Max sein SciFi-Blog
Persönliche Anmerkungen zu Science Fiction, so ungefähr
An dieser Stelle führe ich ein Logbuch über SF-Romane, die ich gelesen habe. Punkt. Mehr passiert hier nicht. Es kann auch vorkommen, dass ich retrospektiv früher einmal gelesene Bücher noch einmal hervorkrame. Aktualität ist kein Muss. Eines nur vorweg: Ich verabscheue Perry Rhodan! Auch wenn ich – getreu der Devise: „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ – zugeben muss, als 14-Jähriger weit über hundert Rhodan-Heftchen gelesen zu haben. Bis ich dahinter kam, was Faschismus ist.
Hinweis am Rande:
Anregendes aus dem Netz: Ein sehr sympathischer Blog fantastischeantike.de und ein ganz gradliniger SF-Podcast schriftsonar.de. Der eigentlich wunderbar wuseliger Blog krearchiv.de wird seit 2019 nicht mehr gepflegt.
Übersicht
Diese Besprechungen oder Anmerkungen haben sich bislang angesammelt. Man kann sie chronologisch
lesen oder mit Klick auf das entsprechende Cover direkt zum gewünschten Buch springen.
My Personal Hall of Fame
Klickt man auf die Hall of Fame, öffnet sich eine Vergrößerung, auf der man die Titel auch erkennen kann. Nur der tief geprägte Titel des Stephenson-Romans Amalthea bleibt unlesbar.
Meine Bewertungsskala
einfach nur gut
ausgezeichnete Lektüre
macht Spaß zu lesen
gut zu lesen
größtenteils gut zu lesen
kann man lesen
kann man lesen, wenn nichts anderes da ist
kann man zur Not lesen
muss man echt nicht lesen
unterirdisch
Der erste Satz (und der zweite)
„Luise saß auf dem Deck eines Katamarans und genoss einen vierzig Jahre alten Chardonnay zu ihrem Steak aus Kobe-Rind,
das sie in einer Pfütze aus Blut und Fett mit ihrem Messer zerteilte. Das Fleisch war wunderbar marmoriert, und jeder Bissen,
den sie sich andächtig in den Mund steckte, wurde von den erhabenen Blasgeräuschen der Wale begleitet, die sich im Wasser
um das Boot tummelten.“
2024-10-15
Am Ende des 21. Jahrhunderts ist die Erde durch die Klimakatastrophe weitgehend unbewohnbar geworden. Nur in den wenigen Technologie-Hochburgen
lässt sich das dank beliebig verfügbarer Energie einfach ignorieren. Die Menschen sind „augmentiert“, also durch Genmanipulation und Implantate
zu praktisch unsterblichen Superbrains mutiert. Da jedoch der Kapitalismus unverändert herrscht, kriegen nur die Produktiven diese Benefits, die
anderen kommen als „Überflussmenschen“ in Reservate und sterben ganz wie die First Nations vor ihnen allmählich aus. Alle Veränderung findet jedoch
nur im Technischen statt, die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern sich schlicht nicht. Die heterosexuelle Kernfamilie bleibt die Basis und
die Techno-Konzerne herrschen. Im Zentrum des Romans steht die Angst vor der Erschaffung einer allmächtigen, gottgleichen KI, die die Menschen
nur noch lästig und überflüssig findet. Dieses unerwünschte Auftreten einer KI-Gottheit wird mit dem titelgebenden, wenngleich sinnfreien
Begriff „Singularität“ belegt. Thematisiert wird aber auch die sehr gegenwärtige Angst, durch KI-Einsatz den Job zu verlieren. Hier wird das
jedoch nicht anhand von Busfahrerinnen erzählt, die von autonom fahrenden Bussen überflüssig gemacht werden, sondern in 80 Jahren trifft es
selbst die genetisch und elektronisch aufgerüsteten Superbrains in den avanciertesten Technikberufen, die durch immer bessere KIs abgeschafft
werden. So gesehen ist das finale Auftreten der KI-Gottheit einfach nur die Abschaffung sämtlicher Jobs – und da in der Welt dieses Autors
verhungern muss, wer nicht arbeitet, stirbt die Menschheit dann notwendig aus. Die Idee, dass stattdessen der Überlebenskampf ein Ende hätte
und ohne Lohnarbeit für alle gesorgt würde, verwirft Tree beiläufig: In der dahin dämmernden EU habe man es mit dem bedingungslosen Grundeinkommen
versucht und sich selbst damit zum Abstieg bis zum Zusammenbruch verurteilt. Es gibt drei separate Handlungsstränge, die scheinbar in einer Zeitebene,
aber unverbunden stattfinden. Ein Strang spielt in einer Simulation einer Koloniebildung auf dem Exoplaneten Proxima B, einer handelt von den
Heranwachsenden Adam und Utah in einem der letzten Reservate für genetisch unveränderte Menschen und der dritte spielt in der Hightech-Enklave
New York. Hier wird James, ein weiterer Überflüssiger, von den Augmentierten wie ein Haustier gehalten. Seine Emanzipation, die damit beginnt,
dass er mit der Suche nach der seit 20 Jahren verschollenen Luise beauftragt wird, bildet das Zentrum der Gesamtstory. In allen drei Stränge
zerbricht nach einer ruhigen Exposition der Alltag durch einen Gewalteinbruch, der für die jeweilige Held*innen zunächst unerklärlich bleibt.
