Max sein SciFi-Blog

Übersicht

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Hinweis am Rande:

Meine Bewertungsskala eicht sich an Werken wie The left hand of darkness von LeGuin, Es ist nicht leicht ein Gott zu sein von den Strugatzkis oder Eden von Lem. Die bekommen von mir volle fünf Sterne.

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Der erste Satz (und der zweite)
„Jahre später würde Lenson Ornill über die Ironie nachgrübeln, dass es ein ganz bestimmtert Ausdruck war, der Anfang und Ende seiner Zeit als religiöser Mensch bezeichnete. »Ach du Scheiße«, sagte Gonre Ornill zu ihrem Ehemann Tans auf der Brücke ihres Raumschiffs, der We Never Agreed to This.

2023-05-11
Wer sich bei vollem Bewußtsein darauf einlässt, den zweiten Teil einer SF-Trilogie zu lesen, sollte sich nicht darüber beschweren, dass „nichts zu Ende erzählt werden darf, da ja noch Teil 3 kommen muss“ (ich zitiere mich selbst). In diesem Fall beschwere ich mich aber doch, denn hier wird ja doch was zu Ende erzählt, nämlich der titelgebende „Verrat“. Aber dieser Abschluss ist so flach, dass ich ernsthaft angeödet war. Nachdem Scalzi mit einiger Lust am Fabulieren ausgemalt hat, wie ein ganzes Netzwerk von Putschist*innen sich wechselseitig betrügt, hintergeht und ermordet, weil sie alle selbst an die Stelle der wegzuputschenden Imperatox treten wollen, zieht er am Ende einfach einen deus ex machina hervor, der die Imperatox allwissend macht, weshalb sie alle Verschwörer*innen mit einem Streich ausschalten kann. Und sie hält eine lange, peinlich selbstherrliche Rede, bevor sie zuschlägt. Erinnert irgendwie an ein B-Movie. Aber in einem B-Movie ist es immer der Bösewicht, der sich mit der langen Rede genau solange aufhält, bis der entkräftet am Boden liegende Held sich sammeln und den Schurken mit letzter Kraft vernichten kann. Hier ist es eine von den Guten, die Reden hält, statt abzudrücken – und sie gewinnt trotzdem. Außerdem hatte ich schon den ganzen ersten Band über auf eine anständige Romanze zwischen Main Character 1 und Main Character 2 gewartet und ja, die beiden haben Sex, von dem wir Leser*innen allerdings nur das Nachgespräch im Bett mitbekommen. Auch das vermasselt Scalzi, denn das höchst unromantische Liebegeflüster der beiden besteht darin, eine Geheimexpedition zu einem seit 800 Jahren verlorenen Sonnensystem zu planen. Machen wir ja alle, nachdem wir endlich mit der Person unserer Träume ins Bett gekommen sind… Aber ich habe den Roman von vorn bis hinten gelesen, Action kann Scalzi und ein bisschen Spannung gibt es auch. Angeödet war ich erst auf den letzten Seiten – siehe oben. Also, man kann das Buch lesen, aber genauso gut kann man die Plotzusammenfassung der englischen Wikipedia lesen und gleich zum letzten Band übergehen.

Postscriptum: Ich widerrufe meine letzte Empfehlung, Band 3 „Schicksal“ ist so flach, dass ich die Lektüre mittendrin einfach abgebrochen habe. Als zum vierten oder fünften Mal eine Verschwörer*in sich selbstverliebt ins Fäustchen lachte, wie wie abgefeimt böse sie doch alles geplant hat, nur um im nächsten Moment selbst von irgendeinem anderen Bösewicht brutal gemeuchelt zu werden, war das die eine schematische Wiederholung zuviel. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich freiwillig noch ein weiteres Buch von John Scalzi in die Hand nehmen werde, ist gering.

