Ernst August Mustapha
© von Oldershausen
Ernst August Mustapha – ein Mann in der zweiten Reihe
Günter Max Behrendt
Im Januar 1708 berichtete Ernst August von Braunschweig-Lüneburg in einem Brief an seinen abwesenden Freund Johann Franz Diedrich von Wendt über den Karneval in Hannover:
„Le carnavel e[s]t amfin commensé le segond jour de l'année par la redoute, qui n'a pas été fort ramplie et où il n'y a en g[u]èrre de beaus masques [...] Mustafa, turc de Mr. L'Electeur4), se maria hière et je doute pas qu'il y eut plus de personnes à ses nosses qu'à la redoute. L'on dit que tout le corps des vallets de chambre éttoit ivre.“[1]
Aus dieser kurzen Textsequenz erfährt man dreierlei: Erstens war es für den hohen Adel in Hannover auch Anfang des 18. Jahrhunderts noch selbstverständlich, selbst privatissimo nur auf Französisch zu kommunizieren. Zweitens wurde lautmalend geschrieben, man ließ in dieser Zeit der Orthographie viel Spielraum. Und drittens hatte sich Ernst August, der jüngste Bruder des Kurfürsten Georg Ludwig, vom Karneval in seiner Heimatstadt deutlich mehr versprochen. Seiner Enttäuschung verlieh er zusätzlich Farbe, indem er beiläufig anmerkte, dass die Hochzeit des osmanischen Dieners Mustapha gewiss mehr Besucher gehabt habe als besagter Karneval – und dass man dort wohl auch mehr Spaß gehabt habe, denn am Ende sei die kurfürstliche Dienerschaft komplett betrunken gewesen.
Der Herausgeber dieser Briefkorrespondenz, Erich Kielmansegg, versah den Namen „Mustafa“ mit einer erklärenden Fußnote:
„4) Der Churfürst Georg Ludwig hatte drei Leib-Kammerdiener, darunter die zwei berühmten Türken, Mehemet und Mustapha, die ihm auch 1714 nach England folgten.“
Offenkundig traute Kielmansegg der von ihm behaupteten Berühmtheit Mustaphas selbst so wenig, dass er diese Fußnote für nötig befand. Wirklich bekannt war tatsächlich nur Mehmet oder Mehemet, der andere Kammerdiener des Kurfürsten mit osmanischem Ursprung. Dessen unglaublich anmutende Lebensgeschichte – osmanischer Kriegsgefangener wird zu einem christlichen Edelmann zunächst in Hannover, dann am englischen Hofe in London – wurde über die Jahrhunderte immer und immer wieder aufgegriffen, verwundert kommentiert und als äußerst bemerkenswert herausgestellt. Zeitungsüberschriften wie „Ein Türke als kurhannoverscher Hofmann“ oder „Mehmets Geschichte gleicht einem Märchen“ zeugen hiervon.[2]
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Abb. 1: Portrait des Ludwig Maximilian Mehmet von Königtreu, entstanden 1714, Gemälde von Gottfried Kneller (1646-1723), heutiger Standort: Kloster Barsinghausen
Ludwig Maximilian Mehmet von Königtreu[3] ist – um es mit einem Wortspiel zu sagen – der wohl bekannteste Unbekannte der letzten 300 Jahre hannoverscher Geschichte. Würde man sämtliche Veröffentlichungen, die diese Person erwähnen, chronologisch auflisten, entstünde eine praktisch lückenlose Kette für jedes Jahr zwischen 1714 und heute. Dieses langanhaltende Interesse kontrastiert markant mit der Dürftigkeit an Informationen, die man bislang gesichert über die Person Mehmets von Königtreu besitzt. Denn außer den Daten seiner Heirat 1706 in Hannover, seiner Erhebung in den Adelsstand 1716 und seines Todes 1726 in London gibt es sehr wenig dokumentierte Details zu seinem Leben. Dafür weiß man recht zuverlässig, wie Mehmet von Königtreu aussah. So zeigt das Museum Schloss Herrenhausen in Hannover ein Gemälde mit seinem Portrait. Allerdings stellt dieses Bild (Maler*in und Entstehungszeit unbekannt) nur eine mittelmäßige Kopie eines weit beeindruckenderen Gemäldes (Abb. 1)[4] dar, das heute im Kloster Barsinghausen ausgestellt wird. Von diesem Bild aus der Hand des berühmten Malers Gottfried Kneller und einem in London befindlichen Zwillingsgemälde (Abb. 7) wird später noch ausführlicher zu handeln sein.
Bei Mustapha verhält es sich umgekehrt, sein Aussehen ist bislang kaum bekannt. Über seinen Lebensweg hingegen weiß an recht viele Details, denn er hat eine vom ihm selbst verfasste Vita hinterlassen, deren zufällige Wiederentdeckung 1818 bei Bauarbeiten an der Hahnschen Buchhandlung in Hannover sogar einer Berliner Zeitung eine Notiz wert war.[5] Den vollen Wortlaut der auf Pergament notierten Vita hat die Hahnsche Buchhandlung 1917 veröffentlicht:
„Ernst August Mustapha, bürtig aus Sparta in Morea. Anno 1687 bin ich in meiner Jugend als die Christen ganz Morea erobert, von dem Capitain de Klinckauström Hannöverischen Regiments gefangen, mit dem ich nachgehends als ein Diener 15 Campagnes am Rhein und in Brabant gethan. Anno 1689 bin ich in der hiesigen Soldatenkirche getauffet. Anno 1703 bin ich bei Sr. Churfürstl. Durchlaucht Georg Ludewig in Diensten kommen, und im Jahr 1709 Kammerdiener bei demselben worden. Als auch 1714 mein gnädigster Herr zu einem König von England unter dem Namen Georgii I erwehlet, habe ich die Reise nach London mit antreten müssen, bin auch durch Gottes Gnade beständig in dessen Diensten geblieben bis endlich Anno 1727 mein gnädigster König und Herr auf der Reise von London nach Hannover in Osnabrügge wider alles Vermuthen gestorben.“[6]
© Historic Royal Palaces
Abb. 2: Wandgemälde im King's Staircase des Kensington Palace, London, entstanden 1725-1727, Gemälde von William Kent (1685-1748)
Während Mehmet vermutlich schon seit 1687 im direkten Dienst des Welfenprinzen Georg Ludwig stand[7] und ihm, seit dieser 1698 seinem Vater als Kurfürst nachfolgte, auch als persönlicher Schatzmeister diente,[8] kam Mustapha erst 1709 ins unmittelbare Umfeld des Kurfürsten. Und er blieb – solange Mehmet lebte – immer der Nachrangige, der Mann in der zweiten Reihe. Dies galt auch für die Zeit, als Georg Ludwig „zu einem König von England [...] erwehlet“ wurde, weshalb Mustapha und Mehmet mit ihrem Herrn nach London gehen mussten. Der Architekt und Künstler William Kent hat dieses Verhältnis in seiner berühmten Darstellung des Londoner Hoflebens im King's Staircase des Kensington Palace (Abb. 2) plastisch ins Bild gebracht, indem er Mustapha (mit Bart und Turban) in die zweite Reihe platzierte. Mehmet (mit Pelzmütze und blauem Cape) steht hingegen im Vordergrund.
