Jahre später kommentierte der damals in Kurdistan reisende und arbeitende Archäologe und britische Diplomat Hormuzd Rassam: „Unter den Kurden und Arabern [...] hat die tanzimat [...] mehr geschadet als genutzt“[8] und fährt an anderer Stelle fort:
„Während der ganzen Reise hörte ich überall die allgemeine Klage über die Plünderungen der Kurden und die Mißwirtschaft der örtlichen Verantwortlichen. Selbst wenn man anerkennt, daß die Berichte, die zu mir drangen, erheblich übertrieben waren, [...] war doch zweifelsohne ein gerütteltes Maß an Elend und Leid dem Mangel an ordnungsgemäßem Schutz für Leben und Besitz geschuldet.“[9] (meine Übersetzung, engl. Original)
Als die Abwehr des russischen Vormarsches an der Kaukasusfront die Mobilisierung aller verfügbaren Truppenreserven erforderte und selbst die Regierungssitze der Provinzgouverneure ihrer Truppen entblößt wurden, brach schließlich der letzte Rest an staatlicher Autorität zusammen.[10] In den Worten Rassams:
„Aufgrund des Krieges hatte die osmanische Regierung alle regulären Truppen aus Kurdistan abgezogen und ließ zu, daß die Stärkeren sich an den Schwächeren vergriffen; die Zustände verschlimmerten sich immer weiter, und zur Zeit meines Aufenthalts in Diyarbakır [1877, G.B.] waren die Unruhen auf ihrem Höhepunkt. [...] Einige bestimmte marodierende Kurdenstämme, die aus den Bergen zwischen Diyarbakır, Bitlis und Muş stammen, wie die Raçkotan, Sheikh Dadan und die Sasuner Stämme, waren in der Tat der Schrecken der Umgebung; und zur Zeit meiner Durchreise durch die Region kannten ihre Ausschreitungen keine Grenze.“[11] (meine Übersetzung, engl. Original)
Ein anderer britischer Augenzeuge berichtet von ähnlichen Szenen in der Nähe von Mardin:
„Ständig überfielen die Kurden aus den Bergen die Dörfer, raubten Schafe und Ziegen und Getreide. Man erzählte mir von einem Fall, wo in 60 Dörfern auf einen Schlag alles geraubt worden war, was nicht niet- und nagelfest war. Die Kurden meinten dazu, daß die türkische Regierung sie in den letzten 20 Jahren gehindert habe, die ihnen zustehenden Abgaben zu erheben und daß sie nun, da die Truppen aus dem Weg seien, kämen, um die Rückstände einzutreiben.“[12] (meine Übersetzung, engl. Original)
Die an die Front beorderten başı bozuks taten das Ihre, das Chaos zu steigern, indem sie auf dem Weg dorthin unterschiedslos alle Dörfer plünderten und brandschatzten, so daß selbst Regionen, die nicht unmittelbar umkämpft waren, verwüstet wurden.[13] Zu allem Unglück fielen auch noch die Ernten der Kriegsjahre ungünstig aus, Hunger und weitere Not waren die Folge.[14]
Allerdings existierte dieser Zustand fortgeschrittener Anarchie nicht nur in Kurdistan, sondern er erfaßte auch die weiter süd-östlich gelegene Peripherie des Reiches. Die arabischsprachigen Nomadenstämme von Bagdad bis Basra hielten es nicht anders als ihre ‚Kollegen‘ in Kurdistan, sie brachten sogar fast den Schiffsverkehr auf dem Tigris zum Erliegen.[15] Selbst die schiitischen Städter von Kerbala und Najaf stellten alle Steuerzahlungen ein und errichteten ihr eigenes örtliches Regime.[16] Im Nordosten hatten zudem Teile der armenisch-christlichen Stadtbevölkerung in den umkämpften Gebieten Sympathien für die russischen Eroberer erkennen lassen, was zusätzliche Irritationen aufkommen ließ, obwohl das Patriarchat und die armenisch-christlichen Vertreter in dem Anfang 1878 noch tagenden Parlament sich in Loyalität zum Sultan übten, bzw. die Masse der reaya sich zumindest neutral verhielt.[17]
Kurz: Ansehen und reale Macht der Zentralgewalt waren auf einem Tiefpunkt angelangt. In dieser Situation ergriffen zwei der 21 Söhne des 1870 im Exil verstorbenen Emirs Bedir Khan die Gelegenheit, die Stammlande ihres Vaters zurückzuerobern und dort eine autonome Herrschaft zu gründen.[18] Während ihres Istanbuler Exils hatten nämlich mehrere Sprößlinge Bedir Khans offenbar die Gunst Sultan Abdülhamits gewinnen können, denn in der Anfangszeit des Krieges erteilte man Ahmet Bedri, Riza Bahri, Hüseyin Kenan und Ali Şamil den Auftrag, je ein başı bozuk-Kontingent auszuheben und zu befehligen.[19] Zwar taten sich diese Truppen während des Krieges weniger durch militärische Heldentaten als durch dreiste Plünderungen im Hinterland hervor, insgesamt gesehen jedoch scheinen die Bedir Khan-Söhne — anders als İzzeddin Şir zwanzig Jahre zuvor — ihrem Auftrag treu geblieben zu sein. Denn erst Monate nach Kriegsende nutzten Hüseyin und Osman Bey — letzterer hatte dem Exil offenbar auf andere Art entrinnen können — die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit dazu, einen letzten Versuch zur Wiedererrichtung des Emirats Botan zu unternehmen.