John Scalzi
Verrat. Das Imperium der Ströme

Frankfurt am Main 2019


Kann man lesen

Buchcover

© Fischer Verlag

Paperback (15 €)
379 Seiten
ISBN 978-3-596-29980-5

Der erste Satz (und der zweite)
„»Das Bett ist frei«, sagte Moira, als sie ins Wohnzimmer kam. Der Wandscreen hämmerte irgendeinen Partysong und zeigte zuckende Körper in Stroboskoplicht.“

2023-04-29
Es gibt nur 10 mögliche Storyplots – und die standen alle schon in der Bibel. Also werfe ich der Autorin nicht vor, dass der „odd couple obsiegt gegen alle Wahrscheinlichkeit über einen skrupellosen Konzern“-Plot ziemlich abgedroschen ist. Schließlich kommt es darauf an, wie das bekannte Muster variiert, ausgeschmückt und gekonnt erzählt wird. Ich halte mich auch nicht damit auf, dass wolfsgroße Insekten biologisch höchst unwahrscheinlich sind, weil ihre Tracheen-Atmung keinen Körper dieser Größe versorgen könnte. Stören tut mich aber schon das zwanghafte Denken in Individuen, wo man es mit staatenbildenden Insekten zu tun hat. Dass ein einzelnes Insekt abseits seiner bio-chemisch vorprogrammierten Verhaltenssteuerung „Freundschaft“ mit einem Menschenwesen schließen könnte, grenzt an ein „Biene Maya“-Zerrbild. Höchst spannend ist hingegen die nur kurz angerissene Idee, dass geklonte Menschen eine Art Eusozialität wie besagte staatenbildende Insekten entwickeln könnten und damit der allein durch Geld und Marktmechanismen vermittelten Sozialität von konkurrenzgetriebenen Individuen überlegen sein könnten. Um diesem Momentum Raum zu geben, hätte sich allerdings der männliche Protagonist (der Klon) gegen die Heldin und für die Brüderhorde (seine Klon-Kohorte) entscheiden müssen. Allein, die Autorin vertraut lieber auf die gute alte Kleinfamilie. Die Story kommt insgesamt mit praktisch nur fünf Figuren aus: die Heldin und ihr Klon-Partner, zwei Supporter*innen, deren Beitrag und Figurenzeichnung aber marginal bleiben, und der Junior Konzern-Chef als das personifizierte Böse. Letzerer entpuppt sich im Moment der Entscheidung als Schwächling, was praktischerweise die Held*innen der Entscheidung enthebt, ob sie für die gerechte Sache zu Mörder*innen werden wollen. So weit, so konventionell. Der Gesellschaftsentwurf ist einfach ein enthemmter Kapitalismus, inwieweit es auf dem Planeten Deuteragäa überhaupt eine Staatlichkeit gibt, bleibt im Ungewissen. Alles und jede*r ist käuflich, nur ein paar Dropouts leben am Rande in Slums. Insgesamt enttäuschend, aus der Klon-Thematik kann man deutlich mehr rausholen.

Esther S. Schmidt
Rho

Hamburg 2022


Kann man lesen, wenn nichts anderes da ist.

Buchcover

© Verlag Plan 9

Paperback (15 €)
322 Seiten
ISBN 978-3-948700-39-3

Der erste Satz (und der zweite)
„Zwei Dinge in Teixcalaan sind ständig in Bewegung: die Sternkarten und der Strom der Reisenden. Über dem Taktikpult des Kriegsschiffs Rote Frucht des Aufstiegs, das derzeit fünf Sprungtore und zwei Wochen Unterlichtflug vom Hauptstadtplaneten entfernt operiert und bald wenden und heimkehren soll, ist der gesamte teixcalaanische Weltraum holografisch dargestellt.“