Allerdings gab Kents Wandgemälde, entstanden zwischen 1725 und 1727, der britischen Fachwelt eine Reihe von Rätseln auf, die bis heute nicht wirklich entwirrt wurden.[9] Denn es sind sich zwar sämtliche Autor*innen darin einig, dass Mehmet und Mustapha in genau dieser auf Abb. 2 gezeigten Personengruppe – das Gesamtwerk umfasst vier durch Gewölbebögen voneinander abgegrenzte Personengruppen – dargestellt sind, aber welche von den sechs präsentierten Figuren exakt Mehmet oder Mustapha sein sollen, war und ist offenbar schwer zu bestimmen. Und diese Schwierigkeit rührt daher, dass die Person mit Pelzmütze in der Regel als ein polnischer Page namens Ulrich (alternativ: Ulric oder Ulrick) gedeutet wird. Diese Deutung geht letztlich zurück auf eine Beschreibung des King's Staircase in einem frühen Kunstführer von 1755, in welcher steht:
„The Painting represents a Gallery, or several Balconies with Groups of Figures representing Yeomen of the Guard, and Spectators, among whom are drawn Mr. Ulrick, commonly called the young Turk, in his polonese Dress, as he waited on the late King George, Peter the Wild Boy &c. The Stair-Case is richly decorated, and painted by Mr. Kent.“[10]
Diese mit Blick auf eine ethnische Zuordnung doch sehr ambivalente Darstellung wurde in den nachfolgenden Kunst- und Reiseführern darauf verkürzt, dass auf Kents Tableau neben „Peter, dem Wolfsjungen“ auf jeden Fall ein polnischer Page namens Ulrich zu finden sein müsse. Und am ehesten polnisch sah offenbar der Mann mit Pelzmütze und Cape aus. Da umgekehrt der Turban als sicheres Indiz für ein muslimisches Erscheinungsbild galt und hier zwei Personen mit Turban dargestellt sind, vermuten die meisten Autor*innen Mehmet und Mustapha am rechten Rand der Personengruppe. Irritation löst dann allerdings der Umstand aus, dass der Turbanträger ganz rechts den Körperbau eines Kindes und obendrein schwarze Hautfarbe hat. Beides passt weder zu den bekannten Informationen über Mehmet, noch zu denen über Mustapha. Mehmet war zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes ein Mann von ungefähr 54 Jahren,[11] und dass er eher von stattlicher Statur war, zeigt schon das Barsinghäuser Portrait (Abb. 1). Seine Hautfarbe kann man als rosig beschreiben, schwarz war sie gewiss nicht. Dies wird durch ein weiteres Portrait Mehmets bestätigt.
© Sammlung Würth, Künzelsau
Abb. 3: Portrait des jungen Ludwig Maximilian Mehmet, entstanden vermutlich 1690-1700, unbekannte Maler*in, heutiger Standort: Schlosshotel Friedrichsruhe, Haus Jagdschloss
Es stammt aus seinen ersten Jahren am Hofe zu Hannover und ist damit die früheste bekannte Abbildung von Mehmet (Abb. 3). Er ist auf dem Bild in seinen Zwanzigern. Er wird lebensgroß (das Gemälde ist 229 cm hoch) als Angehöriger eines fürstlichen Hofes präsentiert, die antike Statue zu seiner Seite ist hierfür ein klares Signal. Seine Kleidung ist auffällig, hochwertig und elegant, aber nicht übermäßig kostspielig. Es zeigt ihn insgesamt als wohlgenährten Höfling unterer Rangordnung. Das Bild ist undatiert und unsigniert, die Maler*in bislang unbekannt. Die Entstehungszeit kann zwischen 1690 und 1700 angenommen werden. Das Bild gehörte ursprünglich zum Gemäldebestand des Schlosses Herrenhausen. In einem dortigen Inventar von 1844 heißt es unter Nr. 50: „Bildniss des jungen Mehemed von Königstreu. Im gelben Kleide, mit blauem Mantel, blauen Beinkleidern und rother Fußbekleidung neben einem Postamente, auf dem der flöteblasende Faun steht.“[12] Nach 1945 befand es sich im Schloss Marienburg, Nordstemmen. 2006 wurde es zusammen mit zahlreichen anderen Besitztümern des Welfenhauses im Auktionshaus Sotheby's versteigert und kam so in die Sammlung Würth (Adolf Würth GmbH & Co. KG).[13]
In unserem Zusammenhang ist interessant, dass der Sotheby's Auktionskatalog Mehmets Kleidung als Husaren-Uniform identifizierte („portrait of a gentleman in hussar's uniform“)[14]. Tatsächlich ist das bestenfalls assoziativ zu verstehen, insoweit als Mehmets Oberrock mit zahlreichen Schnürriemchen versehen ist und er eine Art Cape um die Schultern trägt. Als reguläre, also uniformierte Truppengliederung waren Husaren zur Entstehungszeit des Bildes in Mitteleuropa unüblich, das war eine Entwicklung des 18. Jahrhunderts. Im Übrigen ist Mehmet unbewaffnet, seine Erscheinung ist daher nicht militärisch zu interpretieren. Allerdings zitiert sein Styling Elemente, die an die Erscheinung von ungarischen oder kroatischen irregulären Reitern erinnern. Zusammen mit der Pelzmütze und der Rasur des Haupthaars ergibt sich eine etwas verwegene Erscheinung, die eher osteuropäische Assoziationen weckt als osmanisch-türkische. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Halten wir fürs Erste fest, dass Mehmet nicht von kindlichem Wuchs und im Jahr 1725 ein Mann in vorgeschrittenem Alter war, rosafarbene Haut hatte und dass sein Styling durchaus eine osteuropäische Deutung zuließ.
