Max sein SciFi-Blog
Persönliche Anmerkungen zu Science Fiction, so ungefähr
An dieser Stelle führe ich ein Logbuch über SF-Romane, die ich gelesen habe. Punkt. Mehr passiert hier nicht. Es kann auch vorkommen, dass ich retrospektiv früher einmal gelesene Bücher noch einmal hervorkrame. Aktualität ist kein Muss. Eines nur vorweg: Ich verabscheue Perry Rhodan! Auch wenn ich – getreu der Devise: „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ – zugeben muss, als 14-Jähriger weit über hundert Rhodan-Heftchen gelesen zu haben. Bis ich dahinter kam, was Faschismus ist.
Hinweis am Rande:
Anregendes aus dem Netz: Ein sehr sympathischer Blog fantastischeantike.de und ein ganz gradliniger SF-Podcast schriftsonar.de. Der eigentlich wunderbar wuseliger Blog krearchiv.de wird seit 2019 nicht mehr gepflegt.
Übersicht
Diese Besprechungen oder Anmerkungen haben sich bislang angesammelt. Man kann sie chronologisch
lesen oder mit Klick auf das entsprechende Cover direkt zum gewünschten Buch springen.
My Personal Hall of Fame
Klickt man auf die Hall of Fame, öffnet sich eine Vergrößerung, auf der man die Titel auch erkennen kann. Nur der tief geprägte Titel des Stephenson-Romans Amalthea bleibt unlesbar.
Meine Bewertungsskala
einfach nur gut
ausgezeichnete Lektüre
macht Spaß zu lesen
gut zu lesen
größtenteils gut zu lesen
kann man lesen
kann man lesen, wenn nichts anderes da ist
kann man zur Not lesen
muss man echt nicht lesen
unterirdisch
Der erste Satz (und der zweite)
„Das Leben ist voller Löcher. Selbst im besten Fall ist die Spanne der Jahre eines Menschen niemal ein vollkommener Teppich,
auf dem die Tage, Monate und Jahre klar und deutlich ausgebreitet und in allen Details makellos gewebt sind und wo jede
einzelne Farbe immer noch so hell ist, wie sie zu jener Zeit war, als der Faden in das Ganze eingefügt wurde.“
2024-06-28
Irgendwo habe ich hier notiert, dass manche Fantasy-Romane praktisch nicht von ScienceFiction zu unterscheiden sind.
Nach Lektüre dieses Werkes, das meine sehr geschätzte Stadtbibliothek per Aufkleber auf dem Buchrücken zu ScienceFiction
erklärt hat, muss ich allerdings ergänzen, dass die bloße Übernahme einiger SciFi-Plotelemente aus einer Fantasy-Geschichte
keine ScienceFiction machen. Die Ausgangslage der Geschichte ist eine Erde in weit entfernter Zukunft, die keine Eigenrotation
mehr hat und daher auf der einen Seite verbrennt und auf der anderen erfroren ist. Leben ist nur noch in dem schmalen Band
zwischen Glut- und Eishälfte möglich. Und es gibt einige Artefakte aus einer weit entfernten Hightech-Vergangenheit. Die
Erzählgegenwart ist eine Art Steampunk-Feudalismus, der offenbar auf eine sehr lange Interims-Steinzeit gefolgt ist. Grausame
Mönche monopolisieren das erst ganz allmählich wieder errungene wissenschaftliche Wissen und manipulieren nicht minder grausame
Aristokraten für ihre obskuren Zwecke. Ein einzelnes Leben hat jedenfalls kaum einen Wert. Das hätte ein brauchbares Szenario
für eine individuelle Emanzipationsgeschichte sein können, die vielleicht Auslöser zu einer Revolution geworden wäre. Stattdessen
bekommen wir die Geschichte eines magisches Heilands, der die Kräfte des Guten gegen das Böse anführt. Der Heiland kommt hier
zwar in Gestalt eines 15jährigen blinden Mädchens daher, aber das ändert nichts daran, dass nur die eine Auserwählte uns alle
vor dem Schmoren im ewigen Höllenfeuer retten kann. Soweit, so US-amerikanisch. Zur eindimensionalen Fantasy wird das Ganze
aber weniger dadurch, dass die Heldin in der größten Not magische Kräfte in sich entdeckt und die schlimmsten Monster (von denen
diese stillstehende Erde nur so wimmelt) einfach wegsingen kann, sondern dass die Charaktere nicht die geringsten Ambivalenzen
aufweisen – es gibt halt nur Gute und Böse. Und manche Böse müssen noch entdecken, dass sie eigentlich Gute sind (was dann mit
ziemlicher Sicherheit ihren baldigen Opfertod für die gute Sache nach sich zieht). Grauwerte zwischen Schwarz und Weiß kommen
im Fantasy-Modus einfach nicht vor. Da also kein Platz für das Ausloten charakterlicher Entwicklungen ist, muss umsomehr Action
die Leere füllen. Und dieser Roman wummert nur so vor Explosionen, Todesschreien und klirrenden Schwerterhieben. Das ist für
einige Zeit ganz unterhaltsam, wird auf Dauer aber ermüdend, wenn die Heldin und ihr Team aus Supportern und keuschen Verehrern
eben erst monströsen Säbelzahntigern entronnen sind und sogleich in einen Giftpfeilregen geraten, worauf ein Bombardement aus
Flugschiffen folgt. Und dann stürmt eine feindliche Kavallerie heran usw. usw. Dass das Buch nach nicht weniger als 842 Seiten
mit einem offenen Ende schließt, dem natürlich noch weitere Bände folgen werden, brauche ich kaum noch zu erwähnen. Anders geht
heute Romanschreiben nicht mehr.
James Rollins
Erddämmerung
München 2022
Kann man lesen, wenn nichts anderes da ist.
