Nationalismus in Kurdistan (1993)
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die eigentliche Konfliktlinie auf dem Berliner Kongreß (1878) nicht zwischen den Großmächten und dem geschlagenen Osmanischen Reich verlief, sondern zwischen England und Rußland.[1] Nur die offene Kriegsdrohung seitens der Briten, unterstützt von Österreich-Ungarn, hatte Rußland dazu zwingen können, einer internationalen Konferenz zur Revision des gerade erst (am 3.3.1878 in San Stefano) abgeschlossenen osmanisch-russischen Friedensvertrages zuzustimmen.[2] Die Pforte hatte darin nicht weniger als die Abtretung fast ihrer gesamten europäischen Besitzungen zugunsten der von Rußland dominierten Staaten Serbien, Rumänien und Montenegro sowie des [− S.205 −] neu zu schaffenden Protektorats Bulgarien akzeptieren müssen.[3] Die Briten ließen sich ihr militantes Eintreten für eine Änderung dieses Diktatfriedens gut bezahlen: Der Sultan mußte ihnen im Vorfeld des Kongresses die Insel Zypern im Tausch gegen Schutzversprechen zur ‚Verwaltung‘ überlassen. Der Text des nur kurze Zeit geheimen Vertrages über die Abtretung Zyperns ist ebenso knapp wie bedeutsam:
„Falls Batum, Ardahan und Kars oder irgend eine dieser drei [Provinzen] von Rußland okkupiert bleiben sollte, und falls in Zukunft irgendwelche Anstalten seitens Rußland unternommen werden sollten, darüber hinaus noch Besitz zu ergreifen von asiatischen Gebieten Ihrer Kaiserlichen Majestät des Sultans, wie sie im endgültigen Friedensvertrag festgeschrieben sind, verpflichtet sich England Ihrer Kaiserlichen Majestät dem Sultan zur Seite zu stehen bei der militärischen Verteidigung dieser Gebiete. Im Gegenzug verspricht Ihre Kaiserliche Majestät der Sultan notwendige Reformen, über welche späterhin von beiden Mächten Einigkeit herzustellen sein wird, einzuführen sowohl in der Verwaltung als auch hinsichtlich des Schutzes der christlichen und anderen Untertanen der Pforte in diesen Gebieten; und um es England zu ermöglichen, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um ihre [vertraglichen] Verpflichtung zu erfüllen, erklärt sich Ihre Kaiserliche Majestät der Sultan fernerhin einverstanden, die Insel Zypern dazu zu bestimmen, von England besetzt und verwaltet zu werden.“[4] (meine Übers.; engl. Original)
Tatsächlich blieben Batum, Ardahan und Kars auch nach dem Berliner Vertrag in russischer Hand, denn effektive Nachbesserungen zugunsten der Pforte gelangen nur auf dem Balkan. Wesentlich im hier diskutierten Zusammenhang ist jedoch die Passage über den „Schutz für die christlichen Untertanen der Pforte in Asien“, denn damit waren unzweifelhaft die armenisch-christlichen Bewohner der östlichen Provinzen gemeint.
Da das Junktim zwischen militärischem Beistandsversprechen und Reformverlangen seit Jahrzehnten ein Grundpfeiler der britischen Diplomatie war, kann das Auftauchen einer solchen Passage auch in diesem Beistandsvertrag nicht sonderlich überraschen; das Bemerkenswerte ist die Orientierung auf eine neue Zielgruppe in einer bis dahin wenig beachteten Region. Dafür gab es eine klare Ursache: Nicht nur der militärisch-koloniale Beamtenapparat, sondern auch die britische Öffentlichkeit insgesamt war in hellster Aufregung über den scheinbar unaufhaltsamen russischen Vormarsch im Vorderen Orient. In wahren Alpträumen sah man russische Truppen schon in Syrien und in Bagdad stehen und bangte um die Seeverbindung nach Indien.[5] Die Okkupation Zyperns als eines vorgeschobenen Flottenstützpunktes zum Schutze des Suezkanals und der [− S.206 −] Dardanellen war nur die eine Reaktion hierauf, die andere war das präventive Aufgreifen der „armenischen Frage“, denn da der Artikel 16 des Vertrages von San Stefano den ‚Schutz‘ der armenisch-christlichen Religionsgruppe zu einem rein russischen Privileg werden zu lassen drohte, beeilten sich die Briten, auch auf diesem Gebiet Präsenz zu zeigen.[6]
Es ist auffällig, daß allein England überhaupt Interesse an der Revision dieses Artikels zeigte; während sich etwa die Debatte um die territoriale Ausgestaltung Bulgariens über zwei Wochen hinzog, wurde die Erörterung des Artikels 16 immer wieder widerspruchslos vertagt. Letztlich wurde der neue Artikel 61 des Berliner Vertrages nur abseits der Plenarsitzungen in direkten Verhandlungen zwischen der britischen und osmanischen Delegation intensiver behandelt[7] und erhielt folgenden Wortlaut:
„Artikel 61. Die Hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zwecke getroffenen Maßregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis geben.“[8]
Ein Vergleich mit der Fassung des Vorvertrags zeigt, daß an den substantiellen Zielen nichts geändert wurde, nur war die Verantwortlichkeit der Pforte gegenüber Rußland für die Durchführung der Reformen nun einer kollektiven ‚Aufsicht‘ aller Großmächte über „Armenien“[9] gewichen. Die Briten zeigten auch sogleich, wie sie dieses Instrument zu nutzen gedachten: Vor dem russisch-osmanischen Krieg hatte es im nord-östlichen Teil des Osmanischen Reiches nur in Erzurum und Trapezunt britische Konsulate gegeben, denn die Zweigstellen in Diyarbakır und Harput waren 1865 geschlossen worden. Der Schwerpunkt des britischen Interesses lag damals offenkundig eher in Syrien (Konsulate in Aleppo, Beirut, Damaskus und Jerusalem) und teilweise im Irak (Konsulate in Bagdad, Basra und Mosul).[10] Nun löste man die zivilen Amtsträger der relevanten Konsulate in den nord-östlichen Provinzen durch Armeeoffiziere ab und errichtete ein neues Konsulat in Van, zeitweilig auch wieder in Diyarbakır.[11]
Zusätzlich wurden fünf sog. „Militärkonsuln“ ernannt, deren Hauptaufgabe es war, umherzureisen und Beschwerden von christlichen Untertanen der Pforte anzuhören und an den Botschafter weiterzuleiten.[12] Obwohl diese Sonderkonsuln bereits 1882 wieder abgezogen wurden, verbreiteten ihre Inspektionstouren und die erhöhte Präsenz an regulären Konsuln den Eindruck, daß die Errichtung eines direkten britischen Protektorats über die östlichen Provinzen unmittelbar bevorstand.[13] Gerade die Errichtung des Konsulats in Van ließ Gerüchte über die Schaffung eines autonomen Armeniens unter britischer Hoheit entstehen. Konsul Clayton berichtete von einer ersten Inspektionsreise nach Bitlis, daß zwei Tage vor seiner Ankunft Stammesleute die Mühle eines Christen niedergebrannt und dem Besitzer höhnisch angeraten hatten: „Jetzt geht und beschwert Euch bei den Europäern, die unterwegs hierher sind.“[14] Anfang 1880 hatten sich die Gerüchte auch bis Nehri, dem Sitz des damals wohl bekanntesten Nakşbendî-sheikhs in Kurdistan, Sheikh Ubeydullah, verbreitet. Von diesem sheikh ist folgende Reaktion überliefert:
„Was kommt mir da zu Ohren, daß die Armenier einen unabhängigen Staat in Van bekommen sollen und daß die Nestorianer demnächst die britische Flagge hissen und sich für britische [− S.208 −] Untertanen erklären werden. Das werde ich niemals zulassen, eher würde ich die Frauen zu den Waffen rufen.“[15] (meine Übers.; engl. Original)
Fast als wollten sie Öl in dieses Feuer gießen, überreichten die sechs Unterzeichnermächte von Berlin der Pforte im September 1880 eine gemeinsame Protestnote, die die letzten Zweifel darüber ausräumte, wohin das Drängen auf Reformen im Art.61 des Berliner Vertrages zielte: Gefordert wurde eine getrennte Verwaltung für die seßhaften Christen und die Aufhebung aller Tributverpflichtungen gegenüber den Nomadenstämmen, sprich: die völlige Entmachtung der eigentlichen Herren des Landes.[16] Zwar war die Entsendung neuerlicher Reformkommissionen nach Diyarbakır und Van das einzig greifbare Ergebnis dieses Vorstoßes, aber das Schreckgespenst einer christlichen Dominanz stand von nun an im Raum und mobilisierte heftigste Abwehrreaktionen der Muslime.
Die rapide Verschlechterung des Verhältnisses der beiden großen Religionsgruppen in Kurdistan und Armenien war ein durchaus neues Phänomen. Zwar hatten Christen und Muslime bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs „in Frieden und Freundschaft miteinander gelebt“[17], wie es manchmal von kurdophiler Seite dargestellt wird; es herrschte zwischen ihnen vielmehr ein von beiden Seiten fraglos hingenommenes Herr-Knecht-Verhältnis, das einfach keine Konflikte aufkommen ließ.[18] Erst als durch äußere Entwicklungen die [− S.209 −] Unabänderlichkeit dieses Zustandes in Frage gestellt wurde und andere Verhältnisse zumindest denkbar schienen, entstanden jene Spannungen und Bedrohungsgefühle, die Mitte der 90er Jahre zu Massakern an Zehntausenden von armenisch-christlichen Bauern und Städtern führen sollten. Wegen der großen Bedeutung, die die sog. „Armenische Frage“ sowohl auf diplomatischer Ebene als Instrument permanenter Großmachteinmischung in die interne Entwicklung des Osmanischen Reiches als auch auf der Ebene der lokalen Konflikte innerhalb der kurdischen Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten gewinnen sollte, ist es nötig, kurz auf ihre Hintergründe einzugehen.
Das armenisch-gregorianische millet hatte sich über die Jahrhunderte gut mit den Strukturen des Osmanischen Reiches arrangiert, viele seiner hauptstädtischen Mitglieder waren zu beachtlichem Einfluß gelangt, entweder in der Staatsbürokratie oder als Bankiers und Fernhandelskaufleute. Dies traf vor allem zu, nachdem die Exponenten des griechisch-orthodoxen millets durch den peleponnesischen Aufstand und die nachfolgende Sezession des Königreichs Griechenland in Ungnade gefallen waren und mehr noch, als im Zuge der tanzimat der Zugang zu Staatsämtern für alle Christen erleichtert wurde.[19] Ähnlich der einige Jahrzehnte zuvor unter den griechisch-orthodoxen Christen abgelaufenen Entwicklung zogen die weitgespannten Handels- und Finanzbeziehungen die Bildung eines verzweigten Netzes von Auslandskolonien nach sich bzw. führten zu einer spürbaren Belebung und Bereicherung der schon vorhandenen Diaspora.[20] Eine weitere Parallele findet sich in der rasch wachsenden Bildungsbegeisterung der aufblühenden armenisch-christlichen Mittelschichten; so sollen allein in Istanbul bis zum Jahr 1866 sechsundvierzig Schulen eröffnet worden sein.[21] [− S.210 −] Die prosperierende Gemeinde von Van soll gar die Errichtung einer örtlichen Hochschule in Erwägung gezogen haben.[22]
Der entscheidende Unterschied gegenüber dem orthodoxen millet lag darin, daß selbst noch die radikaleren Veränderungsbestrebungen der neuen Mittelschichten sich ganz im Rahmen der Möglichkeiten des osmanischen Systems äußerten. Sie kämpften vor allem darum, die Macht innerhalb der eigenen millet-Strukturen zu erobern, um sie nach ihren Bedürfnissen umzugestalten.[23] Höhepunkt und endgültiger Durchbruch dieser gegen die verkrustete millet-Oligarchie aus Patriarchatsspitze und Finanzmagnaten gerichteten Bewegung war 1860 die Durchsetzung einer neuen internen Organisationsstruktur, die nach dreijährigem Zögern vom Sultan mit einem ferman („Erlaß“) autorisiert wurde.[24]In der dadurch geschaffenen neuen Generalversammlung des millets waren nur noch 20 von 140 Sitzen für den Klerus vorgesehen, und da von den 120 übrigen Sitzen für die Laienmitglieder 80 von der Istanbuler Kolonie besetzt wurden, in der die Mittelschichten aus erfolgreichen Fabrikanten, Handwerksmeistern, Kaufleuten, Wucherern, Lehrern etc. das Übergewicht gewonnen hatten, bestimmten diese nun im wesentlichen die weltlichen Geschicke des gesamten millets .[25]
Es ist übrigens nicht zulässig, das millet -Statut von 1863 und die darin vorgesehene Generalversammlung als „National“verfassung oder „National“versammlung zu übersetzen, wie es heute von armenischer Seite durchweg getan [− S.211 −] wird.[26] Zwar ist der arabisch-osmanische Begriff millet mit Beginn des 20. Jahrhunderts mangels eines passenderen Wortes nach und nach als Übersetzung des europäischen Wortes „Nation“ in Gebrauch gekommen, für den Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts jedoch ist eine Gleichsetzung von millet und Nation stark irreführend.[27] Das millet war eine Korporation auf religiös-politischer Basis, wobei der intensive Zusammenhang von Religion und Politik am besten durch die Abspaltung je einer katholischen und protestantischen Strömung aufzuzeigen ist, war doch die Zuwendung zum katholischen Ritus identisch mit dem Erwerb des Anrechts auf konsularische Protektion durch Frankreich. Umgekehrt bedeutete die Annahme des protestantischen Glaubens Schutz durch britische Konsulate.[28] Die Gemeinde von Zeitun etwa ‚erkaufte‘ sich 1862 die Intervention des französischen Botschafters bei der Pforte, die den Abzug einer übermächtigen Belagerungsarmee bewirkte, mit der anschließenden kollektiven Konversion zum Katholizismus.[29] Es wäre reizvoll zu erforschen, welchen Einfluß das Wirken [− S.212 −] der methodistischen Missionare von Maraş darauf hatte, daß 1879 eine britische Intervention, statt einer französischen, zugunsten der abermals von einer Strafexpedition tödlich bedrohten Zeitunlus erfolgte.[30]
Das armenisch-gregorianische millet blieb bis zum Krieg von 1877/78 ohne ausländische Schutzmacht, und man scheint sich auch nicht intensiver um solche Protektion bemüht zu haben. Nicht umsonst zeichneten die Osmanen diese Untertanengruppe häufig mit dem Ehrentitel „das loyale millet “ aus.[31] Der Krieg brachte allerdings das Ende der ‚Harmonie‘. Hauptkonfliktpunkt war die Unfähigkeit der osmanischen Staatsgewalt, ihre seßhaften Untertanen, darunter in großer Zahl armenisch-christliche Dörfler und Städter, vor den dauernden Razzien jener muslimischen Nomaden zu schützen, welche der russische Vormarsch zu Zehntausenden vor sich hertrieb. Während die Regierungstruppen an der Front gebunden waren, ‚versorgten‘ sich diese Flüchtlinge mit Vorliebe bei christlichen Opfern mit dem Nötigsten, nachdem der übermächtige christliche Feind aus dem Norden sie um ihre angestammte Lebensgrundlage gebracht hatte. Vermehrt wurden die Übergriffe durch die umherschweifenden baş ı bozuk -Truppen, die beim Plündern nicht fragten, ob die Opfer osmanische Untertanen waren oder nicht. Im krassen Gegensatz dazu erlebten die Seßhaften jenseits der Front, mit welcher Entschlossenheit die russische Besatzungsgewalt solche Razzien unterband.
Da der Zusammenbruch des Reiches und die Annexion eines großen Teils seiner asiatischen Besitzungen unmittelbar bevorzustehen schien, war es nur verständlich, daß bei einigen Führungsköpfen der Wunsch aufkam, auch den Rest der millet -Mitglieder russischem Schutz zu unterstellen. Mit diesem Ansinnen wurde der Patriarch Nerses 1878 im russischen Hauptquartier bei San Stefano vorstellig, mußte aber erfahren, daß russischerseits kein Interesse bestand. Mehr als vage Hilfsversprechen, die sich später im bereits besprochenen Artikel 16 des osmanisch-russischen Friedensvertrages niederschlugen, konnte Nerses nicht erreichen.[32] Auch die in seinem Auftrag zum Berliner Kongreß geeilte Delegation bewirkte nicht mehr; dafür schürten die von ihnen dort [− S.213 −] freigebig verteilten Memoranden, Statistiken und Reformvorschläge samt Karten[33] allerdings in Istanbul die Furcht vor einer neuerlichen sezessionistischen Bewegung.[34]
Hungersnöte, durch Kriegsschäden und zwei aufeinanderfolgende Mißernten (1878 und 1879) verursacht, gaben weiteren Anlaß zu wechselseitigen Anfeindungen.[35] In den Städten mußten die notleidenden Muslime erleben, daß sie von den ausländischen Hilfsaktionen für ihre christlichen Nachbarn ausgeschlossen waren, auf dem Lande hingegen griffen manche militante Muslime zum Mittel der Plünderung, um ihre Wintervorräte zu füllen, nachdem die Nahrungsmittelpreise aufgrund der Knappheit in für sie unerschwingliche Höhen geschossen waren.[36] In jenen Regionen, die kurz zuvor noch von der russischen Armee besetzt gehalten worden waren, kam noch die Erinnerung an die Missetaten [− S.214 −] einzelner christlicher Kollaborateure hinzu.[37] Diese explosive Mischung aus materiellem Elend, aufwallendem religiösem Haß und sozialer Unruhe bildete den Hintergrund für den Aufstieg des Sheikh Ubeydullah zum mächtigsten Mann Kurdistans.
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