Royal Collection Trust © Her Majesty Queen Elizabeth II 2019
Abb. 4: „A Royal Hunting Party at Göhrde Dated 1725“, entstanden wahrscheinlich um 1727, Gemälde vermutlich von Johann Franz Lüders, heutiger Standort: Royal Collection, London
Für Mustapha ist Gewissheit über seine Statur und Hautfarbe nicht ganz so einfach zu gewinnen, sind von ihm bislang doch nur drei Darstellungen bekannt, und die detailreichste davon ist gerade auf Kents Wandgemälde für das King's Staircase im Kensington Palace (Abb. 2) zu finden. Die anderen beiden sind in Monumentalgemälden enthalten, auf denen die Darstellung Mustaphas jeweils nur ein kleines Detail ausmacht. Das erste dieser beiden Gemälde stellt eine gemeinsame Treibjagd der Könige Georg von England und Friedrich Wilhelm von Preußen dar, offiziell datiert auf das Jahr 1725.[15] Das Bild (Abb. 4) ist 137 x 171 cm groß, der Ausschnitt, der Mehmet und Mustapha versteckt im Hintergrund zeigt, misst nur wenige Quadratzentimeter. Auch in diesem Fall ist die räumliche Platzierung der beiden osmanischen Kammerdiener sprechend: Sie rangieren unter „ferner liefen“. Das Bild weist sie als nicht dem Hauptgeschehen zugehörig aus, aber sie sind doch so wichtig, dass sie nicht weggelassen werden können. Tatsächlich ist die Darstellungsqualität so gering, dass man nicht viel mehr als die Kleidung, ein schematisches Gesicht und die typische Kopfbekleidung (Pelzmütze bzw. Turban) erkennen kann. Dass man die beiden trotzdem eindeutig identifizieren kann, liegt daran, dass der bislang nicht sicher festgestellte Maler des Bildes alle wichtigen Personen mit Nummern versehen und diese in einer Legende am unteren Bildrand aufgelistet hat. Zu Nummer 23 und 24 lautet der Eintrag: „Mehemet und Mustapha Cammerdieners“ (Abb. 5a).
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Abb. 5a: Detail aus Abb. 4 („A Royal Hunting Party at Göhrde“)
© Familie Beaulieu-Marconnay
Abb. 5b: Detail aus „Hubertus-Jagd auf der Göhrde“, entstanden wahrscheinlich ebenfalls um 1727, Gemälde vermutlich von Johann Franz Lüders, heutiger Standort: Privatbesitz
Dieses Gemälde existiert in zwei Ausfertigungen, eine davon (Abb. 4) befindet sich in der Gemäldesammlung der britischen Königin.[16] Die andere Ausfertigung befindet sich seit kurzem wieder im Besitz der ursprünglichen Eigner-Familie von Beaulieu-Marconnay in Weimar.[17] Trotz des schlechten Erhaltungszustands[18] kann man gut erkennen, dass Mehmet und Mustapha in dieser Version andere Nummern (17 und 18) zugewiesen bekamen (Abb. 5b). Dies liegt daran, dass in der Weimarer Fassung, die mit großer Sicherheit für den damaligen Ober-Jägermeister der Welfen, Olivier von Beaulieu-Marconnay (Nr. 13 bzw. 11 in der Legende), angefertigt wurde, gegenüber der Londoner Version sechs Personen weggelassen wurden. Mehmet und Mustapha blieben dabei im Bild, obwohl sie so weit im Hintergrund eigentlich vernachlässigbar gewesen wären.
Foto: commons.wikimedia.org
Abb. 6: Ernst August Mustapha, Detail aus „Die Revue bei Bemerode“, entstanden circa 1738, Gemälde von Johann Franz Lüders (1695-1760), heutiger Standort: Historisches Museum Hannover
Trotz der winzigen und schematischen Darstellung kann man eindeutig feststellen, dass beide Personen mit heller Hautfarbe dargestellt wurden. Dies gilt auch für das zweite Monumentalgemälde, nicht weniger als acht Meter lang, auf dem wiederum in einem kleinen Ausschnitt (Abb. 6) Mustapha zu sehen ist: „Die Revue bei Bemerode“ des hannoverschen Hofmalers Johann Franz Lüders.[19] „Revue“ bedeutet hier ein Truppenmanöver, das gleichermaßen ein öffentliches Spektakel wie auch eine Inspektion der Streitkräfte durch die Herrscher*in darstellte. Das Gemälde ist im Besitz des Welfenhauses und befindet sich heute als Dauerleihgabe im Historischen Museum Hannover. Auch hier ist die Detailtiefe der Darstellung Mustaphas gering, man erkennt vor allem die Kleidung und den Turban. Diese und weitere Ähnlichkeiten zur Darstellung auf Abb. 6 haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass Lüders auch Urheber von Abb. 4 ist.