© Heyne Verlag
Paperback (18 €)
842 Seiten
ISBN 978-3-453-32127-4
Der erste Satz (und der zweite)
„Ich habe eine Geschichte zu erzählen. Sie hat viele Anfänge und vielleicht auch einen Schluss.“
2024-06-14
Nach Abschluss der Lektüre dieses Buches fehlte mir die Lust, eine Rezension zu schreiben. Mit bald einem Jahr Abstand
fällt das noch schwerer, insbesondere bei diesem Buch, das über viele hunderte Seiten dutzende Geschichten erzählt, die
nicht zwingend miteinander zu tun haben. Da wäre z.B. eine Randgeschichte über einen Mord, der Jahrzehnte und Lichtjahre
später gerächt wird. Abgesehen davon, dass deren drei Protagonistinnen auch in der Hauptaktion eine Rolle haben, trägt
der öde Racheplot nichts zum Verständnis des Ganzen bei. Sodann gibt es einen ultrabösartigen Diktator – und damit einem
auch nicht entgeht, wie abgrundtief böse er ist, trägt er den Namen Luseferius –, der das Heimat-Sonnensystem der Helden
erobern will. Und am Ende wird Luseferius auf ganzen zwei Seiten wie eine lästige Fliege weggewischt, weil die Dweller
schlechte Manieren bei einer Konferenz nicht mögen. Damit wären wir bei den Dwellern, einer Alienrasse, die schon seit
10 Milliarden Jahren das Weltall vom einen Ende bis zum anderen erforscht hat. Und der dabei so furchtbar langweilig
geworden ist, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt. Die Sache mit diesen Dwellern ist nämlich, dass sie
unsterblich sind (technisch gesehen ist eine individuelle Lebensspanne von 2 Milliarden Jahren zwar nicht richtig unsterblich,
aber ich akzeptiere das mal als eine ganz passable Annäherung). Wenn man einmal die ganzen Unmöglichkeiten außer Acht lässt,
die mit der Unsterblichkeit einer ganzen Population entstehen (wo sollen die Wesen der Gegenwart eigentlich Platz finden,
wenn überall die Gestalten aus den letzten Milliarden Jahren rumlungern?), dann bleibt immer noch die Frage, wie man sich
eine Persönlichkeit vorstellen soll, die bereits 2 Milliarden Jahre lebt? Als Ursula LeGuin die Ökumene entwarf, hatte sie
schon Probleme sich eine Zivilisation vorzustellen, die mehr als eine Million Jahre existiert und einfach schon alles
ausprobiert hat. Wie soll das mit Faktor 1000 und einem Einzelwesen funktionieren? Und dann herrscht auch noch Überfluss,
der Existenzkampf ist für die Dweller lange vorbei. Denn sie können alles, wissen alles und brauchen nichts. Da jedes
erwachsene Dweller-Individuum über so viel Ressourcen verfügen kann, wie er/sie/es möchte, leben sie recht eigentlich
im Kommunismus. Von Marx‘ Utopie bleibt allerdings in Banks Version ein ganzer Gasplanet voller gelangweilter Aristokraten,
denen das Leben eine Art Themenparty ist. Und dann haben sie die Langsamzeit erfunden, um den Pöbel, der sonst noch das
Weltall bevölkert (ganz besonders die Menschen), auf Abstand zu halten. Wozu diese Langsamzeit sonst noch gut sein könnte
- außer vielleicht die Zeit bis zum Tod etwas zu verkürzen und sich so weniger langweilen zu müssen - bleibt offen. Die
Menschen entwickeln extra Spezialisten, die Seher, die diese Zeitverlangsamung beherrschen, um mehr über die rätselhaften
Dweller herauszufinden. Und solch ein Spezialist ist der Held des Romans. Er wird schön umständlich auf eine geheime Mission
zu den Dwellern geschickt, was ungefähr ein Drittel des Buches ausmacht. Im Rest des Buches spielt die Langsamzeit nicht
die geringste Rolle mehr, da können sogar stumpfe Sturmtruppen in direkte Interaktion mit den Dwellern gehen. Tatsächlich
hat Banks eine beeindruckende Fantasie, aber nicht die Geduld, um aus der Überfülle von Ideen eine konsistente Geschichte
zu weben. Und bei all seiner Fantasie klebt er an Schablonen. Die Dweller sind für ihn alle „männlich“, nur wenn sie alle
Jahrmillionen mal ein Kind gebären wollen, werden sie für die Dauer der Schwangerschaft „weiblich“. Das sind gleich zwei
Denkfehler auf einmal: Wenn alle Exemplare einer Spezies männlich sind, dann ist die Kategorie „männlich“ sinnlos, weil
diese Wesen eben nicht zweigeschlechtlich sind. Und wenn jedes Exemplar dieser Spezies das Gebären beherrscht, dann ist
die Schwangerschaft kein Geschlechtswechsel, sondern bloß eine weiter Expression ihrer Eingeschlechtlichkeit. Aber dass
„Männer“ Kinder kriegen, ist für diesen Autor nicht denkbar. Auch nach dem nunmehr dritten Buch von Iain Banks verstehe
ich nicht, warum dieser Autor so gefeiert wird. Die ausgeklügelten Sadismen, die zur Ausschmückung des Superschurkenbösen
aneinander gereiht werden, ändern nichts daran, dass dieser Luseferius eine Karikatur bleibt. Auch das Plotgerüst reicht
für nicht viel mehr als eine simple Quest: Der Held, der Seher Taak, muss den Dwellern eine sagenhafte Liste entlocken,
die den Weg zu einem geheimen Netzwerk von Wurmlöchern weist, von dem sich manche die Herrschaft über das Universum
versprechen. Und so hetzt er von Hinweis zu Hinweis, während so ziemlich alle Mächte des Universums ihn hetzen, und
trifft auf immer abstrusere Aliens, bis er sich am Ende einmal vollständig im Kreis gedreht hat. Unterwegs verliert er
seine Gefährtin, sein ganzer Seherclan wird ausgelöscht, aber der Held bleibt unberührt, er entwickelt sich nicht, er
hastet einfach nur von Szene zu Szene. Wenigstens die Story seiner heimlichen Geliebten, die ihn nur benutzt um irgendeine
Revolte voranzubringen, hätte etwas emotionale Tiefe hinzufügen können, verläppert aber im Ungefähren. Und dass Taak am
Ende dem Zorn der gottgleichen Dweller nach seiner Enthüllung ihres bestgehüteten Geheimnis mit einem derart simplen
Trick entkommen kann, beleidigt die Intelligenz der Leser*in.