2023-04-23
Ein gut gemachter Schmöker, der an mehr als einer Stelle echten Tiefgang entfaltet. Ein allmächtiges Imperium und eine unbedeutende Weltraumstation namens Lsel, die sich ihre randständige Unabhängigkeit bis jetzt irgendwie erhalten konnte – eine unbehagliche Kohabitation. Weil Lsel nicht Opfer der nächsten imperialen Expansion sein will, kommt die Heldin Mahit Dzmare zu ihrem ersten Job: Sie wird Botschafterin von Lsel in der gewaltigen Hauptstadt des Teixcalaanischen Imperiums. Ihr Übergang ins Berufsleben ist zugleich ihre Initiation als Imago-Trägerin. Denn ihr geheimer Trumpf sind die Erinnerungen ihres toten Vorgängers, die sie als abrufbares Imago im Kopf mit sich trägt. Sie ist also keineswegs die Anfängerin, für die insbesondere die ihr zugeteilte imperiale Kulturmittlerin Drei Seegras sie hält. Bewußtseinserweiternde Technologien sind allerdings im Imperium geächtet, Mahit muss also geheim halten, woher sie als Neuling ihr Insiderwissen hat. Doch als ihr Imago crasht, taumelt die auf sich gestellte Botschafterin nur noch durch die immer bedrohlicheren Intrigen des imperialen Hofes. Aber mit ihr taumelt ihre Kulturmittlerin und es ist kunstvoll gewebt, wie sich in den kurzen Atempausen des Tumults eine feingeistige Liebschaft anbahnt. Martine verwendet insgesamt viel Energie auf den kulturellen Weltenbau, denn Poesie ist hier gleichbedeutend mit Politik und die nur ein anderes Wort für Intrige, das ist neu und richtig gut. Der Gesellschaftsentwurf hingegen ist vage, irgendeine Abart eines bürokratisch gelenkten Kapitalismus, Religion ist vorhanden, aber genau wie Armut irrelevant. Irgendeine Untergrundbewegung verübt mörderische Anschläge – warum, aus welchem Antrieb, alles unerklärt. Technik spielt bei Martine keine Rolle, sie tut ihren Dienst, aber wieso all die Wunderdinge überhaupt funktionieren: egal. Es gibt Sprungtore, die unvorstellbare Entfernungen im All überbrücken. Ob sie natürlich oder erbaut sind, kein Kommentar. Raumschiffe fliegen mit Unterlichtgeschwindigkeit zu den Sprungtoren, ob sie Sonnensegel benutzen oder chemische Brennstoffe, ob sie mit Fusionsreaktoren angetrieben werden oder ob überhaupt irgendwas sie vorwärts bewegt: kein Kommentar. Es gibt die Imago-Technologie zur Speicherung aller Gedanken und Emotionen. Das dafür notwendige Gerät ist winzig, braucht scheinbar keine Energie, kann aber gleichzeitig die gesamte Lebenserinnerung eines Verstorbenen zur Verfügung stellen und auch noch die neuen Erfahrungen der aktuellen Trägerin aufzeichnen. Wie das geht? Kein Kommentar. Insoweit ist es eher ein Fantasy-Erzählmodell als ScienceFiction. Die Erzählform ist konventionell, meist folgt man chronologisch dem Erleben Mahits, gelegentlich dem anderer Protagonist*innen. Jedes Kapitel beginnt mit einem pseudo-dokumentarischen Intro, das häppchenweise den Weltentwurf weiter ausgeschmückt. Die Stärke des Romans entfaltet sich in der detaillierten Introspektion der Akteur*innen, wobei fast alle wichtigen Figuren weiblich sind. Was aber bemerkenswert unbedeutsam ist, denn Geschlecht spielt mal überhaupt keine Rolle! Wenn Rollenprägungen sichtbar werden, dann sind sie durch die Positionierung der Person im Machtspiel bestimmt. Und es ist ein Buch, in dem Familie als Kategorie völlig irrelevant ist. Schön ist auch die intensiv ausgelebte Ambivalenz der Botschafterin, die das alles verschlingende Imperium fürchtet und seine Arroganz verachtet, aber die unendliche kulturelle Verfeinerung der teixcalaanischen Gesellschaft bewundert und soooo gern ein kompetenter Teil davon wäre. Und sich dafür schämt. Auf der Strecke bleibt allerdings die Körperlichkeit: Die Heldin Mahit scheint nur insoweit einen Körper zu haben, damit er bei Explosionen, Attentaten und anderen Aggressionen leiden kann. Ich habe das Buch gleichwohl sehr gern gelesen, bin allen Schicksalswendungen gespannt gefolgt und war erbost, als die Autorin am Ende die gerade frisch erblühte Romanze einfach wegzuwerfen scheint. Aber da hatte ich die Logik der Mehrbändigkeit außer Acht gelassen: Man darf auf Band 2 hoffen!

Arkady Martine
Im Herzen des Imperiums

München 2019


gut zu lesen

Buchcover

© Heyne Verlag

Paperback (16 €)
586 Seiten
ISBN 978-3-453-31993-6

Der erste Satz (und der zweite)
„»Das Tor ist genau vor uns«, sagte Gregor. »Mach dich bereit.«“