Wichtig in unserem Zusammenhang ist aber vor allem, dass Mustapha in dieser Darstellung ebenfalls weder besonders klein in Relation zu seinem Umfeld, noch von schwarzer Hautfarbe ist. Ich kann also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass die kleinwüchsige Person mit schwarzer Hautfarbe auf dem Wandgemälde des King's Staircase des Kensington Palace (Abb. 2) Mehmet oder Mustapha darstellt. Die folgende Schilderung aus der Hand des Diplomaten Friedrich Ernst von Fabrice (1683-1750) mag helfen, das Rätsel vielleicht zu lösen. Von Fabrice stand hoch in der Gunst von Georg I. und hatte direkten Zugang zum König:
„Ich segelte dann [...] nach England zurück auf einer Yacht, die man mir zur Verfügung gestellt hatte. Der König und die Minister empfingen mich äußerst zuvorkommend. [...] Ich hatte Zutritt zu den geschlossenen Gesellschaften des Königs und zu seinen Soupers, an denen gewöhnlich nur der König, die Herzogin von Kendal, Fräulein von der Schulenburg, spätere Komtesse Walsingham, Trutchen oder Fräulein Oeynhausen [...], Marschall Hardenberg, Herr Ilten und ich teilnahmen. Das waren sehr angenehme Gesellschaften. [...] Nachdem der Haushofmeister der Herzogin serviert hatte, trat nur Mr. Ulric ein, ein kleiner, als Türke gekleideter Junge, den Baron Schack dem Könige geschenkt hatte, den man hin- und herjagte, um den König zu unterhalten.“[20]
Ulric war demnach also ein Junge, der sich zu Unterhaltungszwecken als „Türke“ verkleidete – vielleicht auch eine Erklärung dafür, warum er in London allgemein als „young Turk“ bekannt war. Die Historikerin Ragnhild Hatton hat diesen Ulrich/Ulric als Christian Ulrich Jorry, den „Hofzwerg“ König Georgs identifiziert.[21] Sie weist auch darauf hin, dass Jorry ebenfalls auf Abb. 4 dargestellt sei. Tatsächlich findet sich in der Legende zu „A Royal Hunting Party at Göhrde“ unter Nr. 26 der Name Ulrich. Die zugehörige Reiterfigur hat allerdings rosafarbene Haut und ist nicht kleinwüchsig, was auch schon andere Autor*innen zu der Feststellung gebracht hat, das hier etwas nicht zusammenpasse.[22] Wenn man aber einmal annimmt, dass Jorry ein junger, nicht sonderlich großgewachsener professioneller Entertainer war, der mit Verkleidungen arbeitete, um seine Auftraggeber*innen zu unterhalten, dann ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass William Kent auf seinem Gemälde einen frühen Fall von „black facing“ festgehalten hat. Jorry war vermutlich weniger der „Hofzwerg“, als der „Hofnarr“. Seine akrobatische Pose auf der illusionistischen Balustrade des King's Staircase bestärkt mich in dieser Annahme. Eine andere Auflösung bietet allerdings Richard Nash, der annimmt, dass Jorry gar nicht in dieser Personengruppe, sondern in der Gruppe links außen auf der Nordwand des King's Staircase abgebildet ist und sich hier gerade dadurch hervortut, dass er gänzlich über die Balustrade geklettert ist und auf dem schmalen Absatz davor balanciert.[23]
Welche Lösung sich schließlich auch als richtig erweisen mag, fest steht für mich, dass die männliche Figur mit Pelzmütze links auf Abb. 2 Mehmet von Königtreu darstellt. Mögliche letzte Zweifel vergehen, wenn man die Darstellung Mehmets auf Abb. 1, dem Kneller-Portrait, mit Kents Mann mit Pelzmütze vergleicht. Zieht man dann noch die Darstellung Mehmets auf Abb. 3 hinzu, so erkennt man auf allen drei Gemälden jene Markenzeichen und Distinktionsmarker, die Mehmet offenbar sein ganzes Leben lang pflegte: das rasierte Haupt und die schräg aufgesetzte Pelzmütze. Tatsächlich findet man sie auf sämtlichen bildlichen Darstellungen seiner Person wieder.[24] Offenkundig war es nicht seine Aufgabe, am Hofe ein orientalisches Erscheinungsbild abzugeben, sein Styling markierte ihn zwar als aus der Norm fallenden Exoten, aber nicht als „Türken“.
Auch die Kunsthistorikerin Christina Haak wies in ihrer Analyse des Barsinghäuser Kneller-Portraits (Abb. 1) darauf hin, dass Mehmets „Gewandung [...] in keiner Weise an jene des arabischen bzw. türkischen Kulturkreises“ erinnere.[25] Hingegen sah sie große Ähnlichkeiten zur Tracht polnischer Adliger der Zeit, welche aber an anderen europäischen Höfen keineswegs „en vogue“ gewesen sei. Und da ihr die Interpretation der Kent'schen Darstellung Mehmets im Kensington Palace als „polnischer Page“ geläufig war, kamen ihr überhaupt Zweifel, ob Kneller wirklich einen osmanischen Kammerdiener portraitiert habe. In ihrer Irritation spiegelt sich eine Ambivalenz, der sich der ehemalige Kriegsgefangene Mehmet wohl sein ganzes Leben in Hannover und London über ausgesetzt sah. Aufgrund seiner osmanisch-muslimischen Herkunft gab es und gibt es auch heute noch ein starkes Bedürfnis, ihn als „Türken“ zu lesen. Er selbst jedoch hatte einen radikalen Identitätswechsel vollzogen und war zu einem inbrünstigen Lutheraner und getreuen Gefolgsmann des Welfenhauses geworden. Wie intensiv seine Identifikation mit dem evangelisch-lutherischen Bekenntnis war, ist nicht zuletzt durch das Zeugnis des bekannten Hallenser Pietisten Friedrich Michael Ziegenhagen belegt.[26]
Mit seinem – möglicherweise auch polnisch inspirierten – Styling gelang Mehmet eine eigenständige Setzung, die die Lesart als Muslim („Türke“) unmissverständlich zurückweist, ohne sein faktisches Fremdsein zu verleugnen.
