Osmanen in Hannover

Osmanen in Hannover — ein privates Forschungsprojekt

Bildnis des jungen Mustapha - respect copyright - alle Rechte vorbehalten

© Freiherr von Oldershausen

Ernst August Mustafa, „gewesener Türke“ und Kammerdiener am Welfenhof in Hannover (geschätzte Entstehungszeit des Ölgemäldes um 1714/1715). Ich danke Herrn Nikolas von Oldershausen für die Reproduktionserlaubnis und Mike Meier für die Anfertigung des digitalen Fotos.

Osmanen — äh, bitte, worum geht's gerade? Türken in Hannover, ja, das kennt man, erst Gastarbeiter*innen, dann Mitbürger*innen und heute die Deutschen mit den interessanten Nachnamen. Aber „Osmanen“?? Wann bitte gab es Osmanen in Hannover? So dürfte wohl die allgemeine Reaktion zum Thema sein.

Meine eigene Reaktion war nicht viel anders, als ich 1995 erstmals aus dem Munde von Haydar Akin, des damaligen Wirtschafts- und Handelsattachés im türkischen Generalkonsulat, hörte, dass schon zu Zeiten des Kurfürsten Ernst August etliche Osmanen — in seiner Diktion: „Türken“ — in Hannover gelebt hätten. Ich hab's ihm einfach nicht geglaubt.

Aber es hat sie tatsächlich gegeben, wie ich bald heraus fand. Um 1690 lebte mindestens ein Dutzend Osman*innen in Hannover. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Spuren dieser heute fast vergessenen Menschen zu sichern, zu beschreiben und wieder stärker bekannt zu machen. Dieses Vorhaben verfolge ich als Privatforscher seit nun mehr als 20 Jahren. Eine besonders markante Spur hat Ludwig Maximilian Mehmet von Königtreu, ein Zeitgenosse Leibniz', hinterlassen. Sein Aufstieg vom „gewesenen Türken“ zum „kurhannoverschen Hofmann“[1] erregt selbst über drei Jahrhunderte hinweg immer wieder Staunen.

Bei hinreichend großzügiger Auslegung des Begriffs „türkisch“ hatte Herr Akin also durchaus Recht damit, dass die Anfänge dessen, was man — mit gut betonten Vorbehalten — „türkische“ Einwanderung nach Hannover nennen könnte, in der Tat bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Die Vorbehalte sind deshalb nötig, weil es im 17. Jahrhundert weder eine „Türkei“ noch „Türken“ im heutigen Sinne gab. Zwar wurde das Osmanische Reich im deutschen Sprachraum schon seit der Zeit des letzten Kreuzzuges „Türkei“ genannt, wie auch all seine muslimischen Einwohner gemeinhin „Türken“ hießen.[2] Doch machte diese — Einheitlichkeit unterstellende — Fremdbezeichnung nur aus mitteleuropäischer Perspektive Sinn. Die unglaubliche Vielgestaltigkeit der an Sprachen, Hautfarben und Kulturen reichen Bevölkerung des Osmanischen Reiches blendete sie völlig aus: Die Bezeichnung „Türken“ galt eben unterschiedslos allen Muslim*innen, die Untertanen des osmanischen Herrscherhauses waren. Praktisch war der Begriff „türkisch“ mit „muslimisch“ identisch.[3]

Man sprach vom Islam als „türkischem (Un-)Glauben“ und von Konvertit*innen als „gewesenen Türken“. So heißt es zum Beispiel in der handschriftlichen Chronik des hannoverschen Kammerschreibers Redecker:

„auch war um diese Zeit ein Türke, welcher gefangen, in Hannover, nahmens Hassan, der auch im Türkischen Unglauben blieb und circa An: 1691 starb.“[4] (meine Hervorhebung)

Und in einem Kirchbuch vom Ende des 17. Jahrhunderts in Celle fanden sich diese beiden Eintragungen:

„1697: den 11. Januarii ward in der Schloßkirchen ein Türke von 33 Jahren getauft und genannt Heinrich.“ „1697: den 14. Febr. war Heinrich Diwan, gewesener Türk, mit Anna Ilse Krons, sel. Heinrich Krons hinterlassenen eheleiblichen Tochter, in der Schloßkirchen zum ersten und andren Mahl öffendlich angekündiget und alsbald darauf getrauet.“[5] (meine Hervorhebung)

Wenn also die Quellen aus der Zeit zwischen 1680 und 1720 von der Anwesenheit von mehr als ein Dutzend sogenannter „Türken“ in Hannover sprechen, dann belegt das nur, dass es in jener Zeit eine Reihe von Muslim*innen und vormals osmanischer Untertan*innen nach Norddeutschland verschlagen hat. Freiwillig kamen sie allerdings nicht, vielmehr wurden sie als Kriegsgefangene — oft noch im Kindesalter — von siegreichen Teilnehmern der Habsburger Feldzüge gegen das Osmanische Reich aufgegriffen und in die deutschen Lande verschleppt. Dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle, sondern um ein recht häufiges Schicksal handelt, beweisen Hunderte von Kirchbucheintragungen und Grabinschriften aus dem 17. und 18. Jahrhundert.[6]

Grabstein des Hammet

© Günter Max Behrendt

Grabstein des Hammet auf dem Neustädter Friedhof in Hannover

Auch in Hannover zeugt eine bis heute erhaltene Grabinschrift aus dem Jahr 1691 vom Schicksal eines solchen osmanisch-muslimischen Kriegsgefangenen. Der Grabstein des Sipahi (osmanischen Lehensreiter) namens Hammet befindet sich auf dem historischen Neustädter Gräberfeld in der Nähe des Königsworther Platzes im Zentrum von Hannover. Das wenige vorhandene Material gibt keine Auskunft darüber, ob es sich bei dem hier bestatteten Hammet um einen „Türken“ im engeren Sinne gehandelt hat — also um einen anatolischen Muslim, der einen Turk-Dialekt zur Muttersprache hatte. Eindeutig ist allerdings nur, dass Hammet bis zu seinem Tode Muslim geblieben war, sich also dem sonst herrschenden Zwang zur Konversion zum christlichen Glauben hatte entziehen können. So erhielt er ein Begräbnis nach islamischen Ritus — außerhalb der Mauern des christlichen Friedhofs. Die zeitgenössischen Beschreibungen und zwei historische Fotos zeigen das typische Grab eines Muslimen mit Kopf- und Fußstein sowie Ausrichtung nach Mekka.

Die nachfolgende Beschreibung in einem Reisebericht eines Leipzigers, der Hannover im September 1692 besuchte, stellt die erste bekannte Darstellung des Grabes dar. Aus der Textpassage über die Entstehung des Grabes kann man zudem schließen, dass Hammets Grab zugleich auch ein sehr frühes Beispiel muslimischer Selbstorganisation in Hannover dokumentiert:

„Ich habe daselbst ein Türkisch Grab gesehen / welches vor der Stadt ausserhalb des Gottes-Ackers nechst an der Mauren stehet. Der darunter liegende Türck ist in seinem Aberglauben dahingefahren / und ihm dieses mahl von seinen Glaubens-Genossen / deren viel aus Morea und Ungarn nach Hanover kommen / gesetzt worden. Mitten liegt ein breiter Stein / und so wohl zu Häupten als Fuß / ist ein hoher Stein auffgerichtet / an deren einem Teutsche / am andren Arabische Schrifft eingehauen.“[7]

Will man nicht unterstellen, dass Hammet so detaillierte Vorsorge für seinen Todesfall getroffen hatte, dass er auch gleich schon zwei Grabsteine bestellt hatte, so spricht allein schon die Plausibilität dafür, dass es die Gruppe der in Hannover lebenden muslimischen Glaubensbrüder übernahm, eine Bestattung nach islamischen Riten zu organisieren und das Grab mit Gedenktafeln in deutscher und arabischer Schrift auszustatten.[8] Es ist denkbar, dass hierbei auch jener muslimische Kammerdiener aktiv Anteil nahm, der in der Chronik des Kammerschreibers Redecker „Saly“ (Salih?) genannt wurde.[9] Saly war „von ansehnlicher Statur“ und im Gegensatz zu den anderen, meist jugendlichen osmanischen Kriegsgefangenen als erwachsener Mann 1683 bei Wien in Gefangenschaft geraten und nach Hannover gekommen. Ihm oblag die Zubereitung von Kaffee, Tee und Kakao am Welfen-Hofe. Laut Redecker blieb er „bey seinem Unglauben“ und durfte 1695 — vom Kurfürst sogar mit 300 Talern Reisegeld[10] versehen — „zu seinen ungläubigen Landsleuten“ zurückkehren.[11]

Die allermeisten Kriegsgefangenen wurden jedoch einer christlichen Taufe unterzogen. Sog. „Türkentaufen“ fanden in den Jahren um 1690 in großer Zahl statt und wurden als regelrechte Volksfeste mit bis zu tausend Gästen veranstaltet.[12] Als Taufpaten traten regelmäßig Mitglieder des Adels auf, welche zumeist auch Dienstherren der Betreffenden waren. Da die Verfügung über fremdländische Lakaien im ausgehenden 17. Jahrhundert zu den Standards einer prunkvollen Hofhaltung gehörte, warben die Welfen, aber auch andere Adelshäuser[13] in und um Hannover aktiv solche „Beute-Türken“ ein. Zeitweilig müssen zwischen zehn und zwanzig Osmanen — Männer wie Frauen — in Hannover gelebt haben, was frühere Autoren dazu brachte, von einer „türkischen Kolonie in Hannover“ zu sprechen.[14]

Allerdings kann man angesichts der gewaltsamen und völlig unfreiwilligen Entstehungsgeschichte dieser „Kolonie“ wohl kaum von einer „Einwanderung“ sprechen. Auch ließ die forcierte Assimilierung durch Taufe, Dienstzwänge und meist von den Herrschaften arrangierte Heiraten mit (christlichen) Einheimischen den zwangweise nach Hannover Verschleppten kaum Spielraum ihre kulturellen und religiösen Wurzeln lange zu pflegen. Und trotzdem hat diese Episode in Hannover nicht nur auf dem Neustädter Friedhof einige Spuren hinterlassen. Diese vor dem Vergessen zu bewahren, ist Sinn und Zweck meines Vorhaben. Auf diese Seiten werde ich nach und nach die Ergebnisse meiner Bemühungen dokumentieren.

Zuletzt veröffentlicht:

Modell des Hammet-Grabs

© Hist. Museum Hannover

Beitrag über die Rekonstruktion eines osmanischen Grabes, der exklusiv hier auf meiner Website veröffentlicht ist.

Zuvor veröffentlichte Ergebnisse aus dem Forschungsvorhaben „Osmanen in Hannover“

Titelblatt der Geschichtsblätter Nr. 73

© Wehrhahn Verlag

„Ernst August Mustapha – ein Mann in zweiter Reihe“ in: Hannoversche Geschichts-
blätter (N.F.)
Hannover 2019 (Bd.73) S.25-45

Titelseite Über das Leben hinaus

© Hist. Museum Hannover

„Hammet – Ein osmanischer Kriegs- gefangener in Hannover (†1691)“ in: Historisches Museum Hannover (Hg.) Über das Leben hinaus. Ein Spaziergang über Hannovers Friedhöfe Hannover 2010 S.119-121

Titelblatt der Geschichtsblätter Nr. 60

© Hahnsche Buch-
handlung

„Die osmanischen Gräber auf dem ehemaligen Neustädter Friedhof“ in: Hannoversche Geschichts-
blätter (N.F.)
Hannover 2006 (Bd.60) S.181-187

Anmerkungen:

1
Reden, Henning von „Ein Türke als kurhannoverscher Hofmann“ in: Der Sachsenspiegel — Blätter für Geschichte und Heimatpflege (Beilage der Celleschen Zeitung) Celle 1950 (Nr.8 vom 29.7.1950)
2
Siehe: o.V. „Stichwort: Türke“ in: Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Elfter Band I.Abteilung II.Teil Treib-Tz Leipzig 1952 Sp.1848-1854
3
„b) von der christlich bestimmten sicht des abendlandes her wird der Türke nicht so sehr als vertreter eines fremden volkes denn als prototyp des das Christentum aufs schwerste gefährdenden Islam, als Moslem gesehen [...]“ (ebenda Sp.1850)
4
Redecker, Johann Heinrich Historische Collectanea von der Königlichen und Churfürstlichen Residentz-Stadt Hannover / auch umher liegenden uralten Grafschaften Lauenrode, Wunsdorff und Burgwedel / 8. Julii, An. 1723 angefangen von dem Cammer Schreiber Redecker Hannover 1764 (Manuskript im Stadtarchiv Hannover) S.712
5
Klamroth, Kurt „Beimischung türkischen Blutes in deutschen Familien“ in: Archiv für Sippenforschung und alle verwandten Gebiete Görlitz 1938 (Jg.15 Heft 2 und 3) S.33-36 und S.75-80; hier: S.78
6
Heller, Hartmut „Muslime in deutscher Erde: Frühe Grabstätten des 14. bis 18. Jahrhunderts“ in: Höpp, Gerhard; Jonker, Gerdien (Hg.) In fremder Erde. Zur Geschichte und Gegenwart der islamischen Bestattung in Deutschland Berlin 1996 S.45-62 (Zentrum Moderner Orient, Arbeitshefte Bd.11)
7
Zitiert nach: Monatliche Unterredungen einiger guten Freunde von allerhand Büchern und andern annemlichen Geschichten. Allen Liebhabern der Curiositäten zur Ergetzligkeit und Nachsinnen herausgegeben Leipzig 1692 (Jg.4 Heft Oktober) S.815. Herausgeber dieser Zeitschrift war Wilhelm Ernst Tentzel (†1707), der Reisende mit dem Pseudonym „Antonio“ gehörte zu Tentzels Freundeskreis.
8
Näheres über dieses höchst interessante osmanisch-deutsche Grab habe ich in diesem Artikel veröffentlicht: „Die osmanischen Gräber auf dem ehemaligen Neustädter Friedhof“ (2006).
9
„Bei dem Entsatze der Stadt selbst ward ein Türke von ansehnlicher Statur, Saly benahmt, gefangen und dem Hertzog geschenket; selbiger wartete als Cammerdiener nur damit auf, dass er für den Hertzog Kaffeh und Schokelate kochte. Er blieb auch bey seinem Unglauben, begab sich im Jahr 1695 wieder in die Türkey, wozu der Hertzog ihm Geschenk und Vorschub thun ließ.“ (Redecker Historische Collectanea S.713)
Die Summe entsprach ungefähr dem Dreifachen eines Jahresgehaltes eine mittleren Hofbediensteten, eine Waschmagd erhielt gerade 13 Taler im Jahr.
Redecker Historische Collectanea S.739
Heller hat bislang nicht weniger als 500 Fälle dokumentiert. Siehe: Heller, Hartmut „Einbürgerung von Türken vor 300 Jahren. Archivmaterial aus Franken“ in: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaft Nürnberg 1990 (Jg.1 Heft 1) S.69-85
Am Hof des Hannoverschen Premierministers Graf von Platen und Hallermünde gab es beispielsweise eine muslimische Waschmagd von schwarzer Hautfarbe („eine geborne im Türkischen Glauben erzogene Mohrin“), die 1696 in der Schloßkirche getauft wurde. Siehe: Redecker Historische Collectanea S.741
pewe „Die Türkenkolonie in Hannover gegen Ende des 17. Jahrhunderts” in: Wahrheit und Recht. Unabhängige Wochenzeitschrift für das deutsche Volk Hannover 1935 (Jg.9 Nr.27 vom 6.7.) S.3 Sp.3 und S.4 Sp.1