Danach taumeln sie durch immer neue, schwierige Situationen. Besonders krass trifft es den 12-jährigen Adam, der sich nach der Vernichtung
seines Reservats gemeinsam mit seiner Freundin Utah in einer absolut lebensfeindlichen Welt durchschlagen muss. Das wird alles spannend erzählt
und phasenweise entwickelt sich der Roman zu einem echten Pageturner. Wenn nur nicht das Plotgerüst so viele logische Lücken hätte! Das
fängt schon mit dem rätselhaften Ausgang des Prologs an, bei dem eine Zentralfigur ermordet wird, die aber in der restlichen Geschichte höchst
lebendig ist. Auch warum Luise eigentlich verschwunden ist, wird nicht aufgeklärt. Stattdessen findet James sie einfach umstandslos, kaum dass
er zur Suche aufgebrochen ist. Und wer am Ende wem auf Proxima B ins Handwerk pfuscht – unklar. Was wirklich in Tiefe verhandelt wird, ist das
Problem der perfekten Simulation. Das ist zwar nicht originell – immerhin hat Fassbinder seinen bahnbrechenden Fernsehfilm „Welt am Draht“
schon 1973 gedreht –, aber gut gemacht. Zu seinem eigentlichen Thema, wie KI die Welt verändern wird, hat der Autor wenig mehr beizutragen
als Angst zu verbreiten.
Joshua Tree
Singularity
Frankfurt am Main 2021
größtenteils gut zu lesen.
© S. Fischer Verlag | Tor
Paperback (17 €)
455 Seiten
ISBN 978-3-596-70087-5
Der erste Satz (und der zweite)
„Wolken jagten im Südosten dahin wie fliehende Pferde. Der Taifun Saola braute sich zusammen.“
2024-10-13
Man merkt, dass der Roman im chinesischen Original schon 2013 erschienen ist – das heutige China hätte eine deutlich andere
Hintergrundfolie abgegeben. Erwähnt werden gerade noch die Wirtschaftsreformen der Ära Deng Xiaoping, aber mehr Bezugnahme auf
die politische Realität ist nicht. Das alte, vorkommunistische China jedoch und dessen immer noch wirksamen primordialen
Sozialformen sind Chen klar verhasst, daran lässt seine Figurenzeichnung keinen Zweifel. Tatsächlich kommt der Roman mit sechs
Handlungsträger*innen aus: der US-amerikanische Agent und sein Dolmetscher – sie stehen für den Westen und die verwestliche
chinesische Jugend. Der Clanchef und sein pathologischer Killer – sie repräsentieren das verkommene alte China. Und das „Müllmädchen“
(eine Wanderarbeiterin) und ihr Mentor, der als Hacker der Unterdrückten seine eigenen mörderischen Ziele verfolgt. Stilisch
changiert der Roman immer wieder zwischen extrem poetisch-blumige Passagen, eher plumper politischer Analyse und hochtechnischen
Detailschilderungen. Jedenfalls als Liebesroman ist das Buch ein Fehlgriff, obwohl die Story in weiten Teilen davon lebt, dass
zwei der Hauptfiguren – der Dolmetscher und das „Müllmädchen“ – sich trotz der gewaltigen Kluft, die sie hinsichtlich Klasse und
Sozialordnung trennt, in einander verlieben. Nur kommt diese Liebe nie über einen Kuss hinaus, für den Dolmetscher heißt es vor
allem, seine Geliebte immer wieder zu suchen, um sie vor Ungemach zu schützen. Dieser unglücklich Liebende ist als Grenzgänger
zwischen China und dem Westen (= USA) angelegt, aber noch wichtiger ist seine Grenzüberschreitung als gebürtiger Chinese
zwischen den Einheimischen und den Wanderarbeiter*innen. Denn Chen geht es um das himmelschreiende Unrecht, dem diese Ausgebeuteten
ausgesetzt sind. Sie müssen ungeschützt giftigen Müll sortieren und verarbeiten, sind ständig schädigenden Dämpfen ausgesetzt,
hausen im Müll, haben kaum zu essen. Werden sie aber krank oder verunglücken wegen der nicht vorhandenen Arbeitssicherheit, steht
sofort eine andere Wanderarbeiter*in bereit, um den elenden Job zu übernehmen. Das Übelste an dem ganzen System sind aber die
mafiösen Familienclans, die alle Jobs und Warenströme kontrollieren. Sie sind de facto auf Patronage und Vassalität gegründet,
also feudal, tarnen sich aber als Blutverwandtschaftsnetze. Nur die Wanderarbeiter*innen – hier verächtlich „Müllmenschen“
genannt – sind von der Patronage ausgeschlossen, sie müssen froh sein zu überleben. Damit nicht genug ist da auch noch die
weltumspannende Ausbeutung durch böse globale Konzerne, die krebsverursachende und umweltzerstörende Produktionsprozesse in
Länder auslagern, die ihre Arbeitskräfte gesetzlich kaum schützen. In diesem Fall schickt ein US-Großkonzern einen als Manager getarnten
Agenten nach China, um dort das Recycling giftigen Elektromülls unter Dach und Fach zu bringen. Irgendwann wird dieser dann als
hit man – also zum Töten ausgebildeter Geheimagent – enttarnt. Was die Frage aufwirft: Warum entsendet ein Konzern einen
als Manager getarnten Killer, um das zu besorgen, was ein Manager üblicherweise erledigt: Verträge abschließen, die gut für den
Konzern, aber nachteilig für die Vertragspartner sind? Letztlich dient dieser ganze Strang allein dazu, die Kollaboration der
ganz auf ihren Machterhalt bedachten einheimischen Eliten mit den Konzernen anzuprangern. Komischerweise tauchten Staatsfunktionäre
nur als Marionetten der Clanschefs auf. Ob es in diesem China der nahen Zukunft überhaupt noch eine allmächtige kommunistische
Partei gibt oder nicht, bleibt offen. Wenig überzeugend. Bleibt also nur der andere Erzählstrang, der Dolmetscher und seine Liebe
zu der Wanderarbeiterin. Bloß wird dieses „Müllmädchen“ von einem Virus aus einem Geheimprojekt des Konzerns verseucht, der aus
ihr wundersam eine KI macht. Zumindest ist all das, was sie nach ihrer Kontaminierung tut und die Kräfte, die ihr dann zuwachsen,
genau das, was sonst üblicherweise eine KI ausmacht: Sie kann alles Elektronische kontrollieren, kann Milliarden Informationen
gleichzeitig verarbeiten, ist emotionsbefreit und würde natürlich die Weltherrschaft übernehmen. Das ist zwar wirklich originell
– eine KI ohne Computer –, dreht aber den Fokus der Geschichte gegen Ende so weit weg vom Elend der Ausgebeuteten zu blanker
Action, dass der Roman sich irgendwo verliert.
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(2024-05-14 bis 2024-09-28)
Qiufan Chen
Die Silizium-Insel
München 2019 (2013)
kann man lesen.
© Heyne Verlag
Paperback (nur noch antiquarisch)
459 Seiten
ISBN 978-3-453-31922-6