Da über diesen Aufstand bislang nur wenig Konkretes veröffentlicht worden ist, möchte ich ausführlich aus den Depeschen des britischen Konsuls in Erzurum zitieren, aus denen klar hervorgeht, daß die ganze Bewegung binnen kürzester Zeit zusammenbrach, da mehrere benachbarte Stämme dem Ansinnen feindlich gegenüber standen.[20]
„Zwei Söhne des verstorbenen Bedir Khan Beys, Osman und Hüseyin Bey nämlich, die letztlich erst ihrem Exil in Konstantinopel entronnen sind, nutzten die Abwesenheit militärischer Kräfte und die Schwäche der Regierung, um eine Revolte im Botan-Gebiet, der Heimat ihrer Ahnen, anzuzetteln; und vor ein paar Wochen hatten diese Anführer mehrere Tausend bewaffnete Gefolgsleute aufgeboten. Sie teilten sich in zwei Lager, wovon das südliche unter Osman Bey Cizre [...] angriff und einnahm, Hand auf die staatlichen Waffendepots legte und sie ausräumte, sowie all das gewaltsam in der Stadt an sich riß, was an Vorräten noch gebraucht wurde. Die örtliche Garnison und die Beamten hatten sich zuvor nach Siirt abgesetzt. Die Aufständischen marschierten anschließend auf Şırnak, eine Stadt, die ungefähr 6 Stunden Weg von Cizre entfernt ist, [und] griffen dort einen anderen mächtigen Kurdenchef an, Mohammed Ağa Aisuroğlu. Letzterem eilten zwei oder drei weitere gewichtige Kurdenchefs zur Hilfe, zum Teil auf Druck des Gouverneurs in Diyarbakır, zum Teil aber handelten sie aufgrund der Erinnerungen an die Unterdrückung und Tyrannei seitens Bahri Beys, ein weiterer [Sproß] aus Bedir Khans zahlreicher Nachkommenschaft. (Dieser hatte vor zwei Jahren seinen Namen [und damit den aller Bedir Khans, G.B.] in der ganzen Region in Verruf gebracht, als er dabei war, irreguläre Hilfstruppen zur Verstärkung für Ismail Paşa im Krieg gegen Rußland auszuheben.) Zusammengenommen beliefen sich die Kräfte dieser [der Regierung] wohlgesonnenen Truppen auf vielleicht 3 000 Mann, nichtsdestoweniger fügten sie Osman Bey — der dem Vernehmen nach mit 5 000 Mann auf Şırnak vorrückte — eine schwere Niederlage zu und trieben ihn bis nach Cizre zurück, wobei Osmans Truppe starke Verluste erlitt. Die Bewohner der letzteren Stadt und die Schutztruppe, die Osman dort zurückgelassen hatte, weigerten sich die Tore zu öffnen, als sie zugleich mit der Nachricht von seiner totalen Niederlage Meldung von herannahenden Regierungstruppen erhielten. Osman mußte daraufhin in die Berge fliehen [...]“[21] „Als die Erhebung noch im Aufschwung begriffen war, wurde das Armenierdorf Dih in der Nähe von Siirt, das ungefähr 400 Häuser zählt, zum [nördlichen, G.B.] Hauptquartier des Aufstands gemacht und für die Dauer von 17 Tagen von einer Bande von eintausend Rebellen unter Hüseyin Bey besetzt [...] Am 4. Dezember näherten sich Regierungstruppen von Siirt, die von Hamit Aga begleitet wurden, einem einflußreichen örtlichen Stammeschef, der während der ganzen Krise auf Regierungsseite stand, wozu ihn zweifellos die Erinnerung daran gebracht hat, daß sein Vater vom Vater der gegenwärtig rebellierenden Führer, dem verstorbenen Bedir Khan Bey, über der eigenen Türschwelle aufgeknüpft worden war.“[22] „Hüseyin Bey wurde im Kampf [...] verletzt [...] und seine verwirrten (Gefolgsleute) wandten sich zur Flucht in die Berge und trugen ihn davon. Auf seine Niederlage und Flucht folgte die Besetzung des Dorfes Dih durch die regulären Truppen [...]“[23] (meine Übersetzung, engl. Originale)