Abb. 1 spielt für meine Argumentation eine besondere Rolle, denn anders als auf dem frühen Gemälde von Abb. 3, das mit einiger Sicherheit von Erbprinz Georg Ludwig in Auftrag gegeben wurde, um dessen Repräsentationsbedürfnissen zu dienen, inszenierte sich Mehmet auf diesem Bild selbst. Hier ist er alleiniger Auftraggeber und zahlender Kunde des Londoner Hofmalers Sir Gottfried Kneller. Dazu muss man wissen, dass Kneller zur Zeit der Thronbesteigung von Georg I. der unbestrittene König der Portrait-Malerei in Großbritannien war. Für die oberste Gesellschaftsschicht des Vereinigten Königreichs war der Besitz eines Portraits von Knellers Hand unumgänglich. Für sie galt der Satz, wer nicht von Kneller gemalt wurde, wurde nicht gemalt. Deshalb konnte Kneller Preise in bis dahin ungekannter Höhe verlangen, ein Portrait wie Abb. 1 im sogenannten Kit-cat-Format (91 x 71 cm) kostete bei ihm exorbitante 30 Pfund und mehr.[27] Daher ist dieses Bild ein sehr deutliches Statement, in welch erlauchter gesellschaftlichen Position sich Mehmet selbst verortet sehen wollte.[28]
Allerdings ging es Mehmet mit diesem Auftrag an Kneller wohl eher nicht darum, sein Sozialprestige zu zelebrieren. Denn für ihn war der Wechsel 1714 mit seinem Dienstherrn nach London nicht nur familiär eine enorme Belastung – da seine Ehefrau der Kinder wegen und wegen des massiven Widerstands gegen eine zahlreiche Präsenz von Hannoveraner*innen am Hofe nicht dauerhaft in London bleiben konnte, mussten die beiden eine sehr modern anmutende Fernbeziehung über viele hunderte Kilometer aufrechterhalten –, Mehmet erlitt obendrein einen dramatischen Statusverlust. In Hannover war er über die Jahrzehnte ein prominenter und wichtiger Bürger geworden, er besaß ein eigenes Gestühl in der zentralen Marktkirche und hatte ebendort – in der „Prestigegrablege“ der hannoverschen Bürgerschaft – ein prächtiges Erbbegräbnis errichten lassen.[29] Er hatte in die angesehene Bürgerfamilie Wedekind[30] eingeheiratet und wurde faktisch als Patron dieser Familie wahrgenommen. Denn als am 4. Dezember 1720 Sophie Hedewig Wedekind, die Mutter seiner Ehefrau Marie Hedwig, begraben wurde, lautete der Eintrag im kirchlichen Sterberegister: „Frau Wedekindten, des Herrn Mähmets Schwiegermutter. St. Aegi[dien]“. Mehmet bildete den für die hannoversche Gesellschaft relevanten sozialen Bezugspunkt, nicht die Tatsache, dass die Verstorbene Witwe des Braumeisters Hanß Wedekind gewesen war oder die Tochter des Patriziers Johann Ludolf von Soden, immerhin Landhauptmann zu Stolzenau.[31] Kurz: In Hannover war Mehmet aufgrund seiner langen Präsenz und der andauernden Gunst des Erbprinzen und späteren Kurfürsten Georg Ludwig eine geachtete Persönlichkeit geworden. In London hingegen war er nichts als „one of the King's Turks“, er fiel zurück in den Status des „Türken“, dessen Wechsel zum Christentum in der Regel ignoriert oder zumindest bezweifelt wurde. Selbst seine Erhebung in den Reichsadelsstand 1716 wurde in London ignoriert, sein Adelsprädikat „von Königtreu“ wurde zu seinen Lebzeiten in keinem englischsprachigen Text erwähnt.
Mehmets Portrait-Auftrag bei Hofmaler Kneller kann in diesem Kontext durchaus als ein Stück offensive Selbstbehauptung interpretiert werden. Mehmet konnte sich übrigens nicht nur ein Kneller-Portrait leisten, sondern er bestellte gleich drei – eines von seiner Ehefrau Marie Hedwig (heute im Besitz der Klosterkammer Hannover und ebenfalls im Saal des Klosters Barsinghausen ausgestellt)[32] und zwei von sich selbst. Einmal davon abgesehen, dass Kneller auf eine Zweitausfertigung durchschnittlich 50 Prozent Nachlass gab, hatte die doppelte Bestellung für Mehmet einen ganz praktischen Hintergrund: Die Erstausfertigung von 1714 nahm nämlich seine Ehefrau mit zurück nach Hannover, wo das Bild im Haus der Familie einen prominenten Platz erhielt.
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Abb. 7: „Mehemet (d. 1726) Signed and dated 1715“. Gemälde von Gottfried Kneller, Duplikat von Abb. 1, heutiger Standort: Royal Collection, London
Die erst 1715 fertiggestellte zweite Ausfertigung (Abb. 7) blieb in London und zierte Mehmets private Gemächer. Sie wurde 1975 aus Privatbesitz für die Royal Collection von Queen Elizabeth II erworben.[33] Im Vergleich der Bilder zeigt sich, dass Kneller keine einfachen Kopien lieferte, sondern auch die Möglichkeit einer Variation bot. Auf dem Bild von 1715 trägt Mehmet eine grüne Weste aus kostbarem chinesischem Stoff und einen roten Übermantel, die angedeutete Landschaft im Hintergrund bietet eine Dämmerungsstimmung, während das frühere Gemälde (Abb. 1) eine Nachtstimmung erhalten hatte. Zudem trägt er hier eine rote goldbestickte Weste und einen grünen Obermantel. Beide Gemälde sind von Kneller signiert, vom Meister selbst sind allerdings allenfalls Gesicht und Hände gemalt, den Rest erledigte seine stark arbeitsteilige Werkstatt. Anders hätte Kneller die gewaltige Auftragsmenge gar nicht bewältigen können. Die genaue Zahl der von Kneller signierten Bilder ist ungewiß, es sind aber über 1500 bekannt. Bei seinem Tod sollen sich viele hunderte noch unvollendete Gemälde in seiner Werkstatt befunden haben. Kneller war also ein äußerst beschäftigter und sehr gefragter Künstler. Umso bemerkenswerter ist, dass Mehmet, der gemeinsam mit Kurfürst Georg Ludwig erst am 1. Oktober 1714 London erreichte, noch innerhalb seiner ersten drei Monate in der Stadt ein Gemälde – wenn man das Portrait seiner Gattin, das ebenfalls von 1714 datiert, hinzuzählt, sogar zwei Gemälde – bei Kneller erhalten konnte.
Es könnte durchaus sein, dass Kneller, der als außerordentlich geschäftstüchtig beschrieben wird, schon eine Zweitverwertung dieser Auftragsarbeiten auf eigene Rechnung im Sinn hatte. Denn Kneller pflegte eine sehr produktive Zusammenarbeit mit erfolgreichen Kupferstechern, die seine Portraits für eine Vervielfältigung aufbereiteten. Es war gerade die Verbreitung seiner Werke in hochwertigen Mezzotinto-Drucken, die zur Festigung seiner Stellung als Marktführer für Portraits erheblich beigetragen hatte.[34] Die Zeitungen des frühen 18. Jahrhunderts waren technisch noch nicht in der Lage, Bilder abzudrucken. Wenn man „sich ein Bild machen“ wollte von all den Persönlichkeiten, von denen in den Tageszeitungen die Rede war, musste man Einblatt-Bilddrucke kaufen. Der Mezzotinto-Druck war die fortgeschrittenste Reproduktionstechnik der Zeit, weil sie erstmalig die Darstellung einer großen Palette von Grautönen im Druck ermöglichte. Der Nachteil dieser Technik bestand darin, dass eine solche Kupferplatte nach ungefähr 100 Drucken erschöpft war. Entsprechend teuer waren die Bilder daher, Mezzotintos waren also ein Luxusgut für die Oberschicht. Das Sammeln von hochwertigen Kupferstichen war zudem zu einer der legitimen Beschäftigungen für die Herren und Damen der Oberschicht zu Anfang des 18. Jahrhunderts geworden. Man kaufte und sammelte Reproduktionen von Herrscher*innen, Generälen, Bischöfen und eben auch außergewöhnlichen Persönlichkeiten wie Mehmet und Mustapha.