2023-02-19
Die ersten 50 Seiten sind gestrickt wie ein Mission-Impossible-Drehbuch: Angriff auf die zentrale Datenbank der Feinde – hier ein gegnerisches Handelshaus. Nach dem Erfolg bekommt die Heldin Sancia einen Vollrausch, eine Weltschmerzkrise und einmal Sex mit ihrer Geliebten. Und das liest sich dann so: „»Denk jetzt nicht mehr darüber nach«, sagte Berenice. »Ich kann nicht. Wie könnte ich auch?« Sancia blickte auf, als Berenice näher an sie heranrückte. »Ah.« Sancia lächelte. »Ich verstehe.«“ Das war die vollständige und einzige erotische Szene des Buches. Und kaum hat Sancia ihr einziges Vergnügen in diesem Roman gehabt, wird sie mit der Ankündigung des dräuenden Weltuntergangs wieder auf eine traumatische Expedition gegen überstarke Mächte geschickt. Den Rest des Buches kämpfen Sancia und ihre Freunde gegen das Superschurkenböse. Was ja auch nur konsequent ist, denn wenn die Heldin erst einmal Superheldinnenqualität erreicht hat, hat sie letztlich keine Gegner mehr. Dies wird mit der Leichtigkeit demonstriert, mit der Sancia die „unmögliche“ Mission der ersten Seiten erledigt. Selbst die größten Handelshäuser sind Sancia nicht mehr gewachsen. Superman ist ohne General Zod oder Metallo arbeitslos. Ganz wie Batman ohne Ridler oder Sherlock Holmes ohne Prof. Moriarty. Sancia braucht einen Gegner wie Crasedes Magnus, der ganze Kompagnien wie Fliegen an der Wand zerklatschen lässt. Ihren Kampfgenossen Gregor aus Band 1 hingegen braucht sie nicht mehr und so wird jener am Ende dieses Band 2 in etwas anderes verwandelt, etwas, das im Grunde nicht weniger schlimm ist als Crasedes Magnus. Damit ist der Endgegner für Band 3 angekündigt und gesetzt. Wie es die Logik von Roman-Serien erfordert, wird am Ende von Band 2 nichts aufgelöst oder beendet. Das Geheimnis um den titelgebenden magischen Schlüssel wird zwar gelüftet, aber recht eigentlich spielt auch er nur noch eine Nebenrolle. Und wenn am Ende Sancia mit ihrer Geliebten verschmilzt, dann liegt das nicht an der übergroßen Liebe zwischen den beiden. Man könnte überhaupt auf den Gedanken kommen, dass Körper in diesem Roman nur existieren, um Schmerzen empfinden zu können. Die einzige Handlung, die irgendwas mit Körperlichkeit jenseits von Kampf und Leid zu tun hat, ist die ausgerechnet die Erniedrigung einer Magd durch den sadistischen Chef des Handelshauses Michiel, der dafür allerdings auch gleich per Magie zur Selbstverstümmelung und zum Selbstmord genötigt wird. Insgesamt ein routiniert gemachtes Werk, insbesondere gibt es viel und gekonnt ausbuchstabierte Aktion. Wurde etwa am Ende von Band 1 ein Gebäude so groß wie ein Berg zum Einsturz gebracht, wird hier in Band 2 gleich eine ganze Stadt abgeräumt. In Band 3 werden sie demnach vermutlich einen Kontinent versenken müssen. Aber ich werde nicht mehr dabei sein – die Story hat ihren Charme und die ungewöhnliche Heldin einfach verbraucht.

Robert Jackson Bennett
Der Schlüssel der Magie: Der Meister

München 2020


kann man lesen

Buchcover

© Blanvalet Verlag

Paperback (15 €)
572 Seiten
ISBN 978-3-7341-6267-1

Der erste Satz (und der zweite)
„Ich heiße Melisande Stokes, und das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie im Juli 1851 (christlicher Zeitrechnung oder – machen wir uns nichts vor – Anno Domini) im Gastzimmer eines bürgerlichen Hauses in Kensington, London, England.“