Hüseyin Bey ergab sich schon in der ersten Woche des Jahres 1879, sein Bruder Osman bald darauf.[24] Zwar hatte man sie mit Amnestieversprechungen geködert, die anschließend nicht erfüllt wurden, woran die spätere Legendenbildung eifrig anknüpfen sollte, tatsächlich aber waren die beiden so vernichtend geschlagen worden, daß ihnen selbst die bloß vage Aussicht auf ein Pardon des Sultans immer noch besser scheinen mußte, als weiter ohne Unterstützung in den Bergen auszuharren.[25] Hüseyin Bey erhielt übrigens später wieder einen Posten in der hauptstädtischen Verwaltung[26], und der zunächst mit nach Istanbul deportierte Bahri Bey tauchte schon 1880 wieder als Emissär Abdülhamits in Van auf.[27]
Insgesamt scheint mir der Unterschied zu anderen Rebellionen während der Kriegswirren und auch in der Nachkriegszeit gering zu sein. Sachau berichtet beispielsweise:
„Die Hamavend-Kurden sind ein wenig zahlreicher Stamm, der in der Gegend von Kerkûk und Sulaimânijje angesiedelt ist. Sie betheiligten sich am letzten Russisch-Türkischen Kriege in Armenien, sammelten auf den Schlachtfeldern Munition und gute Gewehre, raubten was es zu rauben gab, plünderten unvertheidigte Dörfer und kehrten dann siegreich in ihrer Heimath zurück. Im Herbst 1879 rebellirten sie gegen die Türkische Regierung und jagten deren Steuereinnehmer und Gensdarmen davon. Die Regierung schickte Infanterie und Artillerie gegen sie in das Feld, es kam zu einem Gefecht, die Hamavénd schlugen die Soldaten in die Flucht und eroberten die Kanonen. Da aber dies Gesindel, das nicht mehr als 800 Mann ins Feld stellen kann, die Strasse zwischen Mosul und Bagdad beherrscht, so griff der Sultan zu einem anderen Mittel der Pacification: er gab ihnen Geld, viel Geld. Seitdem verhalten sie sich zum Theil ruhig [...]“[28]
Auch Zeitun (heute: Süleymanlı), ein hoch im Gebirge gelegenes, hauptsächlich von Christen bewohntes Städtchen nahe Maraş, befand sich während des Krieges im Aufstand. Mit Zeitun hat es allerdings eine ganz besondere Bewandnis, da sich hier während der gesamten osmanischen Epoche eine autonome Lokalherrschaft unter armenisch-christlichen Herren behaupten konnte.[29]Der letzte Versuch, diese Autonomie zu brechen, war 1862 gescheitert, und die osmanische Belagerungsarmee hatte unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen.[30] Das neuerliche Kräftemessen mit der Zentralgewalt begann bereits 1876, dem chaotischen „Jahr der drei Sultane“[31]; die Stadtbewohner, die Zeitunlus, brannten die örtliche Kommandatur nieder und begannen mit Razzien in den umliegenden muslimischen Dörfern. Da der nächstgelegene Regierungsstützpunkt Maraş keine Soldaten zu ihrem Schutz entsenden konnte, unterwarfen sich die verbliebenen Dörfer lieber gleich der Hoheit der Zeitunlus.[32] Eine kurzfristige Besetzung (1877) durch osmanische Truppen zeigte keine bleibende Wirkung. Im Sommer 1878 schließlich konzentrierten die Behörden alle verfügbaren Kräfte auf Zeitun, selbst noch Verbände aus Adana wurden herangezogen. Das wiederum ermöglichte es dem seit 1865 exilierten letzten großen derebey aus [− S.204 −] der Dynastie der „Kozanoğulları“, seinerseits eine Rebellion in seinen ehemaligen Stammlanden in Kilikien anzuzetteln.[33]
Mit anderen Worten: die unübersehbare Schwäche der Zentralgewalt lud alle möglichen Provinzgrößen in der östlichen Peripherie dazu ein, das Rad vorübergehend zurückzudrehen. Der Versuch Osman Beys und seines Bruders, die ruhmreichen Tage ihres Vaters wieder aufleben zu lassen, war da nur einer unter vielen, und er scheiterte wie alle anderen. Die Zeitunlus versuchten es übrigens im nächsten Jahr gleich wieder und wurden nur durch eine Intervention des britischen Konsuls von Aleppo vor einem vernichtenden Vergeltungsschlag gerettet.[34]
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