Iain Banks
Der Algebraist
München 2009
Kann man lesen
© Heyne Verlag
Paperback nur noch antiquarisch, lieferbar als eBook (8,99 €)
798 Seiten
ISBN 978-3-453-52537-5 (original Paperback)
Der erste Satz (und der zweite)
„Dahlia ruht sich während der planmäßigen Pause auf dem Bett aus und sucht ihre Haare nach Spliss ab. Sie entdeckt ein beschädigtes
Haar, schürzt konzentriert die Lippen und reißt es entzwei.“
2024-06-04
Vor dem Hintergrund einer alles lähmenden Seuche – originelle Idee im Jahr 2020 (als das US-Original erschien) – entfaltet die Autorin
eine Szenario, wie es ist, wenn man nach dem Tod weiterleben kann als Erinnerungsspeicher in einem künstlichen Körper. Das Buch macht
die Setzung, dass ein Bewußtsein schlicht an den Erinnerungen dranklebt, und hält sich nicht mit technischen Details auf, nur ganz
selten wird mal erwähnt, dass so ein Companion Strom für die Akkus braucht. Companions heißen diese mit Erinnerungen versehenen Maschinen,
weil sie den zwangsweise in Qurantäne isolierten Menschen – siehe Stichwort: „Seuche, tödliche“ – Gesellschaft spenden. Eine ziemlich
unwahrscheinliche Nutzung von verewigtem Bewußtseinen, sie zu künstlichen Ammen zu machen. Allzuviel macht die Autorin auch nicht aus
dieser Bestimmung, nachdem die erste Companion erzählerisch eingeführt ist, macht sie sich auch schon selbstständig und bewegt sich
von da ab in der Illegalität. Tja, und dann verliert der Roman irgendwie das Interesse an ihr, führt andere Charaktere ein, die auf
die eine oder andere Weise als Kunstmenschen (Companions) enden, wie den Filmstar, der erst noch herausfinden muss, dass er von seinem
Filmstudio zu seinem eignen Double umgeformt wurde. Oder die Forscherin, die ihre eigene Kopie in einen Companion gesteckt hat.
Es gibt auch eine Liebesgeschichte, die aber wohl Anspruch auf den Titel „nebensächlichste Lovestory ever told“ erheben kann.
Irgendwann verliert man komplett den Plan, wovon der Roman eigentlich handelt und von welcher Menschmaschine gerade die Rede ist.
Außerdem entwickelt sich in der geschilderten Welt so ziemlich gar nichts, obwohl die Geschichte viele Jahrzehnte umspannen soll.
Die Menschen in der Geschichte altern, aber die Geselllschaft bleibt unbewegt. Es wird angedeutet, dass viele Menschen an der Seuche
sterben und dass das vielleicht die Überausbeutung des Planeten gestoppt hat – aber wen interessiert‘s? Die Autorin jedenfalls nicht.
Es werden Städte und Inseln überschwemmt oder auch nicht. Anfangs sind überall am Himmel Überwachungsdrohnen, erstaunlicherweise über
all die Jahrzehnte immer dasselbe Drohnenmodell I8. Mal scheinen sie einem totalitären Staats zu dienen, mal sind sie mehr Medienpaparazzi.
Aber all das führt nirgens hin. Die Gesellschaft dahinter bleibt unfassbar, nicht einmal eine Skizze. Es ist alles wie heute, Kapitalismus,
viel Armut und Vernachlässigung. Vielleicht ist Vernachlässigung das eigentliche Thema. Die Geschlechterbeziehungen sind uninteressant,
der Filmstar und die zuerst eingeführte Companion sind vermutlich irgendwann ein Paar, tauschen mal die Körper, aber mehr als ein Satz
„wir probieren mal eine neue Konfiguration“ ist das nicht wert. Am Ende weiß ich nicht recht, was ich mit diesem Roman anfangen soll.
Dass es sich um das Erstlingswerk einer Autorin handelt, die bis dato vor allem Kurzgeschichten verfasst hat, habe ich hinterher
gelesen. Das könnte erklären, warum einzelne Abschnitte mich wirklich ansprachen und ich gespannt gelesen habe, aber einfach kein
Roman entstand.
Katie M. Flynn
Companions.
Der letzte Morgen
München 2021
Kann man lesen
© Heyne Verlag
Paperback (15 €)
347 Seiten
ISBN 978-3-453-32067-3
Der erste Satz (und der zweite)
„Hey Hoper! Ich bring dich mal auf den neuesten Stand, nicht, dass du Wasteland vor lauter Bäumen nicht siehst.“
2024-05-14
Wenn man in letzter Sekunde vor dem Urlaub vom Grabbeltisch in der Stadtbibliothek eben noch einen Science Fiction Roman
greift (kenntlich an der leuchtend gelben Buchrückenmarkierung „Science Fiction“), kann es passieren, dass man einen zweiten
Band aus einer Romanserie erwischt, ohne es zu merken. Beziehungsweise man merkt es dann auf den ersten Seiten des Buches,
die mich die ganze Zeit so merkwürdig an das „was bisher geschah“-Intro in TV-Serien erinnerte. Bis ich verstanden habe, dass
die Kapitelüberschrift „Was in Wasteland geschah“ sich auf den Inhalt des ersten Bandes der Reihe namens Wasteland
bezieht. Hätte ich wohl zuerst lesen sollen. Habe ich aber nicht. Das Autorinnen-Duo hat sich zwar alle Mühe gegeben, auch
Neueinsteiger*innen wie mich mitzunehmen, aber einige Setzungen für den vorgegebenen Weltentwurf kapiert man erst so nach und nach.
Die Grundstruktur ist schlicht eine Quest in einer postapokalyptischen Katastrophenwelt: das Held*innen-Paar bricht samt Baby
auf, das Heilmittel gegen die tödlichen Seuche zu finden, überwindet unüberwindbare Hindernisse, erklärt die Vorzüge einer
positiven Weltsicht und retten die Welt. Die längste Strecke des Romans erinnert ziemlich an Beyond Thunderdome aus der Mad
Max-Trilogie mit einer menschenverachtenden Königin, die alle und alles dominiert. Nur wird hier der Sprit für die Maschinen
nicht aus Schweinescheiße, sondern aus Plastikmüll destilliert. Diese Königin stellt allerdings das konstituierende gesellschaftliche
Prinzip des Jahres 2064 infrage: die ewig fragile Balance von Sesshaften und Nomaden. Sie will dieses System durch eine reine
Sklavenwirtschaft ersetzen, die allerdings offenkundig nach dem Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ organisiert ist, da hier ein
faschistisches Neuer-Mensch-Projekt das eigentliche Ziel ist. Interessant ist, um auch mal was Gutes zu erwähnen, die Erweiterung
des Pärchens zu einem polyamourösen Trio, indem noch ein Transmann einsteigt, was zumindest dem Werwolfanteil in der weiblichen
Paarhälfte nicht auf Anhieb gefällt (ich vergaß zu erwähnen, dass es Werwölfe gibt, die natürlich viel stärker als Normalmenschen
sind und natürlich ist die Königin eine Werwölfin). Und, nunja, die neuste Mode des Jahres 2022, jede schriftliche Nachricht
mit einer Gebrauchtsanweisung zum Personalpronomen zu versehen, das bei einer Antwort zu benutzen ist, gilt offenbar auch im Jahr 2064.
Judith Vogt,
Christian Vogt
Laylayland
München 2022
Kann man lesen
© Plan9-Verlag
Paperback (18 €)
328 Seiten
ISBN 978-3-948700-77-5
Der erste Satz (und der zweite)
„Er öffnete die Augen. Das war der schlimmste Moment.“
2024-05-03
Spielt im Jahr 3486, die Menschheit besiedelt das All, ob ihre Raumschiffe allerdings mit mehr als Lichtgeschwindigkeit fliegen,
bleibt im Vagen – wie sovieles in diesem Roman. Klar ist nur, dass man menschliche Bewußtseine viel schneller übertragen kann,
als diese Raumschiffe fliegen können. Also haben die Schiffe „leere“ Klone an Bord, auf die am Zielort die Bewußtseine der Bordcrew
übertragen wird – und schon hat man in einigen Stunden 50 Lichtjahre überwunden. Lässt man allerdings Computer Jahrzehnte unbeaufsichtigt
durchs All fliegen, kann schon mal was schief gehen. Und genau so eine Konstellation bildet die Ausgangslage für den Roman.
20 von 25 Klonen an Bord sind tot und dem Rest geht es auch nicht so richtig gut, weil das Schiff ein Schrotthaufen ist. Dass hier
Sabotage am Werk war, ist bald klar und mit diesem Whodunit-Plot läuft sich die Geschichte warm. Durch kleine Zwischenkapitel wird
zusätzlich rasch enthüllt, dass es einen Doppelagenten in den eigenen Reihen gibt. Und dann kommen noch fiese Aliens, die nichts
lieber tun als Menschen massakrieren und mit den verfügbaren Waffen eigentlich nicht aufzuhalten sind. Doch der eigentlich Plot-Clou
kommt dann erst in der Mitte des Romans – ich verrate nur, dass es um Iteration geht. Keine ganz neue Idee und ich habe sie auch schon
rund ein Dutzend mal im Kino gesehen, aber hier kommt die Wendung doch ziemlich unerwartet und das ist ja schon mal was. Spannung
kann der Autor, nur leider kann er nicht flüssig erzählen. Seine Figuren sind Abziehbilder, seine Gender-Stereotype (Frauen hauchen,
Männer schlagen mit Fäusten auf Tische) grottig. Obendrein endet jedes der 76 kurzen Kapitel mit einem Cliffhanger dieser Art:
„Seine Finger kribbelten bei dem Gedanken, dieses uralte Schiff zu betreten. Was würde sie erwarten?“ und dann muss man umblättern,
um zu erfahren, was die Crew in dem „uralten Schiff“ vorfindet. 76 Cliffhanger – die stete Wiederholung macht diesen „Kniff“ nicht
gerade besser. Und über die Abschlusskapitel, die jeder Hauptperson ein kitschiges Happy End bescheren (der Superschurke wird
natürlich bestraft!), breiten wir den barmherzigen Mantel des Schweigens. Gesellschaftsentwurf: nicht erkennbar.
Geschlechterverhältnisse: wie immer. Der einzige Aspekt, der irgendwie etwas tiefer ausgearbeitet wird, ist die Klon-Thematik,
aber auch das geht definitiv besser. Der Fairness halber gestehe ich zu, dass mich diese Online-Ausleihe aus der Stadtbibliothek
auf dem E-Bookreader ganz gut durch 5,5 Stunden ICE-Fahrt von München nach Hannover gebracht hat, da sollte man nicht zuviel
meckern.
Andreas Suchanek
Interspace One
München 2022
Kann man lesen, wenn nichts anderes da ist.
© Piper Verlag
Paperback (15 €)
384 Seiten
ISBN 978-3-492-70634-6
Der erste Satz (und der zweite)
„»Fliegt mich zur Erde«, keuchte Lucas Cortas. Besatzungsmitglieder schnallten ihn von der Mondloop-Gondel ab und
schleppten ihn – hypoxisch, hyperthermisch und dehydriert, wie er war – in die Schleuse.“
2024-04-31
Der Kampf der Fünf Drachen (=Clans oder Firmen) geht in die 2. Runde und es wird ein Gemetzel. Bis Seite 50 sind schon
Hunderte gestorben. Nach den Cortas geht es den MacKenzies an den Kragen. Aber irgendwie lässt das einen kalt. Viel zuviele
Namen prasseln auf einen ein. Der Autor unterstellt, dass man sofort nach der letzten Seite von Band 1 zu Band 2 gegriffen
hat und noch jeden Nebenzweig jeder der fünf „Drachen“-Dynastien parat hat. Ich hatte es nicht und auch keine Lust ständig
nach hinten ins Glossar zu blättern – das man leider ununterbrochen braucht, weil im Roman Worte wie Junshi oder Keji-Oko
oder Laoda ständig ohne Erklärung verwendet werden. Grundsätzlich finde ich diesen Immersionsstil ja viel besser als stetige
Erkläreinschübe, die den Flow der Geschichte ruinieren. Aber wenn der Text nur noch mit dem Fremdwörterbuch in der anderen Hand
zu lesen ist, macht‘s keinen Spaß mehr, zumal der Mehrwert für die Story für mich nicht zu erkennen ist. Aber was mich am meisten
genervt hat – ich gebe gern zu, dass mich hier weit von jeder Objektivität entferne –, ist dass ich bis Seite 141 warten musste,
bis meine Lieblingsfigur aus Band 1 oder besser gesagt, mein Lieblingspaar: Ariel und ihre Leibwächterin Marina wieder auftauchte.
Die beiden sind ein Liebespaar, das die Phase der innigen Körperlichkeit einfach übersprungen hat und sich gleich unentwegt anätzt.
Leider spielt Ariel kaum eine nenneswerte Rolle in diesem Band, sie darf rumfluchen, saufen und ausführlich arrogant sein, aber
die Hebel der Macht legen in diesem Band ganz klar die großen Männer um. Selbst die bösartige und oberfiese Chefintrigantin
Lady Sun unternimmt in diesem Buch keinen erkennbaren Schritt, während Lucas Cortas oder Duncan und Bryce MacKenzie wie wild
rumagieren. Was ich in Band 1 so bewundert hatte, dass nämlich die Geschlechterbeziehungen
wirklich vollkommen fluide geworden sind, davon ist hier in Band 2 wenig zu erkennen. Allenfalls dass homoerotische Beziehungen
komplett normal und easy going sind, spielt dieses Mal noch eine Rolle. Ansonsten geben sich fortwährend Frauen für geliebte
Männer auf und sinnen deren Taten auf der Welt (egal ob Erde oder Mond) nach. Kurz: der gute Weltenentwurf verhindert nicht,
dass Gender-Stereotype sich hartnäckig durchsetzen. Der Roman hat zum Glück auch starke Seiten – z.B. wie ein Raumflug zur
Erde mit einem Abriss über die Entwicklung des Jazz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschränkt wird, das habe
ich so noch nie gelesen. Oder wie die finale Invasion, der kosmische Krieg einfach rasch entschieden und beendet wird,
kaum dass er gestartet ist. Keine Heldenaktion reißt alles in letzter Sekunde herum, kein genialer Einfall rettet die
verzweifelte Schar der Aufrechten. Der größte Kämpfertrupp, den zwei Firmen-Clans zusammen aufstellen können, wird mit
einem ballistischen Beschuss aus der Umlaufbahn zerschmettert – und das wird nicht einmal drastisch inszeniert, sondern
einer der Helden wundert sich kurz vor Ende des Buches nur über einen frischen 200 Meter breiten Krater auf der
Mondoberfläche, wo zuvor kein Krater war. Das Ende des Krieges ist natürlich nur die Ausgangslage für Band 3. Aber den
werde ich vermutlich nicht mehr lesen, dafür zeigte der Autor einfach zuwenig Interesse an der Entwicklung der Personen.
Ian McDonald
Luna. Wolfsmond
München 2021
größtenteils gut zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (15 €)
496 Seiten
ISBN 978-3-453-31796-3
Der erste Satz (und der zweite)
„Die Laufräder dicht unter die Rümpfe gezogen und die Flügel ausgebreitet, zogen sie in enger Formation nach Norden.
Die Sonne glänzte auf den Metallkörpern und zeichnete ihre verschmolzenen dahin rasenden Schatten auf die Höhenzüge
und Hügelkämme der offenen Wüste.“
2023-07-31
Biologische Kinder, die von einer KI erzogen werden, das ist irgendwie ein großes Thema in Film, TV-Serie und nun auch
im Roman. Die Storyline ist schnell erzählt: Das Militär hat‘s versaut, das Militär haut es aber wieder raus – leider
zu spät. Konkret verseucht die Armee (natürlich die US-Army) ein Stück Afghanistan, wo aus US-Sicht wohl schon immer
das Böse wohnte, mit künstlicher Lungenpest und diese Krankheit macht sich ungeplant selbstständig. Da aber anfangs „nur“
entbehrliche Orientalen daran sterben, behält die Armee die Sache für sich und forscht streng geheim an einem Gegenmittel.
Begründet wird das intern damit, dass eine Massenpanik vermieden werden soll – praktisch jedoch bedeutet es, dass zu wenig
Forschung parallel stattfinden kann und das Gegenmittel erst fertig wird, als bereits die ganze Menschheit im Sterben liegt.
Diese absurde Militärlogik wird im ganzen Roman nicht einmal infrage gestellt. Zwar gibt es einen Nebenerzählstrang, der
von den Resten der Hopi-Urbevölkerung in den USA handelt, die nämlich gegen die künstliche Seuche resistent sind und durch
ihr Wissen um das Überleben in der Wüste gut für das post-zivilisatorische Leben gerüstet sind. Aber selbst aus dieser
Gegenlogik erwächst nie ein Widerspruch. Die eigentliche Geschichte sind dann aber die künstlichen Mütter, die gentechnisch
veränderte Embryonen austragen, die die Seuche überleben können. Während also alle sterben – bis auf die genetisch reinen
Hopi –, verstecken sich die mechanischen Mütter in der Wüste und ziehen dort die Saat für eine neue Menschheit groß. Da
entwickelt der Roman seine Stärken, denn Mutter-Robot und biologisches Kind sind telepathisch verbunden. Wie das technisch
funktionieren soll – egal, das ist die Prämisse und teilweise ist es interessant, was die Autorin daraus macht. Als Soziologe
frage ich mich allerdings, wie eine Pubertät funktionieren soll, wenn Mutter all deine innersten Rührungen kennt und kommentiert.
Aber bevor diese neuen Formen menschlichen Werdens ernsthaft ausgelotet werden können, kippt die Story im letzten Drittel
unverhofft in banale Action- und Abenteuerbahnen. Diese Wendung kommt ohne Notwendigkeit und insbesondere das schmalzig
pathetische Finale hat der durchweg gut geschriebene Roman nicht verdient. (Über die stereotype Darstellung von Männlichkeit
und Weiblichkeit breite ich den barmherzigen Mantel des Schweigens.) Am Ende geht es nur noch um ein bedrohliches technisches
Problem, das durch Heldenaction prima gelöst wird. Ich hätte stattdessen gern gewusst, wie die Hopi-Überlebenden und diese
Neo-Menschen, die mental mit KI-Maschinen verschmolzen sind, miteinander zurechtkommen. Da wäre es wirklich spannend geworden.
Auch wenn ich nun viel an diesem Roman rumkritisiert habe, er bleibt eines der besseren Bücher der letzten Zeit, das allerdings
sein Potenzial letztlich nicht ausschöpft.
Carole Stivers
Der Mutter Code
München 2021
größtenteils gut zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (15 €)
410 Seiten
ISBN 978-3-453-32073-04
Der erste Satz (und der zweite)
„Vom Nachbarplaneten Mars lieferten unbemannte Sonden präzise Information. Auch mysteriöse.“
2023-07-31
Das erste Wort, was mir zu diesem Roman einfällt, ist: ambitiös. Was ja nur eine Variation von „überambitioniert“ ist.
Dieses Buch will große Literatur sein, auf keinen Fall trivial. Tatsächlich ist die Geschichte schlicht: Die ersten Astronauten
auf dem Mars finden praktisch am ersten Tag ihrer Landung Spuren einer uralten marsianischen Zivilisation und am Tag 2 gleich
eine ganze Stadt tief in den Untergrund gegraben. Diese Funde sollen 2 Milliarden Jahre alt sein, sind aber materiell noch so
gut erhalten, dass Wandbilder entdeckt und entschlüsselt werden können. Ja, die vier Astronauten schaffen es sogar im Alleingang
die Schriftsprache der Marsianer zu entziffern. All dies ist super wahrscheinlich und erinnert so gar nicht an schlechte SciFi-Filme.
Das dürre Plot-Gerüst verschwindet allerdings fast vollständig hinter einem raunenden Erzählduktus, der vor allem vom Stilwillen
des Autors kündet. Das liest sich dann so: „In der Stille das scheinbar Schreiende. Das überfüllte Resthaus. Voller Warnungen oder
Hohn. Totenstille Schlusswelt, aber voller Alarmtumult.“ Wer hier sprich, ist einer der vier Astronauten, soeben einer Zwangsisolation
entflohen, mit der die NASA, der CIA und das ganze korrupte US-System die Botschaft zu unterdrücken versuchten, die die vier vom Mars
mitgebracht haben. Die Botschaft lautet: Haltet ein mit dem Wahn, stoppt die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, stoppt alle
Kriege, rettet das Weltklima, hört auf zerstörerisch zu sein, sonst geht ihr zugrunde wie die Marszivilisation vor 2 Milliarden Jahren.
Es genügt Lodemann nicht, wie Stanley Kim Robinson flammende Appellgeschichten zur Rettung der Welt vor dem Klimatod zu schreiben.
Nein, er muss gleich alles Ungerechte, Böse, Schlimme, Grausame, was die Menschen je getan haben, anprangern. Deshalb zitiert dieser
Astronaut Primor Levi, Georg Büchner und alle möglichen anderen Großdenker*innen, die schon vor ihm angeprangert haben. Auf mich wirkt das
wie eine Zurstellung von Belesenheit: Seht her, ich schreibe zwar ScienceFiction, aber ich kenne mich aus mit der ganzen hohen Literatur,
ja wohl! Angelegt ist das Buch als reiner Dialogtext, als Mitschnitt eines Interviews, in dem der Astronaut die ganze Story ihrer
Entdeckungen einem Journalisten ins Mikro erzählt, während sie mit dem Linienflug aus den USA nach Berlin fliehen. Aber die Sprache,
die ja Live-Sprache sein soll, ist die ganze Zeit gekünstelt, manieriert würde man sagen, wenn es ein Gemälde wäre. Es wird fortwährend eine
existenzielle Erschütterung beschworen, die sich allerdings in nichts spiegelt als in der Verdrehtheit der Sprache. Die oben zitierte
Textpassage gibt die Fahrt der Astronauten über das wüste tote Marsgelände wieder. Sie erleben nichts, außer dass dort eine Menge Schutt,
Staub und Verfall zu sehen ist. Daraus destilliert Lodemann ein „überfülltes Restehaus voller Warnungen“. Im Film würde man von
Text-Bild-Schere sprechen. Es wird fortlaufend deklamiert, was in einem Schlussmonolog mündet, der noch einmal beiläufig Heinrich Heine,
Goethe und Greta Thunberg zitiert. Realistisch bis in die letzte Zeile. Mich hat es die meiste Zeit genervt.
Jürgen Lodemann
Erde an Mars
Tübingen 2020
muss man echt nicht lesen
© Klöpfer, Narr Verlag
Hardcover (25 €)
258 Seiten
ISBN 978-3-7496-1022-8
Der erste Satz (und der zweite)
„Es wurde heisser. Frank May erhob sich von seiner Matte und tappte hinüber zum Fenster, um hinauszuschauen.“
2023-06-10
Mit diesem Buch habe ich mich schwergetan. Denn es könnte vielleicht wirklich etwas bewirken, weil es faktenbasiert
Hoffnung vermittelt, wie die Menschheit den Klimatod doch noch abwenden kann. Das macht es richtig gut. Und ich habe
jetzt sogar wirklich verstanden, was ein Diskontsatz ist. Aber einfach als Roman, als Lesestoff hakt es. „So fühlt man
Absicht und man ist verstimmt.“ Man merkt überdeutlich, dass Robinson einem etwas beibringen will, einem sogar ganz
dringend etwas beibringen will. Vielleicht bin ich da etwas überempfindlich, weil ich in einer Lehrerfamilie großgeworden
bin. Aber ein didaktischer Text ist eher selten tolle Literatur. In diesem Fall überwiegt zum Glück meist das Erzählerische
gegenüber dem Pädagogischen, doch bleibt das Lesevergnügen etwas getrübt. Das Buch setzt in der nächsten Zukunft ein
und zwar mit einem heftigen Hieb in die Magengrube der Leser*in: Gemeinsam mit dem NGO-Helfer Frank May erlebt man,
nein, erleidet man ein gewaltiges Massensterben aufgrund einer nicht enden wollenden Hitzewelle in Indien. Frank will
helfen, ist aber selbst hilflos und sieht sie alle, alle sterben. Er selbst überlebt mit allerletzter Not – vermutlich
weil er heimlich Wasservorräte für sich selbst zurückhielt –, ist innerlich jedoch zusammen mit den 20 Millionen anderen
Hitzetoten gestorben. Für ihn gibt es keine Rückkehr ins „normale“ Leben und der Roman begleitet ihn auf seinem Weg in
die Radikalisierung als Klimaaktivist, der schließlich auch zu Gewaltmitteln greift. Ihm gegenüber steht Mary Murphy,
die Ministerin des von der UNO als Reaktion auf das Massensterben in Indien neu geschaffenen Ministeriums für die Zukunft.
Gedacht als eine advocacy-Einrichtung, die die Interessen der zukünftigen Menschen heute geltend macht, wird
das Ministerium praktisch zum think tank für globale Veränderung. Robinson spielt die verschiedensten Ansätze
durch: Rettung durch Technik, Rettung durch Realpolitik, Rettung durch Zerschlagung des Kapitalismus, Rettung durch
Digitalisierung (block chain!) und Steuergesetze, Rettung durch Konsumverzicht usw. Und er zeigt, wie die
Widerstände aussehen werden. Und auch wo völlig neue Kräfte ins Spiel kommen können. Ich will nicht zuviel spoilern,
aber das Auftreten der Sons of Kali – praktisch eine Klimaschutz-RAF – ist ein sehr plausible Entwicklung. Das Schöne
an diesem Roman ist, dass er ausschließlich auf Fakten gründet. Das, was Robinson schreibt, kann wirklich so gemacht
macht werden. Und es werden keine Lichtgestalten sein, die uns retten. Auch Mary Murphy macht sich die Hände schmutzig.
Und wenn es am Ende eine Art Happyend gibt, dann nicht weil Mary und Frank ein glückliches Paar werden. Ihre absolut
unterschiedlichen Welten berühren sich tatsächlich, aber dies ist erfreulicherweise kein Hollywood-Film. Es sprengt sich
auch kein Bruce Willis mit einer Atomsprengkopf in den pathetischen Opfertod, um uns alle zu retten. Robinson gelingt
es vielmehr tatsächlich, sehr viel von der realen Komplexität gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und brutaler
Machtkämpfe in Szene zu setzten, das zeichnete schon seine vor Jahrzehnten geschriebene Mars-Trilogie aus. Und doch
konnte mich das Buch nur phasenweise packen. So fehlte diesem Roman am Ende einiges, was aus einem überzeugenden und
wichtigen Buch ein wirklich gutes Buch gemacht hätte.
Stanley Kim Robinson
Ministerium für die Zukunft
München 2020
größtenteils gut zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (17 €)
716 Seiten
ISBN 973-3-453-32170-0
Der erste Satz (und ausnahmsweise
auch der dritte)
„Zu denken, jedoch nicht Sprache. Nicht Sprache zu denken. Wir zu denken, ohne einen Zungenlaut oder
Ruf für seine kristalline Tiefe zu haben.“
2023-05-27
Man sollte es nicht glauben: Hier ist ein Band 2, der wirklich besser ist als der schon ziemlich lesenswerte
Band 1! Das ist eine absolut bemerkenswerte Leistung, allein dafür hat Martine sich vier Sterne verdient. Dabei
führt sie die Handlung von Im Herzen des Imperiums eigentlich nur linear weiter,
auch wenn sie zwei frühere Nebenfiguren – die Flottenkommandantin Acht Hibiskus und den kindlichen imperialen
Erben Acht Gegengift – zu neuen Hauptfiguren entfaltet. So dauert es geschlagene 164 Seiten, bis Mahit und ihre
geliebte Drei Seegras sich endlich wiederbegegnen und ihren diffizilen Tanz miteinander erneut aufnehmen
können, aber während dieser langen Exposition kann die Autorin die Konfrontation des Imperiums mit einer
unbekannten Alien-Zivilisation hinlänglich entfalten. Einer Zivilisation, die allem Anschein nach technologisch
überlegen, aggressiv und feindselig ist. Insbesondere wird aus der Perspektive von Acht Hibiskus die Erschütterung
geschildert, die der siegesgewohnte Apparat erfährt, angesichts seiner Unfähigkeit diesen Feind auch nur in
Ansätzen zu verstehen. Ausgerechnet Drei Seegras hat sich das Mandat ergaunert, diese Mauer des Nicht-Verstehens
zu durchbrechen, und schleift zur ihrer Unterstützung Mahit mit an die Front. Nicht der plausibelste Plot-Move,
aber wenn‘s denn nötig war, um das Funkensprühen zwischen den beiden total verschiedenen Liebenden zu reanimieren,
ist‘s mir recht. Und es bleibt noch genügend Zeit, um die spannenden Verstrickungen der Menage-à-trois in Mahits
Bewußtsein (Imago1, Imago2 und sie selbst) auszumalen. Manchmal stört es allerdings doch, dass Martine den
technischen Aspekten kaum Beachtung schenkt. So wird in dem Roman behauptet, es seien keine künstlichen
Persönlichkeiten, die dort im Hinterkopf der Trägerin ein Eigenleben hätten, sondern nur abrufbare Erinnerungen.
Sie sollen nicht „wirklich“ leben, aber faktisch lässt die Autorin sie handeln wie real lebendige Personen. Der
in ihrer Imago gespeicherte Vorgänger von Mahit übernimmt in verschiedenen Situationen die volle Kontrolle über
Mahits Körper, er geht mit ihrem Körper, spricht aus ihm, reagiert auf die aktuelle Umwelt. Wie gesagt:
eher ein Fantasy-Erzählmodell als ScienceFiction. Aber ehrlich: es macht keinen großen Unterschied. Martine
konzentriert sich eben ganz auf Beziehungen und die Ergründung aller Bedeutungsebenen der Kommunikation. Ganz
als wolle sie im Stile von Harold Garfinkels Ethnomethodologie jedes Quäntchen Kommunikation bis ins Letzte ausdeuten.
Wobei sie dann allerdings notwendig auf das Problem der Indexikalität von Sprache stößt. Sie lässt den elfjährigen
Palasterben Acht Gegengift sehr schön daran verzweifeln, dass die Indexikalität von Sprache unauflösbar ist.
Aber eigentlich geht es um Hegemonie und Dominanz. Genauer: darum was eine absolut dominante Kultur
den unterworfenen, abhängigen Kulturen und den Individuen darin antut. Das buchstabiert Martine an der
Liebesbeziehung von Mahit und Drei Seegras aus. Drei Seegras ist in voller Liebe zu Mahit entflammt und merkt
nicht, dass ihre privilegierte Statusposition ihre Liebe für Mahit korrumpiert, vergiftet und vergällt. Mahit
wiederum verheddert sich immer wieder in ihrer eigenen Faszination für diese enorme imperiale Kultur der
poetischen Sprachverfeinerung. Sie denkt selbst in der imperialen Sprache und geisselt sich gleichzeitig dafür,
weil sie im Identitätsdenken so verfangen ist, dass ein Sprachwechsel ihr als Verrat an ihrer „eigenen“
Kultur erscheint. Höchst erfreulich, dass Martine Grautöne beherrscht und die als „barbarisch“ abgetane Kultur der
Stationsbewohner*innen nicht idealisiert. Auch dort haben Identitätsfanatiker*innen das Sagen, liquidieren
brachial alles, was sie als von der imperialen Kultur korrumpiert ansehen. Hybridität ist weder für das Imperium,
noch für die Station Lsel ein lebbares Konzept. Und doch wollen Mahit und Drei Seegras nicht von einander
lassen. Das hat Größe! Das Ende erinnert mich stark an den Schluss des Woody Allen Films Manhattan (1979),
nur mit verkehrten Rollen. Bei Allen bekommt der Midlife-Crisis-Neurotiker, der erst im letztmöglichen
Moment für die unmögliche Liebe kämpft, von der erfahrungshungrigen, viel jüngeren Heldin ein vages Versprechen
auf eine mögliche Zukunft – nachdem sie sich ausgetobt hat – und wird erst einmal verlassen. Hier kämpft
die unerfahrenere der beiden bis zur Selbstaufgabe für eine gemeinsame Zukunft und bekommt von ihrer
schmerzensreichen Geliebten nur ein Versprechen auf Briefe – und wird verlassen. Bittersüß und wunderbar!
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Arkady Martine
Am Abgrund des Krieges
München 2022
macht Spaß zu lesen
© Heyne Verlag
Paperback (16 €)
666 Seiten
ISBN 978-3-453-31994-3