2022-08-23
Ich liebe Zeitreisen! Seitdem ich irgendwann in den frühen 70ern „The Time Machine“ (die Verfilmung von 1960) in verrauschtem Schwarz-Weiß auf Nederland 2-TV mit englischem O-Ton und holländischen Untertiteln gesehen habe, bin ich fasziniert von der Idee des Zeitreisens. Und nun ein Zeitreisen-Roman von Neal Stephenson, immerhin Autor von zwei Büchern, die ich richtig, richtig gut finde (Snow Crash und Anathem), da nehme ich auch billigend in Kauf, dass es vordergründig um Magie geht, genau gesagt um das Verschwinden der Magie aus der Welt. Allerdings liegt der Klappentext komplett falsch, wenn er behauptet: „D.O.D.O., eine Geheimorganisation der amerikanischen Regierung, hat sich zum Ziel gesetzt, mittels Zeitreisen die Magie in unsere Welt zurückzuholen.“ Tatsächlich will D.O.D.O. genau das Gegenteil: Die Magie wiederherstellen, um Zeitreisen ausführen zu können. Denn D.O.D.O. steht für Department of Diachronic Operations – also Abteilung für Zeitreisen. Und es ist nicht irgendeine Regierungsorganisation, sondern eine Abteilung des Militärs. Ziel des Ganzen ist also nicht Verbesserung der Kenntnisse über die Geschichte (oder das Rätsel der Ermordung Kennedys zu lösen), sondern es geht um Manipulationen an der Geschichte, um in der Gegenwart günstige Verhältnisse für die Interessen der USA sicherzustellen. Insoweit ist es auch die Geschichte des Aufbaus einer neuen Truppengattung und am Ende auch eines bürokratischen Apparats. Das ist der schwächste Teil des Romans, weil das dauerhafte Lächerlichmachen von Detailaspekten einer Verwaltung (Abkürzungsfimmel, Dienstanweisungen für alles und jedes, zwanghafte Verschriftlichung aller Vorgänge) nur ganz selten witzig ist, zumal der Autor dabei überdeutlich sein eigenes Unbehagen am Vordringen des Diversity-Gedankens in alle Lebensbereiche zur Schau stellt. (Vielleicht bin ich aber auch nur überempfindlich, weil ich selbst in einer Verwaltung arbeite…) Das Zeitreisen selbst wird verknüpft mit der Paralleluniversen-Theorie, was ganz originelle Folgen für die Handlung hat, weil eine Manipulation an der Vergangenheit keineswegs zwingend im eigenen Universum zu einer Veränderung führen muss. Das Militär antwortet auf diese Herausforderung mit ganz eigner Logik: Mehr Feuerkraft hilft immer! Man ändert dieselbe Episode eben einfach gleich in Dutzenden Paralleluniversen. Das ist wirklich originell und wird auch schön repetitiv erzählt. Unglücklicherweise verliert der Roman irgendwo in der Mitte des schier endlos langen Buchs für mehr als hundert Seiten seinen Fokus. Unter anderem kommt die eigentlich hübsche Liebesgeschichte komplett abhanden, bei der es auf den ersten 300 Seiten immer darum ging, wann es endlich auch die beiden Betroffenen selbst merken, dass sie längst ein Liebespaar sind. Immerhin nimmt der Plot wieder ordentlich Fahrt auf, als plötzlich nicht nur das US-Militär und die Fugger (ganz recht, die Fugger aus Augsburg) Zeitreisen via Magie beherrschen, sondern noch zwei ganz andere Fraktionen mitmischen, die vorher niemand auf dem Schirm hatte. Und selbst die Liebesgeschichte wird irgendwann kurz vor Ende wieder hervorgeholt, allerdings interessiert es dann kaum noch, ob die beiden sich endlich küssen. Alles in allem hätte dem Buch eine rigide Lektorin gut getan, die gut ein Drittel rauskürzt. Aber was soll‘s: Selbst ein schwächerer Stephenson ist immer noch prima Unterhaltung!

My apologies to co-author Nicole Galland! Welchen Einfluss sie auf den Roman hat, vermag ich nicht zu sagen, für mich liest es sich nicht anders als alle anderen Stephenson-Romane.

Neal Stephenson /
Nicole Galland

Der Aufstieg und Fall
des D.O.D.O.

München 2018


größtenteils gut zu lesen

Buchcover

© Goldmann Verlag

Paperback (15 €)
847 Seiten
ISBN 978-3-442-48964-0

Der erste Satz (und der zweite)
„Die Leiche treibt auf dem Strom. Wo die neue Brücke den Gange in fünf Betonschritten überquert, sammeln sich Girlanden aus Zweigen und Plastik an den Pfeilern, Flöße aus Treibgut.“

2022-04-10
Geradezu widerwillig gestehe ich ein, dass das Buch ziemlich gut ist. Eigentlich hatte ich nach 400 Seiten die Lust verloren und schon einen Verriss geschrieben. Aber am Ende hat es mich gepackt und die letzten 200 Seiten habe ich in einem Stück verschlungen – auch wenn ich gestehen muss, dass ich immer wieder Absätze und halben Seiten übersprungen haben. Denn irgendwie ist das Buch in jeder Hinsicht zu viel: zu viel Seiten, zu viele Akteur*innen, zu viele Nebengeschichten, zu viele Grausamkeiten, zu viel Sex, zu viel Wortschwall. Aber es zieht einen mit und die Geschichte ist wild genug, um aufzufallen im Einerlei der ScienceFiction. Vom Clash zwischen Menschen und Maschinen (hier: Kaih) hat man schon oft gelesen. Bei McDonald bekommt dieser bekannte Plot einen spannenden neuen Twist: Die Konkurrenz ist ganz einseitig, nur die Menschen, nicht die Kaihs haben ein Problem. Die Andersartigkeit des digitalen Bewußtseins wird hier ernst genommen und nicht auf die Abwesenheit von Gefühlen reduziert. Held*innen gibt es kaum, der Autor geht mit seinen Figuren eher verschwenderisch um, die meisten sind am Ende tot oder seelisch zerstört. Ein Happy End gibt es nur für zwei Figuren, eine Frau und ein „Neut“, ein künstlich geschaffenes Drittes ohne Geschlecht. Dieser Neuts sind auch so eine interessante Idee, z.B. holen sie sich ihre Befriedigung direkt aus dem Gehirn ohne den Umweg über Sex. Leider wird die Idee des Jenseits der Bipolarität nur behauptet, aber kaum gefüllt. Denn, auch wenn sie zwar recht oft in der Handlung mitspielen, könnte man die Neuts doch ohne Verlust durch Transmenschen, Lesben/Schwule oder jede andere diskriminierte Minderheit ersetzen. Ein größeres Problem hatte ich mit der Geschwätzigkeit des Schreibstils. Ein Beispielsatz: „Im Herzen des Ganzen nistet der Chhatrapati Shivaji Terminus, ein Bezoar der viktorianischen Übersteigerung und Arroganz, nun vollständig überkuppelt mit Einkaufsvierteln und Geschäftsniederlassungen, wie eine Kröte, die von einer Kalksteinknolle umschlossen wird.“ Das wirkt auf mich überspannt und protzig, vor allem aber ist es ohne Belang für die Geschichte. Es ist halt ein Bahnhof, in dem zwei Protagonisten in einen Zug steigen. Ob sie das in einer Kröte, die von einer Kalksteinknolle umgeben ist, tun oder in einem Bahnhof voller Menschen auf der Durchreise, ist für die Geschichte unerheblich. Oder dieser Satz: „Goldene Menschen drehen sich, um zu schauen, ihre Kunda Khadars wie kleine Morde in den Händen.“ Während ich noch darüber nachsinne, wie man einen Cocktail namens Kunda Khadar halten muss, damit er wie ein kleiner Mord wirkt, ist der Autor längst wo anders. Denn weder die Leute in ihrer Goldenheit, noch ihre Getränke spielen in der Handlung eine Rolle. Aber es soll wohl ein Gefühl der Meisterlichkeit erzeugt werden, mit der der Autor die Worte zu Sätzen voller Magie zu verdichten vermag. Allerdings ist es overdone, zu viel, zu synthetisch, zu gewollt. Gleichzeitig füttert der Autor einen mit einer Unmenge von Details, die aber die Geschichte nicht greifbarer machen. An etlichen Stellen rudert man als Leser*in verloren in dem Wortgeklingel, ohne Klarheit über die Basics der Handlung gewinnen zu können. Basics heißt: Wer schießt hier gerade warum auf wen? Wenn dann auch noch der Erzählfluss immer so dicht an der jeweiligen Hauptfigur des Kapitels klebt, als wäre man in einem Film ausschließlich in close ups unterwegs, verliert man mehr als einmal den Faden. Aber ich kann soviel nörgeln, wie ich will: Dieses Buch trommelt einen gewaltigen und lauten Beat, es lässt einen gewiss nicht kalt. Die Ideen, die darin stecken, hätten locker für zwei Bücher gereicht, was vielleicht erklärt, warum nicht alles wirklich ausgeschöpft werden konnte. Und wäre McDonald ohne die fiesen gewaltgeilen Szenen ausgekommen (Tötungen, Kriegsgemetzel, Folter) und wären seine sexuellen Darstellungen etwas weniger effekthascherisch angelegt, hätte ich noch mehr Sterne vergeben wollen.

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Ian McDonald
Cyberabad

München 2012


gut zu lesen

Buchcover

© Heyne Verlag

Paperback (11 €)
786 Seiten
ISBN 978-3-453-52973-1