Die beiden bildeten in der Wahrnehmung der damaligen Londoner Gesellschaft ein untrennbares Ensemble, zu zweit waren sie „the King's Turks“. Kaum etwas versinnbildlichte für die Menschen in London das „Anderssein“ ihres fremdländischen Königs Georg I. so handgreiflich wie die dauernde Anwesenheit zweier „Türken“ in seinem unmittelbaren Gefolge. Ein Skandal waren sie zudem auch, weil sie Positionen am Hofe einnahmen, die traditionell Personen aus dem gehobenen britischen Adel vorbehalten gewesen waren, die nun keinen Zugriff mehr auf diese einflussreichen Posten hatten.[35] Mehmet und Mustapha waren also nicht nur Neugier erweckende Absonderlichkeiten, sondern auch Objekte des Neids und feindseliger Polemik. Nur ein Beispiel: In einem Scheingespräch zweier Personen namens Jest und Earnest wurde 1718 in der Zeitschrift Heraclitus Ridens, die in scharfer Opposition zu der vom König protegierten Whig-Regierung stand, ein Traktat des irischen Freidenkers John Toland niedergemacht, weil dieser keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Religionen zu machen gewillt war. Dies empört die beiden fiktiven Diskutanten Jest und Earnest gewaltig. Die anonyme Autor*in lässt Jest erklären, dass, wenn man Tolands Argumenten folgte, Muslime wohl gar keine Ungläubigen seien. Die Autor*in verstößt damit Tolands aufklärerische Thesen generell aus dem Bereich des legitim Sagbaren und gibt ihn der Lächerlichkeit preis. Und dann fährt Jest unvermittelt fort, er wette zehn zu eins darauf, dass Toland brüderliche Gefühle für Mehmet und Mustapha hege.[36] Mit dieser beiläufigen Andeutung wird nicht nur den beiden osmanischen Konvertiten ihr christliches Bekenntnis bestritten, sondern auch eine Assoziationskette eröffnet, in der kaum verschlüsselte Angriffe auf den König folgen.
Diffamierende Attacken gegen Mehmet und Mustapha in Flugschriften waren für die Tory-Opposition ein probates Mittel, um „über Bande“ den missliebigen König zu diskreditieren. Die strenggläubige evangelisch-lutherische Lebenspraxis beider Diener wurde im britischen Kontext ohnehin oft ignoriert, als „Türken“ konnten sie nichts anderes sein als Muslime. Und mit der Beschwörung von Assoziationsketten wie „Türke – Muslim – homosexuell“ konnte dem König, der sich mit diesen in seinen Privatgemächern umgab, selbst das Label der Homosexualität zugewiesen und er damit einer Todsünde beschuldigt werden.[37] Diese Spekulationen unter der Gürtellinie machten Mehmet und Mustapha allerdings nur noch interessanter. Kurz: Es bestand ein Markt für Portraits der beiden und diese Tatsache dürfte einem umtriebigen Geschäftsmann wie Gottfried Kneller nicht entgangen sein.
© National Portrait Gallery, London
Abb. 8: „Signor Mahomet &c. Servant to his Majesty King George“, entstanden circa 1714-1715, Mezzotinto-Kupferstich von George Kitchin, heutiger Standort: National Portrait Gallery
Abb. 8 zeigt einen undatierten Mezzotinto-Druck mit Mehmets Portrait. Er wird im Untertitel als „Signor Mahomet. Servant to his Maj.ty King GEORGE“ angesprochen. Das abgebildete Exemplar stammt aus der Sammlung der National Portrait Gallery in London.[38] Sieht man einmal von der spiegelbildlichen Darstellung ab, lassen Bild-Komposition, Faltenwurf des Übermantels und die feinen Stickmuster auf dem Stoff der Weste wenig Zweifel daran, dass dieser Stich nach dem Kneller-Gemälde von 1714 (Abb. 1) gefertigt wurde. Die großflächigeren Ornamente der chinesischen Weste auf dem Zwillingsgemälde von 1715 (Abb. 7) scheinen eher nicht die Vorlage gebildet zu haben. Ganz unten am rechten Rand des Druckes aus der National Portrait Gallery ist noch die Urheber-Kennzeichnung des Kupferstechers „Geo. Kitchin ex.“ zu erkennen. Ein zweites Exemplar desselben Drucks, welches sich in der Royal Collection, London, befindet, ist am unteren Rand so beschnitten, dass der Urheberhinweis verloren ist. Doch auch hier wird der Druck einem Kupferstecher namens George Kitchin zugeordnet.[39] Wie man erkennen kann, hat sich Kitchin Mühe gegeben, durch einen zusätzlichen Lichtakzent, der in Knellers Vorlage nicht vorhanden ist, die Pelzstruktur der Kopfbedeckung noch stärker herauszuarbeiten. Die Pelzmütze war eben Mehmets Erkennungsmerkmal. Oder um meine These mit Begriffen des heutigen Migrationsdiskurses auszudrücken: Mehmet hatte mit der Pelzmütze eine angemessene äußere Ausdrucksform für seine erfolgreiche hybride Identitätsbildung gefunden.
© Nikolas Freiherr von Oldershausen
Abb. 9: Portrait des Ernst August Mustapha, entstanden vermutlich 1714, unbekannter Maler; vermutlich Gottfried Kneller, heutiger Standort: Privatbesitz
Umso größer war daher meine Irritation, als ich im Herbst 2015 eingeladen wurde, ein mir bis dahin unbekanntes Gemälde eines Turbanträgers zu besichtigen, das nach Auskunft des Besitzers Mehmet von Königtreu darstellte (Abb. 9). Ein Bild, das Mehmet mit Turban zeigte, stellte meine These über Mehmets Styling gänzlich infrage. Dieses Gemälde im Kit-cat-Format (91 x 71 cm) befindet sich seit über einhundert Jahren im Besitz der Familie von Oldershausen in Ahlden.[40] Die Familienüberlieferung besagt, dass der Urgroßvater des aktuellen Besitzers als Vorsitzender Richter am Amtsgericht Ahlden 1866 dieses Gemälde aus dem Gerichtsgebäude vor dem Zugriff der Preußen, die das Königreich Hannover annektiert hatten, „in Sicherheit gebracht“ habe. Tatsächlich waren die neuen preußischen Herren in Sachen Kunstraub berüchtigt, was die Überlieferung recht überzeugend machte. Hinzu kam, dass das Amtsgericht Ahlden im 19. Jahrhundert genau in dem Gebäude residierte, in welchem früher die verstoßene Ehefrau von Kurfürst Georg Ludwig jahrzehntelang (1694-1726) in Hausarrest gefangen gehalten worden war. Sophie Charlotte hatte im Ahldener Schloss, dem späteren Amtsgericht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen regelrechten Hof unterhalten. Da kostspielige Gemälde notwendig zu einer richtigen Hofhaltung gehörten, war es durchaus vorstellbar, dass einige Gemälde aus dem Besitz der sogenannten „Prinzessin von Ahlden“ nach deren Tod im Haus verblieben sein könnten. Dem Gemälde selbst sind keine Hinweise zu entnehmen, es ist nicht offenkundig signiert oder auf der Rückseite beschriftet. Allerdings ist das Gemälde so stark nachgedunkelt, dass sich noch eine Signatur unter der Patina verbergen könnte. Da die Kleidungsdetails sehr gut zu den bis dahin bekannten Bildern von Mehmet passten, gab es zunächst keinen schlüssigen Grund an der Familienüberlieferung zu zweifeln, auch wenn der Turban ein äußerst befremdliches Detail blieb.
© The Trustees of the British Museum
Abb. 10: „Signior Mustapha. Servant to his Majesty King George“, entstanden circa 1714-1715, Mezzotinto-Kupferstich von George Kitchin, heutiger Standort: British Museum, London
Dann jedoch entdeckte ich in der Sammlung des British Museums einen weiteren Mezzotinto-Druck (Abb. 10), der mit „Signior Mustapha. Servant to his Maj.ty King GEORGE“ beschriftet ist und höchst auffällige Ähnlichkeiten mit Abb. 8 aufweist.[41] Beide Stiche haben das identische Format von 8¼ x 5¾ inch (209 x 146 mm). Auch das Verhältnis zwischen Textfeld und eigentlichem Bild, die ovale Rahmung des Portraits sowie der Schriftschnitt und der eigentliche Text sind – bis auf die Schreibvariation beim Wort „Signor / Signior“ – identisch. Dass diese beiden Stiche tatsächlich zusammengehören, wird durch deren früheste Erwähnung in der zeitgenössischen Sammlerliteratur in Strutts „Biographical Dictionary“ von 1786 bestätigt:
„George Kitchen. Flourished, 1750. A modern English artist, who, if I mistake not, was chiefly employed in engraving maps and book ornaments. We have however, several portraits by him; among others [...] the heads of Mustapha and Mahomet, Turks belonging to George the First.“[42]
In einem Verkaufskatalog von 1791 werden sie zusammen als Arbeiten von Kitchen für je fünf Schilling angeboten.[43] Ich bin daher zu der Überzeugung gelangt, dass George Kitchin (oder Kitchen) Urheber beider Stiche ist und diese Portraits offenbar als Set anfertigte. Aus dieser Entdeckung lassen sich nun eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen ziehen. Zunächst lässt ein eingehender Vergleich von Abb. 10 mit Abb. 9 keinen anderen Schluss zu, als dass das Gemälde im Besitz der Familie von Oldershausen nicht Ludwig Maximilian Mehmet, sondern Ernst August Mustapha zeigt. Und es spricht viel dafür, dass Kitchin seinen Mustapha-Stich nach genau dieser Vorlage (Abb. 9) gefertigt hat, auch wenn einige Abweichungen bei der Wiedergabe der Kleidungsdetails (insbesondere die Knöpfungen) zu vermerken sind.
Vergleicht man außerdem die Portraits von Mehmet (Abb. 1) und Mustapha (Abb. 9) im Detail, entdeckt man auf dem Gemälde aus Ahlden und auf dem Kneller-Gemälde aus Barsinghausen fast identische Kleidungsstücke – und zwar identisch in Farbe, Dekor und Kombination. Nimmt man die hohe Ähnlichkeit der Bildkomposition hinzu, liegt der Schluss nahe, dass Mustaphas Portrait zusammen mit Mehmets Portrait in der Werkstatt von Gottfried Kneller entstanden ist. Dies ist allerdings nur ein Indizienschluss, auch wenn die Indizien mir sehr zwingend erscheinen. Ob Kneller letztlich wirklich als Urheber des Mustapha-Portraits anzusehen ist, muss einer kunsthistorischen Untersuchung vorbehalten bleiben. Das Auktionshaus Christie's jedenfalls, in welchem das Gemälde Ende 2018 versteigert wurde, wollte sich hinsichtlich der Urheberschaft nicht festlegen und wies nur darauf hin, dass es im Stile Knellers gemalt sei.[44]
Kitchin wiederum scheint auf beide Portraits Zugriff gehabt zu haben, um sie auf Kupfer zu kopieren, was angesichts der Tatsache, dass beide Bilder nie öffentlich ausgestellt wurden, sondern unmittelbar vom Maler in den Besitz der Auftraggeber übergingen, nur die Möglichkeit zulässt, dass Kitchin in Abmachung mit Kneller direkt in dessen Werkstatt kopieren durfte. In den Veröffentlichungen über Knellers Werk wird diese Zusammenarbeit mit Kitchin bislang nicht erwähnt. Das verwundert jedoch nicht, denn es werden auch die beiden Gemälde von Mehmet und Mustapha nicht in seinem Werkverzeichnis geführt.[45] Die schier unglaubliche Produktion des Meisters und seiner Werkstatt macht es allerdings auch unwahrscheinlich, dass jemals alle Gemälde, die Kneller verantwortet hat, vollständig erfasst werden. Das Portrait von Mehmet in der Version von Abb. 7 erlangte erst nach dessen Ankauf 1975 durch die Royal Collection, London, und seiner ersten Präsentation in der Ausstellung „Manners & Morals“ 1987/88 in der Tate Gallery öffentliche Aufmerksamkeit.[46] Das Ahldener Portrait (Abb. 9) wurde tatsächlich erst mit der Versteigerung bei Christie's der Öffentlichkeit bekannt.
Kehren wir zurück zu Mustapha. Für mich steht außer Frage, dass der Turbanträger auf Abb. 9 Ernst August Mustapha darstellt. Offenkundig pflegte Mustapha ein Styling, das dazu einlud, ihn als „Türken“ – was im damaligen Verständnis gleichbedeutend mit „Muslim“ war – zu lesen, obwohl Mustapha hinsichtlich der Inbrunst seines Bekenntnisses zum Luthertum Mehmet in nichts nachstand. Hinweise zur Tiefe seiner Glaubensüberzeugung finden sich zum Beispiel in einer zeitgenössischen Überlieferung, die ihn als Muster der Glaubensfestigkeit im Angesicht des sicher geglaubten Todes preist.[47]
Den Unterschied zwischen Mehmets Selbstinszenierung, die eine eher diffuse, nicht eindeutig zu lesende „Fremdheit“ vermittelte, und Mustaphas bewusster Referenz an sein früheres Muslim-Sein über den Turban hat Kent in seinem Wandgemälde (Abb. 2) klar herausgearbeitet. Sonst stimmt allerdings kaum etwas mit den bisherigen Erkenntnissen über Mehmet und Mustapha überein. Nach Kents Darstellung ist Mehmet ein jung gebliebener, properer Galan, der sich anmutig einer jungen Frau – vermutlich seine Ehefrau Marie Hedwig – zuwendet, während Mustapha als weißbärtiger, eher hagerer alter Mann erscheint. Tatsächlich war Mehmet jedoch der ältere von beiden und zum Zeitpunkt der Gemäldeentstehung bereits weit über 50 Jahre alt. Außerdem ist zu vermuten, dass Mehmet 1725 schon deutlich von jener körperlich entstellenden Krankheit gezeichnet war, an der er ein Jahr später starb.[48] Da Mustapha nicht nur auf dem neu entdeckten, von mir Kneller zugeschriebenen Portrait (Abb. 9) bartlos, wohlgenährt und recht jugendlich erscheint, sondern auch auf dem Gemälde von Abb. 6, welches immerhin mehr als zehn Jahre nach Kents Wandgemälde entstanden ist, bartlos und keineswegs greisenhaft dargestellt wird, liegt insgesamt der Schluss nahe, dass Kents Darstellung nicht größtmögliche Realitätsnähe zum Ziel hatte. Insoweit irrt sich Hatton, Autorin des exzellenten Standardwerks zu Georg I., wenn sie über Kents Wandgemälde schreibt:
„the portraits he included in the hall scheme give us a good idea of figures we usually know only from literary sources: there is the dwarf of Fabrice’s memoirs who sometimes amused the company after the king’s supper; there is the wild boy [...] there are Mehemet and Mustafa.“[49]
Wie es scheint, malte Kent die Hofgesellschaft nicht so, wie sie tatsächlich aussah, sondern er entwarf vielmehr ein Bild vom Hofstaat, wie er wahrgenommen werden sollte oder wie er in einer idealen Perspektive hätte aussehen sollen.
Was Mustaphas späteren Lebensweg betrifft, ist Lüders Monumentalgemälde von der Revue bei Bemerode (Abb. 6) auch insoweit von Interesse, als es dokumentiert, dass ihm am Ende das glücklichere Los beschieden war. Zwar war Mustapha immer der Mann in der zweiten Reihe geblieben, doch war es ihm vergönnt, seine letzten elf Jahre in beträchtlichem Wohlstand in Hannover mit seiner Familie zu erleben. Während Mehmet im Jahr 1726 in London starb und auch dort begraben wurde, konnte Mustapha 1727 nach dem Tod seines Herrn als Ruheständler nach Hannover zurückkehren. Tatsächlich überlebte er Mehmet um zwölf Jahre und wurde am 18. Mai 1738 in der Marktkirchengemeinde beerdigt. Lüders Bild zeigt ihn 1735 als selbstverständlichen Teil der hannoverschen Ständegesellschaft.[50] Anders als in London konnte er in Hannover beides sein: exotischer Fremder und zugleich hinlänglich akzeptiertes Mitglied des religiös determinierten gesellschaftlichen Mainstreams.
Insgesamt ist es ein wirklicher Verlust, dass das Ahldener Gemälde (Abb. 9), das offenbar als einziges ein realistisches Bild von der lokalgeschichtlich – und für 13 Jahre auch weltgeschichtlich – nicht unbedeutenden Persönlichkeit Ernst August Mustaphas bietet, nicht den Weg in ein hannoversches Museum gefunden hat, sondern nun – nach der erfolgten Versteigerung bei Christie's – vermutlich in einer Privatsammlung verschwinden wird.[51]
Dieser Text wurde veröffentlicht in:
Hannoversche Geschichtsblätter (N.F.) Hannover 2019 (Bd.73) S.25-45
Der Beitrag erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Ich erlaube mir die Freiheit, den Textsatz für die Online-Veröffentlichung nach meinen eigenen Vorgaben umzugestalten. Deshalb wird der Text hier 1) anders als im Druck gegendert und 2) erscheinen die Literaturangaben hier in meiner eigenen Notierungsform, die ich schon seit meiner Promotion für alle meine Texte verwende.
Zuvor veröffentlichte Ergebnisse aus dem Forschungsvorhaben „Osmanen in Hannover“
„Hammet – Ein osmanischer Kriegs- gefangener in Hannover (†1691)“ in: Historisches Museum Hannover (Hg.) Über das Leben hinaus. Ein Spaziergang über Hannovers Friedhöfe Hannover 2010 S.119-121
„Die osmanischen Gräber auf dem ehemaligen Neustädter Friedhof“ in: Hannoversche Geschichtsblätter (N.F.) Hannover 2006 (Bd.60) S.181-187
Anmerkungen: