„Der kurdische Nationalismus in der Türkei“
„Der kurdische Nationalismus in der Türkei“
Günter Max Behrendt
Kurdistan war im Westen – vor dem sog. „Golfkrieg“ von 1991 – immer nur ein Thema für eine Handvoll Spezialisten. Vor 1950 etwa beschäftigten sich damit allenfalls einige kurdophile britische und französische (Ex-)Kolonialbeamte. Auch als Kurdistan ab 1961 durch die zählebige Rebellion kurdischer Partisanen im Irak gelegentlich in den Blickwinkel der Weltöffentlichkeit geriet und engagierte Journalisten an die Stelle der alten paternalistischen „Kurdenkenner“ traten, blieb die sog. „Kurdische Frage“ unverändert ein Spezialthema – besonders im deutschsprachigen Raum. Doch seit dem mißlungenen Aufstand gegen den Diktator Saddam Hussein im März 1991 und den Bildern vom millionenfachen Flüchtlingselend in den eisigen kurdischen Bergen ist vieles anders geworden. Der „vereinbarungswidrige“ Einsatz ehemaliger NVA-Achtradpanzer in Türkisch-Kurdistan beispielsweise war vor diesem Hintergrund einen kräftigen Skandal – und den Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Stoltenberg – wert.[1] Dem aufmerksamen Zeitgenossen werden daher beim Stichwort „kurdischer Nationalismus in der Türkei“ wohl einige Meldungen über den Krieg der türkischen Armee gegen die Partisanen der Kurdischen Arbeiterpartei, der PKK, in den Sinn kommen. Im Mittelpunkt dieses Beitrages soll allerdings nicht das Auflisten staatlicher Repressionsverbrechen oder das Künden vom „ungebrochenen Freiheitswillen eines unterdrückten Volkes“ stehen; vielmehr möchte ich der Frage nachgehen, wie die kurdische Nationalbewegung überhaupt möglich geworden ist. Wie konnte in einer der sozio-ökonomisch am schwächsten entwickelten Regionen des Vorderen Orients ein höchst virulenter Nationalismus entstehen, obwohl er zu keiner Zeit staatliche Förderung erfuhr, insofern also ein „staatenloser“ war?
Schlägt man – auf Suche nach Antworten – irgendeinen neueren Abriß zur Entwicklung der „Kurdischen Frage“ in der Türkei[2] auf, so wird man dort mit hoher Wahrscheinlichkeit drei Ereignisse als bedeutsam herausgestellt finden, auf die ich im folgenden noch näher eingehen möchte:
Alle drei Ereignisse fanden in Türkisch-Kurdistan statt, d.h. in jenem Teil Kurdistans, welcher heute zum Staatsterritorium der Türkischen Republik gehört. Und da alle drei sich gegen die jeweils herrschende Staatsmacht richteten – was vor 150 Jahren selbstverständlich das Osmanische Reich und nicht die heutige Türkei war –, mag diese Reihung von Aufständen und Revolten zu dem Schluß führen, es gäbe eine gut eineinhalb Jahrhunderte überspannende Kontinuität des nationalen Freiheitskampfs „der Kurden“ gegen „die Türken“.
Wenn man allerdings mit der neueren Nationalismusforschung etwas vertraut ist, muß einen diese Kontinuitätsannahme schon aus Prinzip mißtrauisch stimmen. Zu den Erkenntnissen dieser Forschung gehört nämlich auch die Einsicht, daß dem Nationalismus eine Tendenz zur „Selbstverewigung“ innewohnt, d.h. daß er dazu neigt, die Existenz der von ihm postulierten und begründeten Nation durch alle Zeitalter und Epochen hinweg als apriori gegeben zu setzen.[3] Im kurdischen Falle heißt das, daß es für einen aufrichtig überzeugten kurdischen Nationalisten keinen Zweifel darüber geben kann, daß die kurdische Nation schon seit Urzeiten existiert und immer existiert hat.[4] Diese Selbstverewigungstendenz schlägt sich besonders nieder in dem Bemühen von Nationalbewegungen um eine „Aneignung“ der „eigenen Geschichte“, sprich: in der Erstellung einer Nationalgeschichte. Aber auch nicht kurdisch-nationalistisch engagierten AutorInnen gehen Sätze wie der folgende problemlos von der Feder:
„Die Kurden sind eines der ältesten Völker des Mittleren Osten. Die Gelehrten sind sich einig, daß es bereits im 25. Jahrhundert vor Christus ein großes und mächtiges kurdisches Königreich in jener Region gab, in welcher die Kurden heute leben.“[5]
Hierzu kann man mit Reinhard Kreckel nur sagen:
„Man sollte sich hüten, an die üblichen Selbststilisierungen von Vertretern ethnischer oder nationalistischer Bewegungen ... anzuknüpfen, die ihre ethnische Identität als ein uraltes historisches Erbe darzustellen pflegen, das erst durch moderne Erschütterungen – wie Migration, Diskriminierung, Kolonialismus – von Zerstörung bedroht ist.“[6]
Man sollte sich allerdings auch davor hüten, diese Neuschreibung und teilweise Neudichtung von Geschichte einfach als Geschichtsfälschung abzutun; damit läge man ähnlich falsch wie die Radikalen der Epoche der Aufklärung, die glaubten, das Phänomen der Religion mit der „Priestertrugstheorie“ erklärt zu haben. Tatsächlich gehört der Nationalismus – den ich als einen Vergesellschaftungsmodus begreife – in eine Reihe gestellt mit den anderen großen Vergesellschaftungsformen wie Religion oder Verwandtschaft.[7] Und da es sich beim Nationalismus um eine spezifische Vergesellschaftungsform der Moderne handelt, ist er so tief in das heute allgemein gültige Welterklärungsmodell eingegangen, daß es sich bei seinen Erscheinungsformen um Formen notwendig falschen Bewußtseins handelt, sprich: um Ideologie, die mit dem bloßen Hinweis auf die Fakten nicht aus der Welt zu schaffen ist.
Ein Beispiel hierzu: Als der Linguist McKenzie in den 60er Jahren in Fachpublikationen darauf hinwies, daß eine Rückführung des Kurdischen auf die Sprache der Meder doch eher spekulativ sei[8], wurde diese These von kurdischen Wissenschaftlern nicht etwa nüchtern-argumentativ aufgenommen, sondern in Bausch und Bogen verdammt und McKenzie selbst als ein Lakai des Imperialismus beschimpft, der durch böswillige Verfälschung der Wahrheit die kurdische Nation als Ganze in ihrer Existenz verleugnen wolle.[9]
Vor die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des kurdischen Nationalismus ist daher in aller Regel zunächst die Dekonstruktion nationalistischer Mythenbildungen zu setzen. In diesem Zusammenhang möchte ich die These aufstellen, daß allein schon der Begriff „die Kurden“ dadurch, daß er die Kategorie „Nation“ implizit voraussetzt, die Erforschung der Entwicklung der kurdischen Gesellschaft bis zum 20. Jahrhundert mehr behindert als erleichtert hat. Denn dieser Begriff verdeckt mit seinem nationalisierenden Zugriff gerade jene Heterogenität, die meiner Ansicht nach etwas Wesentliches an der kurdischen Gesellschaft ausmachte. Deshalb versucht der von mir hier benutzte Begriff von der kurdischen Gesellschaft, eben ihren „Flickenteppich“-Charakter als eins ihrer elementaren Strukturprinzipien zu begreifen. Das heißt, die Zersplitterung des gesellschaftlichen Ganzen in zahllose, sprachlich wie religiös stark unterschiedliche, jede für sich aber halbautarke Sozialeinheiten, die bis weit in unser Jahrhundert hinein die kurdische Gesellschaft auszeichnete, war keine durch böswillige Fremdeinwirkung verschuldete Anomalie bzw. Störung der ‚natürlichen‘ Entwicklung – hin etwa zu einer kurdischen Nation. Vielmehr handelte es sich um den Normalfall, der völlig im Einklang stand mit der Entwicklung der gesamten umfassenderen Region. Denn schließlich darf man die Fragmentierung der sozialen Zusammenhänge zu einem Mosaik vielfältig widerstreitender Gruppen im Rahmen der traditionellen orientalischen Gesellschaft als eine durchaus normale Entwicklung ansehen. Für mich jedenfalls sind „die Kurden“ als ein homogenes Ganzes – zumindest für die Zeit vor dem 20. Jahrhundert – ein zu demontierender Mythos. (Entsprechendes gilt allerdings ebenso für „die Türken, „die Araber“ etc.)
Die Erhebung des Emir Bedir Khans von Botan (1847)
Dies möchte ich am Beispiel des eingangs erwähnten, gut 150 Jahre zurückliegenden Aufstands des Emirs von Botan konkretisieren, über
welchen man nicht selten liest, sein Zweck sei es gewesen, „alle Kurden“ unter einer Herrschaft zu vereinigen und „ganz Kurdistan“ zu
einem unabhängigen Königreich zu machen.[10] Immerhin mußte Sultan Abdülmecit I.
zu seiner Niederwerfung das gesamte Anatolische Reichsheer mobilisieren lassen; ein Beweis dafür, daß dieser Aufstand von erheblicher
militärischer Potenz war. Was waren nun die Ziele, für die es Emir Bedir Khan auf ein Kräftemessen mit seinem Großherrn, dem Sultan,
ankommen ließ?
Zunächst muß man sich ins Gedächtnis rufen, daß Kurdistan zur Mitte des vorigen Jahrhunderts nur ein kleiner Teil des gewaltigen Osmanischen Reiches war. Das Haus Osman herrschte damals neben Anatolien noch über den gesamten Nahen Osten, die nordafrikanische Küste, den halben Balkan und beträchtliche Teile des Kaukasus. Allerdings fiel das Reich seit Anfang des vorigen Jahrhunderts praktisch ununterbrochen von einer Krise in die andere. So hatte sich beispielsweise der Regent von Ägypten, Muhammed Ali, selbständig gemacht und Syrien okkupiert. In den 30er Jahren stand er sogar im Begriff, auch noch halb Anatolien an sich zu reißen. Der militärische Gegenschlag des Sultans endete in einer Katastrophe, das osmanische Reichsheer wurde 1839 von den Söldnertruppen aus Ägypten vernichtend geschlagen. Eine Folge davon war, daß so entlegene Regionen wie Kurdistan vorübergehend völlig sich selbst überlassen blieben.
Dies war die Stunde von Männern wie Emir Bedir Khan, also regionalen oder auch bloß lokalen Potentaten, die versuchten, möglichst viel des plötzlich entstandenen Autoritätsvakuums selbst auszufüllen. Kurz: es herrschte das Recht des Stärkeren, und wie es die Umstände wollten, erwies sich Emir Bedir Khan als der Stärkste in der Region zwischen Van-See und Mosul. Im weiten Umkreis seiner Hauptstadt Cizre bis hin zur persischen Grenze im Osten machte er sich die anderen Lokalherrscher untertan. Die Hohe Pforte in Istanbul mußte – mangels militärischer Schlagkraft – gute Miene zum bösen Spiel machen und arrangierte sich einstweilen mit dem Emir.[11] Der – seinerseits – beteuerte dem Sultan in zahlreichen Eingaben und Briefen seine Ergebenheit, gleichzeitig allerdings ließ er in seinem Machtbereich nur noch ein Gesetz gelten: sein eigenes nämlich. Am Ende stürzte der Emir über ein Massaker, das 1843 mehrere tausend Gegner seiner Vorherrschaft das Leben kostete. Zu Bedir Khans Pech handelte es sich bei den Opfern um Anhänger der alten orthodoxen Ostkirche, die gerade erst kurz zuvor Kontakte zur anglikanischen Kirche Großbritanniens geknüpft hatte. Und so kam es, daß der britische Botschafter am Istanbuler Hofe nicht ruhte und rastete, bevor nicht eine osmanische Strafexpedition gegen den „Christenschlächter“ Bedir Khan bewirkt war.[12] 1847 kam der Sultan dem britischen Druck schließlich nach und ließ sein Heer gegen den Emir aufmarschieren. Dieser vervielfachte seine Treueschwüre und versprach jeden nur gewünschten Unterwerfungsbeweis, um seiner Entmachtung zu entgehen. Doch als dies nichts fruchtete, blieb ihm – als letzter ehrenhafter Ausweg – nur noch die Möglichkeit zu kämpfen. Er stellte sich mit seinen Kriegern zur Schlacht, verlor und wurde für den Rest seines Lebens ins Exil geschickt – allerdings mit einer reichlich bemessenen Staatsrente. Er hat sich übrigens späterhin um die Belange seines osmanischen Großherrn speziell auf Kreta so verdient gemacht, daß ihm dafür der paşa-Titel verliehen wurde.[13]
Nach allem also, was man weiß, hatte Emir Bedir Khan mit einer kurdischen Nation nichts im Sinn. Vielmehr betrieb er das alte Spiel der Macht: In Phasen der Schwäche der Sultansmacht dehnte jeder Vasall seinen Spielraum eben so weit aus, wie es nur ging. Hätte sich also Bedir Khan die Möglichkeit geboten, auch Syrien an sich zu reißen, wie es vor ihm Muhammed Ali von Ägypten gelungen war, er hätte nicht gezögert. Denn sein Ziel war nicht ein unabhängiger Staat Kurdistan, sondern eine möglichst machtvolle Bedir Khan-Dynastie in einem universell erweiterten Emirat Botan. Diesem Streben widersprach eine Vasallitätsbeziehung zum Hause Osman in keiner Weise, denn es ordnete sich ein in einen sozialen Kosmos, in welchem Kategorien wie Glaube, tribale Loyalität, Prestige, Ehre und Patronage die entscheidenden Schlüsselbegriffe waren. Das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ machte für die Akteure in solch einer Sozialwelt einfach keinen Sinn. Dies gilt meiner Ansicht nach für die gesamte Ära des 19. Jahrhunderts.
Die Wurzeln des kurdischen Nationalismus sind eben nicht dort oder gar in den Abgründen der Geschichte zu suchen, sondern an der Wende zu unserem Jahrhundert. Seine Entstehung beruhte dabei nicht primär auf inneren Entwicklungen der kurdischen Gesellschaft selbst. Damit will ich sagen, daß der ganze Kanon von Kriterien, mit dem üblicherweise die Entstehung von Nationalismus versucht wird zu erklären, in diesem Fall nicht zutrifft. Wenn man einmal das Auftauchen der frühesten Vorkämpfer eines kurdischen Nationalismus für die Zeit zwischen den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts und dem Ausbruch des 1. Weltkrieges ansetzt und dann den Zustand der kurdischen Gesellschaft zu dieser Zeit betrachtet, so stellt man folgendes fest:
Resümiert man diese Befunde über den Zustand der kurdischen Gesellschaft vor dem 1.Weltkrieg, so wird klar, daß das ganze modernisierungstheoretisch orientierte Modell zumindest für die Entstehungsphase des kurdischen Nationalismus keine Anwendung finden kann. Diese muß man vielmehr als ein reines Elitenphänomen begreifen, genauer gesagt, als einen Veränderungsprozeß einer Elite im Exil. Der kurdische Nationalismus entstand nämlich über tausend Kilometer von Kurdistan entfernt in der osmanischen Hauptstadt Istanbul und wurde erst später von hier – in den Jahren der Nachkriegszeit – nach Kurdistan selbst getragen.
Nun war das nationalistische Weltmodell, also die an der Elementarform „Nation“ orientierte Welterklärung, nicht nur in Kurdistan, sondern im ganzen Osmanischen Reich ein Fremdimport, der nur durch die Kontakte mit dem bereits national umgestalteten Europa Eingang in das muslimisch dominierte Milieu fand – wobei „Kontakt“ häufig genug tatsächlich „Krieg“ meinte. Hauptknotenpunkt dieses Austausches wurde im vorigen Jahrhundert die Hauptstadt Istanbul, die sich seit dem Krimkrieg immer mehr zu einer europäischen Metropole wandelte. Das heißt, Istanbul wurde zu einer in gesellschaftlicher Hinsicht dem Rest des Reiches weit vorauseilenden Enklave und funktionierte in gewisser Weise als ein riesiges, soziokulturelles Experimentierfeld für zukünfige gesellschaftliche Entwicklungen. Ohne diesen Enklavencharakter Istanbuls ist die Entstehung des kurdischen, aber auch des armenischen und des türkischen Nationalismus kaum richtig zu verstehen. Denn wenn es überhaupt einen Ort im Osmanischen Reich gab, an dem eine Auseinandersetzung mit der neuen europäischen, bürgerlich-kapitalistischen Realität möglich war, dann traf dies auf Istanbul zu. Allerdings waren allein die gebildeten Oberschichtssöhne innerhalb der viele Tausende Menschen umfassenden Exilgruppe aus Kurdistan in der Lage, die verstörenden und befremdlichen Erfahrungen, denen man in der gigantischen Metropole ausgesetzt war, allmählich in ein neues Weltbild umzusetzen. Die Masse der einfachen muslimischen Dörfler aus den Bergen Kurdistans, die als ArbeitsmigrantInnen nach Istanbul gekommen waren, klammerte sich hingegen an traditionelle Beziehungsmuster und schirmte sich in Ghettos gegen die neuen Einflüsse so gut es ging ab.[18]
Der Aufstand des Sheikh Saits (1925)
Was diese Absonderung der Exilelite vom gesellschaftlichen mainstream in Kurdistan konkret für Auswirkungen
hatte, möchte ich an dem zweiten eingangs angesprochenen Ereignis erläutern, dem „Sheikh Sait-Aufstand“, wie diese
Erhebung von 1925 in der türkischen Historiographie allgemein genannt wird. Im Gefolge des Zusammenbruchs des
Osmanischen Reiches gründeten sich in Istanbul 1919 neue Organisationen wie die Kürdistan Teali Cemiyeti
(zu deutsch: „Gesellschaft für den Aufstieg Kurdistans“), die ein klarer noch als ihre Vorläufer in der Vorkriegszeit
kurdisch-nationalistisch geprägtes Profil hatte.[19] Sie kämpfte
in der politischen Arena engagiert für die „nationalen Interessen der Kurden“, und zumindest von einzelnen ihrer
Mitglieder wurde öffentlich auch die Errichtung eines unabhängigen Staates Kurdistan gefordert. Doch blieb diese
Bewegung – wenn auch unfreiwillig – auf das Exil der osmanischen Metropole beschränkt, denn gegen den Druck der
zeitgleich aufsteigenden türkisch-nationalen Bewegung konnten sich die wenigen von der Kürdistan Teali Cemiyeti
unterstützten Filialen in den Städten Kurdistans nicht halten und mußten alle noch 1920 wieder schließen. Auf dem
üblichen Wege der nationalen Agitation konnte die kurdische Bewegung ihre Adressaten also nicht erreichen. Wie
konnte es dann 1925 mitten in Kurdistan trotzdem zu einem Aufstand kommen, der zum einen durch die Teilnahme
von bis zu 15.000 bewaffneten Kämpfern eine gewaltige Massenmobilisierung erkennen ließ und zum anderen laut
Urteil der türkischen Machthaber klar auf Errichtung eines unabhängigen Kurdistans ausgerichtet
war?[20]
Tatsächlich wurde er von einer streng geheimen Verschwörung namens Azadi (zu deutsch: „Freiheit“) in die Wege geleitet, die mit den Istanbuler kurdisch-nationalen Organisationen so gut wie keinen Kontakt unterhielt – weder inhaltlich noch personell.[21] Den organisatorischen Kern dieser etwa 1921 entstandenen Verschwörung stellten aktive Armeeoffiziere, die in den Wirren der Kriegsjahre endgültig vom damals noch allgemein vorherrschenden Gedankengut des Osmanismus abrückten und zu einem exklusiv kurdischen Nationalismus umschwenkten. Diese Azadi-Aktivisten zielten von Anfang an auf einen von der neuen Türkei unabhängigen Staat Kurdistan. Doch setzten sie nicht auf Agitation der Bevölkerung mittels nationaler Propaganda. Vielmehr gingen sie gezielt nur solche gesellschaftlichen Führungsgestalten an, auf deren Wort hin die Massen sich ohne viel zu fragen in Bewegung setzen würden.[22] Und das waren in der stark fragmentierten kurdischen Gesellschaft vor allem religiöse sheikhs, tribale Chefs und lokale ağas, die dank der an ihre Persönlichkeit gebundenen Loyalitäten jeweils eine zahlreiche Gefolgschaft mobilisieren konnten.
Anders gesagt: die Azadi versuchte, eine kaum ernstlich zu erwartende Massenbeteiligung aus nationalistischen Motiven zu ersetzen durch eine Instrumentalisierung vormoderner Patronage- und Klientelnetze. Dieses Konzept hatte die türkische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal in den Jahren 1919 bis 1923 höchst erfolgreich vorexerziert und dabei zunächst auch weite Teile der kurdischen Gesellschaft einbinden können.[23] In der Praxis mußte die Azadi jedoch feststellen, daß einer Adaption des Konzepts auf kurdischnationale Ziele weit größere Schwierigkeiten entgegenstanden. Es scheint mir hierfür bezeichnend, daß der Aufstand in militärischer Hinsicht schon zusammenbrach, noch bevor die türkische Armee ihre Überlegenheit überhaupt wirklich zum Einsatz gebracht hatte. Insbesondere die Eroberung des strategisch wichtigen Regionalzentrums Diyarbakır scheiterte aufgrund der fehlenden Unterstützung der dortigen Stadtbevölkerung.[24]
Neben der abwartenden Passivität der Städter war ein weiteres großes Problem, daß mehrere alevitische Stämme der Region sich gegen den Aufstand stellten und auf eigene Faust gegen die Rebellen zu Felde zogen. Hierzu muß man wissen, daß die Religionsgruppe der Aleviten sich im mehrheitlich orthodox-sunnitischen Osmanischen Reich nie offen zu ihrem Glauben bekennen durfte, da dieser dem staatlich verbotenen und verfolgten Schiitentum sehr nahe stand. Besonders in den über dreißig Jahren der Herrschaft des strenggläubigen Sultans Abdülhamits (1876-1909) hatten die Aleviten in Kurdistan unter einer Vielzahl von Repressalien leiden müssen. Daß dem Aufstand nun gerade in den alevitischen Stämmen der Hormek und Lolan (im Raum Varto – Hınıs) gefährliche Gegner entstanden, war vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, nahmen doch auf der Seite Sheikh Saits ihre sunnitischen Nachbarn und verhaßten Feinde, die Cibran, teil.[25] Der Stamm der Cibran hatte unter Sultan Abdülhamit gegen Leistung von Milizdiensten besondere Privilegien (u.a. praktisch Immunität vor rechtlicher Verfolgung) genossen und diese intensiv dazu genutzt, den eigenen Einfluß auf Kosten der kleineren, benachbarten Aleviten-Stämme, eben der Hormek und Lolan, zu mehren.[26] Vergeblich hatte Sheikh Sait im Vorfeld des Aufstands versucht, die tiefe Feindschaft zwischen den Chefs der Hormek und der Cibran auszuräumen.[27] Abgesehen davon, daß die Hormek wegen ihres alevitischen Glaubens seiner Person keine besondere Heiligkeit oder Autorität beimaßen, vermochte es der Sunnit Sait offenbar nicht, ihnen einleuchtend klarzulegen, worin ihr gemeinsames Kampfziel hätte bestehen sollen. Hingegen hatten die religiös nicht eindeutig engagierten Kemalisten den Aleviten tatsächlich etwas zu bieten: nämlich die staatliche Duldung ihres Glaubens.
Weiterhin litt die Organisation des Aufstandes unter dem Handicap, daß die Azadi kurz vor Ausbruch der Erhebung durch mehrere Verhaftungen ihrer Führung beraubt wurde und so die Leitung ganz auf den wichtigsten beteiligten sheikh überging. Jedoch sollte man nicht vergessen, daß dieser Sheikh Sait – nach dem der Aufstand dann benannt wurde – kein ‚Säulenheiliger‘ war. Auch wenn die sheikhs in Kurdistan – zumindest unter Sunniten – im Ruf großer Heiligkeit standen, waren sie zugleich finanziell potente Großgrundbesitzer, erfahrene Kriegsfürsten und Politiker in einem. Im übrigen darf man davon ausgehen, daß Sheikh Sait ein überzeugter Anhänger der nationalistischen Ziele der Azadi war.[28]
Wie aber stand es um die Motivation der teilnehmenden einfachen Kämpfer? Zum einen bewegte sie als gute (sunnitische) Muslime aufrichtige Empörung über die laizistischen Maßnahmen der Regierung in Ankara; vor allem erboste sie die Abschaffung des Kalifats und der şeriat, des heiligen muslimischen Rechtskodex. Zusammen mit vermehrten Staatseingriffen in ihr alltägliches Leben – Stichwort: allgemeine Wehrpflicht – ergab dies die Überzeugung, daß offenbar ungläubige Störenfriede die einzig gottgewollte, weltliche wie religiöse Ordnung zerschlagen wollten. Zum anderen trieb sie die Loyalität zu ihren sheikhs und ağas, die unter Sheikh Saits Führung zum cihad, zum „Heiligen Krieg“, aufriefen. Das Äußerste, was man darüberhinaus den teilnehmenden einfachen Hirten-Bauern meiner Meinung nach unterstellen kann, ist, daß sie – ohne es bewußt zu artikulieren – das Ziel der Errichtung eines unabhängigen Staates bejahten, aber nicht um der Substanz einer kurdisch-nationalen Unabhängigkeit willen, sondern um unabhängig zu werden von den als unzumutbar empfundenen Einmischungen der Regierung in Ankara. Jegliche Form von Autonomie, ob von Ankara oder sonst einer Macht gewährt, die eine ungestörte Fortexistenz des praktisch staatsfreien Raumes in Kurdistan erlaubt hätte, wäre ihnen letztlich ebenso recht gewesen. Ihr Anliegen war also nicht die Schaffung ihres „eigenen“ oder gar „National“-Staates, sondern das Fernhalten jeglichen Staates von ihren Angelegenheiten.[29] In diesem Punkt bestand eine gewaltige Kluft zu ihren eindeutig in nationalen Kategorien denkenden und planenden Anführern.
Um einem möglichen Einwand zu begegnen, sei hier angemerkt, daß es auch in den Jahren 1930 und 1937/38 Aufstände in Türkisch-Kurdistan gab, die wahrscheinlich rein von der Zahl der beteiligten Kombattanten her den Sheikh Sait-Aufstand übertrafen. Doch – so wichtig sie auch in der heutigen kurdischen Nationalgeschichtsschreibung seien mögen – hinsichtlich der Entwicklung einer kurdischen Nationalbewegung kommt ihnen nur eine geringe Bedeutung zu. Denn weder beim sog. „Ararat-Aufstand“ (1930) noch beim „Aufstand von Dersim“ (1937/38) spielte eine politische Organisation modernen Zuschnitts, wie sie die Azadi darstellte, eine tragende Rolle.[30] In beiden Fälle kam also auch bei den Führungsgestalten in erster Linie der schon erläuterte Widerstand von Bewohnern extrem unzugänglicher Bergregionen gegen das Eindringen effektiver staatlicher Kontrolle in ihre bis dahin staatsfreie Lebenswelt zum Tragen.
Die Massenproteste des Frühjahres 1990 („kurdische Intifada“)
Anders steht es bei dem dritten und letzten Ereignis, das ich anfangs erwähnt hatte. Hier scheint nämlich die
konstatierte Kluft zwischen Massen und Anführern aufgehoben zu sein. Es handelt sich um die Frühjahrsrevolte des
Jahres 1990, die kurz vor dem traditionellen Neujahrsfest am 21. März in Türkisch-Kurdistan ausbrach und in der
türkischen Presse allgemein „kurdische Intifada“ genannt wurde.[32]
Auslöser dieser Revolte war ein tödlicher Zwischenfall, der unter dem Ausnahmezustand in Türkisch-Kurdistan schon
fast alltäglichen Charakter hatte[32]: Am 15. März 1990
sollte die Leiche eines getöteten PKK[33]-Partisanen
von seinen Angehörigen in der Kreisstadt Nusaybin zu Grabe getragen werden. Das Begräbnis wuchs sich jedoch
durch Teilnahme von Tausenden Trauergästen zu einer regelrechten Demonstration aus. Als der Zug in Richtung
Stadtzentrum marschieren wollte, feuerte die Sicherheitspolizei wahllos in die Menge und tötete dabei einen
jungen Mann. Eine heftige Straßenschlacht entbrannte, mehrere hundert Demonstranten wurden verhaftet. Die
Empörung schlug daraufhin nicht nur in Nusaybin hohe Wellen. Zehntausende gingen auf die Straßen, errichteten
Barrikaden und brannten u.a. auch staatliche Gebäude ab. Die Geschäfte blieben aus Protest tagelang geschlossen,
der Schulunterricht wurde boykottiert und selbst im fernen Diyarbakır gingen zahlreiche politische Häftlinge
in den Hungerstreik. Die Protestwelle breitete sich so in wenigen Tage auf alle größeren Städte Türkisch-Kurdistans
aus; Polizei und Armee reagierten wie gewohnt, d.h. sie übten die üblichen Repressionen aus. Allein bei einem
Einsatz in der Kreisstadt Cizre wurden vier Demonstranten erschossen. Und um die sehr medienwirksame
Ladenschließungsaktion zu stoppen, ordnete die Staatsmacht die gewaltsame Öffnung an. In der Praxis lief dies
auf die Zertrümmerung zahlloser Geschäfte und kleiner Läden durch die Armee hinaus. Insgesamt sollen bei
den immer wieder aufflackernden Straßenschlachten bzw. Strafaktionen vierzig Menschen getötet und Hunderte
in die Foltergefängnisse verschleppt worden sein. Der Ausnahmezustand wurde eilends durch Regierungsdekrete
weiter verschärft[34], und unter dem massiven Druck
von Polizei und Armee flaute die Erhebung schließlich nach einigen Wochen ab. Doch die Situation in
Türkisch-Kurdistan ist seither auf Dauer explosiv.[35]
Ist dies nun die Wende zur nationalen Massenbewegung gewesen, in der die Kluft zwischen der Motivation von nationalistischen Avantgarden und jenen Massen, deren Wortführer die ersteren schon immer gewesen zu sein meinen, tatsächlich weitgehend aufgehoben ist? Die Antwort lautet: ja und nein zugleich. Einerseits kann angesichts der Ereignisse kein Zweifel daran bestehen, daß Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Menschen in Türkisch-Kurdistan ihren Konflikt mit der Staatsmacht in nationalen Kategorien begreifen. Das heißt, sie verstehen sich als Mitglieder einer unterdrückten Nation und klagen selbst unter unmittelbarer Todesgefahr explizit und lautstark ein Recht auf Selbstbestimmung für diese Nation ein. Insofern unterscheiden sich die Ereignisse von 1990 von jenen des Jahres 1925 deutlich. Andererseits muß man wohl davon ausgehen, daß – trotz allem propagandistischen Eifer der PKK – der eigentliche Motor hinter dieser Mobilisierung der türkische Staat selbst ist – oder besser gesagt: sein an Menschenverachtung kaum zu überbietender Repressionsapparat.
Die türkische Armee mit ihren „Antiterror-Spezialteams“ ist es, die die Menschen in Kurdistan wortwörtlich „mobilisiert“, indem sie seit Jahren eine gewaltsame Vertreibung der dortigen Landbevölkerung vornimmt und bereits ganze Landstriche menschenleer gefegt hat.[36] Um jedem Rückkehrversuch von vornherein einen Riegel vorzuschieben, wurden nicht nur Hunderte von Dörfern dem Erdboden gleichgemacht, sondern auch systematisch die ökologischen Grundlagen für das wirtschaftliche Überleben dort vernichtet. Das heißt, es wurden Wälder und Obstkulturen abgeholzt, Bewässerungssysteme und Brunnen zerstört, Viehherden getötet etc. In Städten wie Cizre, Nusaybin und anderen Kreiszentren lebten daher seit dem Anfang der 90er Jahre Zehntausende von mittellosen Flüchtlingen – viele ohne Obdach, fast alle ohne Zukunftsperspektive, denn Arbeit gab es hier schon früher kaum.[37] Statt also die Guerillabewegung in einer menschenleeren Ödnis zu isolieren und ihr so das Wasser abzugraben, hat der türkische Staat durch die Tätigkeit seiner Spezialteams ein in den hoffnungslos unterentwickelten Städten Kurdistans unter keinen Umständen mehr zu integrierendes Potential an sozialem Elend geschaffen. Erst diese Situation der völligen Ausweglosigkeit hat der PKK den Durchbruch zur Massenwirksamkeit verschafft.
Zwar hatten die PKK-Guerilleros auch zuvor schon die Sympathie weiter Teile der Bevölkerung in jenen Provinzen, die seit 1980 unter permanentem Ausnahmezustand leben müssen. Doch muß man genauer hinschauen, um zu verstehen, wie es hierzu kam. Vor dem Putsch von 1980 spielte die PKK nämlich in der politischen Landschaft Kurdistans keine bestimmende Rolle. Sie war eine unter vielen anderen Organisationen und keineswegs die wichtigste.[38] Gebildet hatte sich die Keimzelle der späteren PKK – wie fast alle kurdisch-nationalen Organisationen vor ihr – weit entfernt von Kurdistan im großstädtischen Milieu der Hauptstadt. Früher war dies Istanbul gewesen, seit der Ausrufung der Republik ist es Ankara – in beiden Städten gibt es heute einen gewaltigen Bevölkerungsanteil von Zuwanderern aus Kurdistan. Ob auf der Suche nach Arbeitsplätzen oder nach Studiermöglichkeiten, der Strom der Zuwanderer riß seit Anfang des Jahrhunderts nicht ab. Für Istanbul wird ihre Zahl auf fast eine Million geschätzt. An den Universitäten in Istanbul und Ankara war es, wo mit dem Aufschwung der linken Bewegung Ende der 60er Jahre ganze Generationen von StudentInnen aus Kurdistan politisiert wurden. Eine besondere Anziehungskraft übte damals die Theorie des Marxismus-Leninismus in all seinen Variationen aus. Auch die PKK stammt aus diesem Dunstkreis – ihr Chef, Abdullah Öcalan, benennt heute noch Stalin, neben Engels und Zarathustra, als sein Vorbild.[39]
Doch war es nicht die revolutionäre ML-Diktion ihres Programms, die die PKK für die Dörfler in den Bergen Kurdistan attraktiv machte. Die meisten von ihnen waren des Lesens und Schreibens ohnehin unkundig. Den Respekt dieser Menschen erwarb sich die Partei vielmehr durch das „mannhafte“ Auftreten ihrer PartisanInnen im bewaffneten Kampf gegen die Staatsmacht.[40] Dazu muß man wissen, daß in der immer noch stark vom nomadischen Ehrbegriff geprägten kurdischen Gesellschaft dem mutigen Rebellen gegen die Mächtigen seit jeher ein Ehrenplatz sicher ist. Dies galt Anfang des Jahrhunderts selbst für armenisch-nationalistische Partisanen, obwohl deren Ziel – die Errichtung eines armenischen Nationalstaates – allgemein verabscheut wurde. Ihre militärischen Bravourstücke hingegen wurden gern von muslimischen Geschichtenerzählern verherrlicht.[41] Gewollt oder ungewollt baute die PKK auf solche noch heute wirksame Mechanismen der traditionalen Gesellschaft. Indem sie etwa den Kampf um ihre Vormachtstellung im kurdisch-nationalen Lager von Anfang an mit kompromißloser Härte führte, erhöhte sie nicht nur ihr kämpferisches Prestige, sondern etablierte zugleich erste Grundlagen für die spätere allgemeine Akzeptanz ihres Führungsanspruchs. Ursache hierfür ist, daß die kurdische Gesellschaft bis auf den heutigen Tag keine Gelegenheit erhalten hat, das Gewaltmonopol des modernen Staates als eine positive Errungenschaft zu erfahren, die persönliche Handlungsspielräume erweitert statt sie zu verengen. Legitimität eines Machtanspruches entsteht hier daher im wesentlichen immer noch durch den wiederholten, „mannhaften“ und vor allem erfolgreichen Vortrag desselben.[42] Wenn also die Partei die Anliegen ihrer Anhänger erfolgreich vertreten und – was vielleicht noch wichtiger ist – ihre Gegner treffsicher bestrafen kann, dann ist sie die richtige Partei.
Doch kam dieser Effekt erst nach dem Militärputsch von 1980 wirklich zum Tragen, nachdem nämlich das neue Regime mit Waffengewalt für eine tabula rasa in der politischen Landschaft gesorgt hatte. In dieser Situation der Friedhofsruhe gelang es der PKK als einziger Organisation aus der Vielzahl von Konkurrentinnen erneut militante Anschläge in Türkisch-Kurdistan zu inszenieren – und dies trotz der schier erdrückenden Allmacht von Armee und Sicherheitspolizei.[43] Die Partei nahm dafür den sicheren Tod von Hunderten von Anhängern in Kauf und entging Ende 1985 nur knapp der völligen Zerschlagung durch Ausblutung der Reihen ihrer KämpferInnen.[44] Doch die riskante „David vs. Goliath“-Kalkulation ging auf. Denn der Anstieg des Prestiges der Rebellen ging einher mit einer immer wahlloseren Repression des Staates gegen die Bevölkerung, was letztlich zu der skizzierten Situation führte.[45]
Wenn man also davon spricht, daß die Durchsetzung eines nationalen Welterklärungsmodells ursächlich zu tun hat mit dem Aufbrechen traditionaler Lebensformen durch eine fortschreitende Modernisierung aller Ebenen der gesellschaftlichen Beziehungen, so trifft dies im Fall der kurdischen Nationalbewegung weitaus mehr auf ihre Kader als auf die Masse der Bevölkerung zu. Denn die große Akzeptanz breiter Bevölkerungsschichten für eine kurdisch-nationale Weltsicht, die in den geschilderten Massenprotesten gegen den türkischen Staatsterror unzweifelhaft zum Ausdruck kam, geht kaum auf einen neuerlichen Modernisierungsschub zurück. Vielmehr hat man es hier mit einer fort- schreitenden Zerstörung jeglicher Lebensperspektive durch staatliche Willkür zu tun. Darüber hinaus wurde die Akzeptanz für dieses bestimmte, nämlich kurdisch-nationale Lösungsmodell – „Wir wollen unseren eigenen kurdischen Staat“ – den Menschen vielfach durch vormoderne Mechanismen nahegebracht. Zu diesen gehört u.a. auch der exzessive Kult um die Person Abdullah Öcalans, der im Volksmund allgemein nur „Onkel“ oder „Führer“ genannt wird.[46] Insofern besteht also weiterhin eine sich nur allmählich schließende Kluft zwischen den nationalistischen Parteikadern und der von ihnen geführten ländlichen Bevölkerung.
Mit anderen Worten, die kurdische Nation befindet sich noch immer in der Phase ihrer Konstituierung, wenn auch dieser Prozeß bereits weit fortgeschritten ist, wie der Vergleich der Ereignisse von 1925 und 1990 gezeigt hat. Doch ist die Ursache dafür, daß die kurdische Nationalbewegung ihrem Endziel, der Gründung eines souveränen Staates „Kurdistan“, seit 1925 nicht viel näher gekommen ist, meiner Meinung nach nicht in diesem Unvollendet-Sein des Nationenbildungsprozesses zu suchen. Denn schon das Scheitern des Sheikh Sait-Aufstands lag nicht im Mangel an nationalistischer Überzeugung unter der Masse der Kämpfer begründet, sondern im Ausbleiben eines ganz anderen Faktors, nämlich irgendeiner äußeren Unterstützung. Schließlich hat entgegen weitverbreiteten Wunschvorstellungen nicht eine einzige Nationalbewegung in den letzten zwei Jahrhunderten die Gründung ‚ihres‘ Wunschstaates allein aus eigener Kraft erreicht, sondern gaben bislang immer noch die strategischen Interessen der jeweiligen Großmächte und das Kräfteverhältnis unter ihnen den Ausschlag.
1925 hatte keine der damaligen Großmächte ein Interesse an einem selbständigen Staat in Kurdistan, weshalb alle Hilfegesuche der Verschwörer vor und während des Aufstandes abgewiesen wurden. Wie die Ereignisse der jüngsten Geschichte (Ausbleiben der Unterstützung für den Aufstand der Kurdistanfront im Irak im März 1990) gezeigt haben, hat sich an diesem prinzipiellen Desinteresse der Groß- und Regionalmächte seither wenig geändert.
Die gegenwärtige „Schwebesituation“ in Irakisch-Kurdistan, wo de facto ein kurdischer Staat unter Aufsicht der ehemaligen „Golfkriegs“-Allianz existiert, widerspricht diesen pessimistischen Überlegungen nicht. Denn tatsächlich hatte keine der beteiligten Mächte ein Interesse daran, daß die Dinge sich in diese Richtung entwickelten. Vielmehr ergab sich ungewollt als Resultat der widerstreitenden Machtinteressen, des Drucks der westlichen Medienöffentlichkeit angesichts der unerträglichen Bilder vom Flüchtlingselend sowie der selbsterzeugten Zwänge der US-amerikanischen Rolle als Weltpolizist eine Pattsitutation, in welcher die Beseitigung des mißliebigen Autonomiezustands in Irakisch-Kurdistan allseits mehr Probleme schaffen würde als die Auferrechterhaltung des Status quo. Solange also Saddam in Bagdad herrscht, wird die USA sich ihrer selbstauferlegten Verantwortung für die sog. „Schutzzone“ in Irakisch-Kurdistan bei allem Widerwillen nicht entziehen können. Grundsätzlich jedoch würde man in den politischen Zentralen sowohl im Westen als auch in der Region selbst diese „Anomie“ lieber heute als morgen beseitigen.[47]
In Türkisch-Kurdistan zeichnet sich derweil eine andere Entwicklung ab. Der PKK-Guerilla ist es zwar – trotz intensiver Bemühungen – nicht gelungen, effektiv „befreite Gebiete“ innerhalb des türkischen Staatsterritoriums zu errichten, dafür durchdringt die Macht der Partei allmählich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. So kann die PKK quasi-staatliche Hoheitsakte in Türkisch-Kurdistan vollziehen. Als sie beispielsweise anordnete, daß alle Fernsehantennen aus dem Straßenbild der kurdischen Städte zu verschwinden haben – um den Empfang des türkischen Staatsfernsehns zu unterbinden –, konnte dieser Anordnung weitgehend Geltung verschafft werden. Auch die kürzlich in Europa abgehaltene Wahl zu einem kurdischen Nationalparlament untermauert diesen quasi-staatlichen Status, den die Partei erreicht hat. Da jedoch gleichzeitig der Prozeß der Entvölkerung und Destruktion im Radius dieser feindlichen Doppelherrschaft von türkischer Staatsmacht und kurdisch-nationaler Gegenmacht unvermindert voranschreitet und nunmehr selbst größere Kreiszentren wie Cizre zu Geisterstädten werden, besteht die reale Gefahr, daß die kurdische Nationalbewegung in der Türkei nur noch in einem Totenhaus wird herrschen können, wenn es nicht zuvor zu einer Kompromißlösung aus wechselseitiger Erschöpfung beider Kriegsparteien kommt.
Als Fazit muß man also feststellen, daß, obwohl nach und nach eine starke Basis für eine nationale Weltsicht in der kurdischen Gesellschaft herangewachsen ist, die Chancen für die Realisierung eines Staates „Kurdistan“ in absehbarer Zukunft sehr schlecht stehen.
Dieser Text wurde veröffentlicht in:
Kurdistan-AG AStA-FU Berlin (Hg.)
Kurdologie. Studien zur Sprache, Geschichte, Gesellschaft und Politik Kurdistans und der Kurdinnen
und Kurden
Berlin 1994 S.83-99 (Bibliothek Feqîyê Teyran).
Anmerkungen: