„Die türkischen communities von Hannover“
„Die türkischen communities von Hannover“
Günter Max Behrendt
Die bundesdeutschen Migrationsforschung hat sehr lange gebraucht, um zu erkennen, daß hinsichtlich der Zukunft der MigrantInnen in der BRD die von der Politik vorgegebenen Alternativen „Remigration oder Vollassimilation“[1] einen unzureichenden Analyserahmen abgaben. Erst Mitte der achtziger Jahre setzte sich allmählich die Einsicht durch, daß man langfristig eine dritte Entwicklungsmöglichkeit ins Auge zu fassen hatte. Überdeutlich waren nämlich die Hinweise geworden, daß sich in den bundesdeutschen Großstädten zahlenmäßig beachtlicher Minderheiten etablierten, die — obwohl sie ihren Lebensmittelpunkt hier in der BRD sehen — auf dem Wege der Segregation dauerhaft Distanz zur hiesigen Mehrheitsgesellschaft wahren, bzw. von dieser auf Distanz gehalten werden.
Zwar hatte der sich bereits früh ankündigende Segregationsprozeß unter dem Schlagwort „Ghettoisierung“ schon Anfang der siebziger Jahre — speziell in Bezug auf die türkischstämmigen MigrantInnen — breite öffentliche Behandlung erfahren, was aber nur zur Folge hatte, daß die Furcht vor der „Ghettobildung“ als seither stets abrufbereite Konstante auch in den sozialwissenschaftlichen Diskurs einging. Erst in den achtziger Jahren fand eine breitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema statt, wozu es zunächst eines Umweges über die Rezeption der einschlägigen Ergebnisse der US-amerikanischen Migrationsforschung bedurfte. Unter Berufung auf diesen Kontext nämlich führte Heckmann den Begriff der „ethnischen Kolonie“ in die bundesdeutsche Debatte ein und warb damit zugleich für eine neue, positive Sichtweise des Segregationsprozesses.[2] Unterstützung fand er hierin u.a. bei Elwert, der mit seiner umstrittenen These von der „gesellschaftlichen Integration durch Binnenintegration“[3] die Bildung „ethnischer Kolonien“ als „ersten Schritt zur Integration“ interpretiert sehen wollte. Doch der Mainstream der einschlägigen empirischen Forschung ignorierte weiterhin die Zwischenebene dieser „Binnenintegration“, also die Bildung von „Kolonien“ oder communities, und konzentrierte sich unverändert entweder auf gesamtgesellschaftliche Strukturen (Makro-Ebene) oder auf individuelle Bewußtseinsprozesse von MigrantInnen (Mikro-Ebene).[4]
1988 schließlich forderte Fijalkowski in einer programmatischen Schrift, nun endlich auch „die kollektiven Effekte individuellen Handelns“ zu berücksichtigen, und formulierte neue, auf diese „Meso-Ebene“ zielende Leitfragen für die bundesdeutsche Migrationsforschung:
„... werden die verschiedenen neuen ethnischen Minoritäten, die es in unseren Städten gibt und die ein verschieden hoch entwickeltes Bewußtsein von Gruppenzusammengehörigkeit haben, dieses Bewußtsein in der bevorstehenden Entwicklung eher verlieren; oder werden sie dies Bewußtsein eher vermehren und dann die institutionelle Ausdifferenzierung eigener Gemeinden betreiben“?
Und, für den Fall, daß letztere Möglichkeit eintritt:
„... welcher Spielart und gesellschaftlichen Stellung würden solche Gemeindebildungen angehören? Würden sie eher zum philogenen, durch freie Neigung bestehenden, oder eher zum irredentorischen, als Basis für Irredenta-Bewegungen geeigneten, Typ tendieren“?[5]
Trotz des so prominent und dringlich eingeklagten „Forschungsbedarfs auf der Meso-Ebene“[6] ist dieses Feld seither nur spärlich bearbeitet worden. Eines der wenigen Forschungsprojekte, die sich mit dem Prozeß der Bildung ethnischer Kolonien oder communities beschäftigen, soll im folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich um eine noch laufende empirische Untersuchung, die sich am Beispiel der türkischstämmigen MigrantInnen in Hannover kritisch mit Fijalkowskis Fragen und Thesen auseinandersetzt.[7] Kritisch insofern, als wir uns zwar die Forderung, den Blick auf die Bildung von Migranten-communities zu richten und diese als intermediäre Akteure ernstzunehmen, ohne weiteres zu eigen machen konnten, uns jedoch in der Ausrichtung des Forschungsinteresses nicht von der Furcht vor einer Ghettobildung leiten lassen wollten, die unüberhörbar auch in Fijalkowskis — wohl bewußt abstrakt formulierte — Alternative von „philogen vs. irredentorisch“ hineinspielt.[8]
Stattdessen wurden folgende, möglichst offene Leitfragen für das Projekt gewählt: Erstens, welche Formen von community-Strukturen haben sich bei den türkischstämmigen MigrantInnen in Hannover konkret gebildet? Und zweitens, was bedeuten die institutionalisierten Angebote der jeweiligen communities für die Individuen und ihre Lebensbewältigung?
Dabei kommt es nicht nur auf die Ich- und Wir-Konstruktionen in bezug auf eine wie auch immer geartete türkische community an, sondern auch auf die Relevanz, die deren Zersplittertheit für diese Konstruktionen hat. Denn obwohl es in der BRD-Gesellschaft einerseits einen unleugnenbaren Zwang hin zu bipolaren Selbstkonstruktionen („ich bin Türke — du bist Deutscher“) gibt, ist andererseits aber auch die Zersplitterung der ideal jeweils als homogen konstruierten Pole unübersehbar. Praktisch heißt das, daß eine türkischstämmige Migrantin sich sowohl unter einem Druck seitens der ablehnenden Mehrheitsgesellschaft als auch seitens anderer Mit-Migranten befindet, sich jederzeit als „Türkin“ zu bekennen. Gleichzeitig aber könnte sie allein in Hannover unter fast 50 verschiedenen, offiziell etablierten Vergemeinschaftungsangeboten mit explizitem Bezug zum Türke/Türkin-Sein wählen. Die eine, einheitliche, durch nationale Selbstidentifikation unterfütterte türkische Migranten-community ist auch in Hannover eine Fiktion, allerdings offenbar eine mit einem hohen Wünschbarkeitswert. Das heißt, es wurde uns von unseren Gesprächspartnern häufig vermittelt, daß es früher einmal eine solche Homogenität gegeben habe — ein meist höchst unterschiedlich datiertes, versunkenes „goldenes Zeitalter“ also —, oder sie wünschten sich eine solche Einheitlichkeit für die Zukunft herbei, wovon weiter unten noch zu handeln sein wird.
Den beiden oben genannten Leitfragen entsprechen im Untersuchungsdesign zwei verschiedene Erhebungsphasen und -methoden. Während der ersten Phase wurde versucht, durch Expertenbefragungen vor Ort sowie Recherchen bei verschiedenen Behörden die historische Entwicklung der Selbstorganisation der MigrantInnen aus der Türkei in Hannover zu rekonstruieren. Vor allem die Akten des örtlichen Vereinsregisters erwiesen sich dabei als Fundgrube. Über zwanzig Vereinen wurden aber auch persönlich besucht und in langen Gesprächen mit den Vorständen deren Entwicklungsgeschichte, Ziele und Aktivitäten erhoben.[9] In der zweiten, noch laufenden Erhebungsphase wird eine sehr begrenzte Zahl von Personen mit dem Instrumentarium des problemzentrierten Interviews nach der Bedeutung der community (bzw. der communities) für ihre Lebensbewältigung befragt. Das sehr zeitaufwendige hermeneutische Auswertungsverfahren machte hierbei eine Beschränkung auf eine Fallzahl von voraussichtlich zehn Interviews notwendig.[10] Welche Generalisierungen sich bei gegenwärtigen Stand der Auswertungen[11] abzeichnen, soll weiter unten in zwei exemplarischen Einzelfallanalyse gezeigt werden. Zunächst jedoch möchte ich das Feld umreißen, in welchem sich die türkischen community in Hannover bewegt, und einige Aspekte besonders ihrer frühen Organisationsgeschichte hervorheben.
Die Stadt Hannover hat circa 530.000 Einwohner, davon sind 23.108 amtlich als „Ausländer mit türkischer Staatbürgerschaft“ registriert.[12] Wie aufgrund der spezifischen Zuwanderungsgeschichte aus der Türkei nicht anders zu erwarten, ist diese Bevölkerungsgruppe verhältnismäßig jung: 36 Prozent sind Jugendliche, aber nur knappe vier Prozent sind im Rentenalter.[13] Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist mit 53 zu 47 Prozent nicht ganz ausgewogen, aber auch nicht sehr asymetrisch. Von diesen demographischen Gesichtspunkten her ist also an der türkischen community in Hannover nichts Außergewöhnliches. Die türkische Population in Hannover — „türkisch“ steht hier immer als Kürzel für: „mit türkischer Staatsangehörigkeit“ — ist von 1980 bis 1990 fast konstant bei 20.000 Personen geblieben, bis 1992 stieg sie auf 23.000 und stagniert seither auf diesem Niveau. Langfristig ist durch die rapide steigende Zahl von Einbürgerungen (Schätzwerte für 1993: 205, 1994: 320, 1995: 630 Personen)[14] wieder mit einem Rückgang zu rechnen, weil Eingebürgerte natürlich von den kommunalen Behörden nicht mehr als „Ausländer“ erfaßt werden. Dies hat — nebenbei bemerkt — dazu geführt, daß der sogenannte „Ausländerbeirat“ der Stadt Hannover gegen Ende seiner Amtsperiode kurz davorstand, seine Beschlußfähigkeit zu verlieren, da immer mehr seiner Mitglieder sich hatten einbürgern lassen und dadurch ihren Sitz in diesem Gremium verloren, das ja für „Ausländer“ reserviert ist.
Was das Thema „Ghettobildung“ angeht, so gibt nichts in Hannover, was dieser Bezeichnung entsprechen würde. Selbst wenn man auf die sehr kleinteilige Gliederung der statistischen Bezirke der Stadt heruntergeht, findet man nur drei Bezirke, in denen der Anteil der Einwohner mit türkischer Staatsbürgerschaft mehr als 10 Prozent ausmacht. Spitzenreiter ist hier die Hochhaussiedlung Vahrenheide Ost mit 16 Prozent (1.406 von 8.802 Einwohnern insgesamt).[15] Aber auch dort gibt es nirgends einen Block oder Straßenzug, der ausschließlich oder auch nur mehrheitlich „türkisch“ geprägt wäre. Selbst im Bezirk Linden-Nord, in welchem die Zahl der türkischstämmigen Einwohner mit rund 2.800 in absoluten Zahlen am höchsten ist, gibt es nichts, was den Begriff „Ghetto“ im Sinne von „Chinatown“ oder „Little Italy“ rechtfertigen würde.
Wenn es überhaupt einen Ort in Hannover gibt, der im öffentlichen Bewußtsein klar „türkisch“ ist, dann ist es der „Steintor“ genannte Platz im Stadtzentrum mit der einmündenden Goethestraße. Doch was hier das „türkische“ Gepräge ausmacht, ist die Vielzahl von Geschäften und Restaurants, die sich auf Lebensmittel, Speisen und Waren aus der Türkei spezialisiert haben. In der Bezirksstatistik hingegen rangiert das Steintor, was die Präsenz von türkischstämmigen Bewohnern angeht, nur im Mittelfeld.[16]
Wenn man also in Hannover nach den Formen von Gemeindestrukturbildung unter den Türkischstämmigen Ausschau halten will, dann hat man es nicht oder sehr wenig mit Folgen räumlicher Kopräsenz oder Verdichtung zu tun. Vielmehr geht es um Formen freiwilliger sozialer Kooperation und Verpflichtung gerade trotz zerstreuter Siedlung. Deshalb bildten Vereinslokale, Moscheen, Kaffeehäuser und andere Treffs ein bevorzugtes Objekt unseres Interesses.
Noch einmal zur Statistik: Derzeit gibt es knapp 50 wirklich aktive türkische Vereine in Hannover. Davon sind acht Sportvereine — wobei Sport in diesem Falle siebenmal Fußball und einmal Kampfsport (Taekwando) heißt, also eine reine Männerveranstaltung ist. Die restlichen verteilen sich so: acht sind eindeutig religiöse Vereine (wobei nur sechs eine Moschee unterhalten)[17], zwei sind noch Arbeitervereine des alten Stils, die vermutlich zusammen mit der Generation ihrer Gründer aussterben werden. Weitere vier kann man als Vereine mit explizit politischer Stoßrichtung rechnen.[18] Die größte Gruppe, nämlich 17 an der Zahl, bilden die Kultur-, Wohlfahrts- oder Kaffeehausvereine. Die letzte Gruppe, die ich als Berufs- oder Funktionsgruppenvereine (z.B. Lehrer-, Rentner-, Eltern-, Unternehmervereine) rubrizieren möchte, umfaßt sieben Vereine. Diese sind insofern auffällig, als hier sechs von sieben erst in den 90er Jahren gegründet wurden. Überhaupt scheint das Neugründen von e.V.s ungebrochen beliebt zu sein, in den 90er Jahren kamen im Schnitt vier neue Vereine mit explizitem Bezug zum „Türkisch-Sein“ pro Jahr zum Eintrag.[19] Eine Aufsplitterung in regionalistisch oder ethnisch bestimmte Denominationen — wie wir sie nach ersten Indizien anfänglich vermutet hatten — ist jedoch nicht eingetreten. Gleich zu Anfang unserer Recherchen stießen wir z.B. auf einen Verein, der sich unter dem Namen „Karadenizliler Birliği“ (frei übersetzt: „Union der Menschen von der Schwarzmeerküste“) um die Registrierung als „e.V.“ bemühte. Weiter wurde 1993 ein „Bund der West-Trazien Türken in Hannover“ bei Vereinsregister eingetragen. Außerdem gibt es auch einen Fußballclub namens „Yıldırımspor“, dessen Mitglieder sich aus dem Kreis zweier engverwandter, sehr extensiver Familienclans, eben den Yıldırıms und den Ertürks, rekrutieren. Doch zeigte sich bei genauerem Hinsehen, daß hieraus kein Trend abzuleiten ist. Als letztlich treibendes Motiv hinter diesen Gruppierungen erwies sich jeweils etwas anderes als Regionalismus, campanilismo oder Ethnizität: Wenn man etwa weiß, daß der Familienclan der Yıldırıms und Ertürks zur alevitischen Religionsgruppe gehört, dann scheint diese Vereinsbildung doch eher im Kontext eines allgemeinerer Trends zu stehen, nämlich daß die Aleviten sich in Europa generell und sehr erfolgreich separat organisieren.[20] Der Schwarzmeerküsten-Verein hingegen erwies sich bei einer Begehung als einer der nicht wenigen Vereine, deren Aktivität sich im Betreiben einer Teestube erschöpft. Trotz seiner regionalistisch-partikularistisch anmutende Namensgebung scheint es sich hier vor allem um eine Art Konkursverwaltung eines der drei großen türkischen Arbeitervereine aus den 70er Jahren zu handeln.[21]
Wenn es also überhaupt — neben der Etablierung einer separaten Vereinsstruktur der Aleviten — eine qualitativ neue Entwicklung gibt, dann sind es die Gründungen berufs- oder funktionsgruppenspezifischer Vereine: Rentner, Ärzte, Arbeitgeber, Studenten, Ingenieure und Eltern schließen sich auf der Grundlage zusammen, türkischstämmige Rentner, Ärzte, Ingenieure und so weiter zu sein, und sie versuchen, als pressure groups auf eine Verbesserung ihrer gemeinsamen Lage hinzuwirken. Die Arbeitervereine der 60er und 70er Jahre hingegen sind auch in Hannover nach langem Siechtum endgültig verschwunden.[22]
Betrachtet man insgesamt die historischen Entwicklungslinien, so war eine der größeren Überraschungen bei unseren Recherchen, daß die Anfänge der türkischen community in Hannover lang vor den Abschluß des deutsch-türkischen Anwerbevertrages im Oktober 1961 zurückreichen. Und zwar waren diese Anfänge in den 50er Jahren studentisch gewesen. Vereinzelt waren türkische Studenten an der damaligen Technischen Universität Hannover (TU) schon in den 30er und 40er Jahren anzutreffen, doch überstieg ihre Zahl kaum je ein halbes Dutzend pro Jahr, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sank ihre Zahl schließlich auf Null.[23]
Der erste türkische Student in Hannover im Jahr 1950 bedeutete also einen völligen Neubeginn. Von da ab stieg die Zahl stetig bis zum Jahr 1961, wo mit 96 immatrikulierten Studenten aus der Türkei ein vorläufiger Höchststand erreicht wurde.[24] Rechnet man türkische HochschulabsolventInnen auf Suche nach Praktikumsplätzen hinzu, dann machten die Bildungsmigranten bis 1961 fast die Hälfte aller türkischen Staatsangehörigen in Hannover aus.[25] Einer von ihnen ist z.B. Herr Erdoğan[26], der 1960 als 25jähriger Germanistikabsolvent eigentlich nur für ein Praktikum nach Hannover kam und sich aber später als Dolmetscher dauerhaft hier etablierte. Zum Zeitpunkt seiner Ankunft — also 1960 — war das Verhältnis zwischen BildungsmigrantInnen und anderen immer noch annähernd Hälfte/Hälfte: von gut 180 türkischen Staatangehörigen in Hannover waren knapp 80 TU-Studenten. Einige von diesen taten sich zusammen und ließen sich als „Türkischer Studentenverein“ von der TU förmlich registrieren. Dieser Zusammenschluß bildete somit die erste türkische Selbstorganisation in Hannover überhaupt.
Für unseren Zusammenhang ist es nun interessant, daß Herr Erdoğan, im Gespräch auf die Größe der türkischen community in dieser frühen Zeit angesprochen, ohne zu zögern eine exakte, faktisch aber viel zu niedrige Zahl nannte: es seien 1960 genau 34 Türken in Hannover gewesen, die sich alle wie eine große Familie um einander gekümmert hätten. Treffpunkt seien damals die Räume der Carl-Duisberg-Gesellschaft gewesen. Offenkundig hatte Herr Erdoğan weder Berührung mit dem Türkischen Studentenverein, der sich in Räumen der TU traf, noch scheint er nicht-akademische Kreise groß zu Kenntnis genommen zu haben. Dabei veränderte sich gerade damals die Balance zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern binnen nur weniger Jahre drastisch: 1963 z.B. waren von knapp 600 türkischen Staatsbürgern in Hannover nur noch etwa 90 Studierende, dem gegenüber gab es schon knapp 400 KontraktarbeiterInnen.[27]
Trotzdem scheint die akademische Gruppe wohl noch längere Zeit tonangebend geblieben zu sein. Denn als im September 1963 ein „Verein türkischer Arbeitnehmer“ gegründet wurde, ging die Initiative hierfür vom Studentenverein an der TU aus. Nicht zufällig wurde ein Aktivist des Studentenvereins kurz nach der Gründung zum ersten Vorsitzenden des Arbeiternehmervereins gewählt. Der Studentenverein kümmerte sich darum, daß die Arbeiterwohlfahrt (AWO) den neuen Verein von Anfang an unter ihre Fittiche nahm und u.a. Räume als Vereinslokal zur Verfügung stellte. Im Vorstand des Arbeiternehmervereins wechselten sich die Sozialbetreuer der AWO mit Studenten und Ingenieuren ab.[28]
Der Arbeiternehmerverein war damit während der 60er Jahre praktisch eine amtliche Fürsorgeinstitution: Die AWO zahlte die Miete für das Lokal aus Zuschüssen des Arbeitsministeriums und alle Dokumente des Vereins wurden vom örtlichen Vorstand der AWO gegengezeichnet, von Autonomie und Eigenorganisation konnte also kaum die Rede sein. Es soll allerdings auch nicht verschwiegen werden, daß gegen Ende der 60er Jahre immer öfter Aktivitäten von den Mitgliedern einfach an der AWO vorbei organisiert wurden.[29]
Vergleicht man die Befunde des Bamberger Forschungsprojekts von Yalçın-Heckmann u.a.[30] , fallen die Unterschiede sofort ins Auge. Während in Bamberg der 1974 gegründete türkische Arbeitnehmerverein für einige Jahre praktisch alle Mitglieder der dortigen reinen Arbeiterkolonie zu einer realen face-to-face-Gemeinschaft zusammenbringen konnte und die erst später entsandten Lehrer und imams die ersten Intellektuellen dort überhaupt darstellten, existierten in Hannover schon organisierte studentische Zusammenhänge, noch bevor die ersten Kontraktarbeiter eintrafen. Bei der Gründung des Arbeiternehmervereins standen somit Intellektuelle als ‚Geburtshelfer‘ zur Verfügung, die teilweise schon fast ein Jahrzehnt Erfahrung vor Ort gesammelt hatten. Und wärend in Bamberg erst mit der Etablierung der zweiten Generation eine Herausdifferenzierung einer Mittelschicht begann, ergriffen in Hannover die ehemaligen Bildungsmigranten schon viel früher die Chance, sich mit Dolmetscher- und Reisebüros oder Ex- und Importläden selbständig zu machen. Eine Phase weitgehender sozialer Einheit hingegen, die auch Ausdruck in organisatorischen Formen gefunden hätte, scheint es in Hannover nicht gegeben zu haben.
Damit mag der Blick auf die historischen Entwicklungslinien sein Bewenden habe, im weiteren wird es um die Interviews der zweiten Erhebungsphase gehen, deren (vorläufige) Ergebnisse anhand zweier Einzelfallanalyse skizziert werden sollen.
Unser erster Gesprächspartner, Herr Akpınar[31] , ist ein 52jähriger, gestandener Freiberufler mit akademischer Ausbildung und langjähriger Fachqualifikation. Er migrierte — nach Abschluß seines Universitätsstudiums in Istanbul — Mitte der 70er Jahre nach Deutschland und nahm eine Stelle in einer öffentlichen Institution in einer norddeutschen Kleinstadt an, um dort eine vierjährige berufliche Weiterqualifikation zu absolvieren.[32]
Anders als die Generation der KontraktarbeiterInnen, die in der Zeit zwischen 1961 und 1973 aus der Türkei migrierten, kam Herr Akpınar als bereits hoch qualifizierte Fachkraft in die BRD, als ein momentaner Mangel an Fachkräften auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt ihm die Gelegenheit gab, seiner Ausbildung im Ausland den letzten Schliff zu geben. Nur eins hatte Herr Akpınar mit den Kontraktarbeitern gemein: auch er wollte, wie all die anderen, nach Erreichen eines klar terminierten Ziels (Abschluß der Weiterbildung) in die Türkei zurückkehren. Das heißt, der Aufenthalt in der BRD war von vornherein als befristet geplant und hatte daher weniger den Charakter einer Migration denn den eines ausgedehnten Auslandsaufenthalts. Tatsächlich aber blieb Herr Akpınar auch nach Ablauf der Vierjahresfrist. Ein wichtiger Grund hierfür dürfte sein, daß er sich dauerhaft mit einer einheimischen Kollegin befreundet hatte, die er schließlich auch heiratete. In der Entscheidung zur Heirat erblickt Herr Akpınar heute den eigentlichen „Wendepunkt“ in seinen Leben:
Der Wendepunkt die Heirat gewesen. Ja, das ist der Wendepunkt, sonst mußte ich denn da zurück, ja? Da gibt's keine mehr, wenn ich denn geheiratet habe und dann kommt die Kinder und so weiter, dann der Wendepunkte war, daß [...] wir ... entschieden haben doch heiraten. Das war der Wendepunkt, das ist '83 gewesen.“ (Akpınar S.15/5-11)
Die Heirat und die Geburt zweier Kinder markierten demnach den Beginn seiner dauerhaften Etablierung in der BRD. Weitere Stationen waren der Wechsel des Arbeitsplatzes nach Hannover, was mit einem Sprung auf der Karriereleiter verbunden war, der Kauf eines eigenen Hauses, dann die Gründung eines eigenen Betriebes vor zweieinhalb Jahren und schließlich im letzten Jahr die Einbürgerung.
Geht man nach den gängigen Vorstellungen, was eine gelungene Integration in diese Gesellschaft ausmacht, so steht Herr Akpınar geradezu als ein Musterbeispiel dar: im Berufsleben ist er eine von Kollegen wie Kunden respektierte Autorität, wobei die meisten seiner Kunden Einheimische sind. Und auch im Privatleben signalisieren die stabile Ehe mit einer Einheimischen und gute Kontakte zu deren weiteren Verwandtschaft eine positive Aufnahme durch die Mehrheitsgesellschaft. Herr Akpınar seinerseits demonstrierte von Anfang an große Aufgeschlossenheit gegenüber der hiesigen Gesellschaft, indem er nicht nur zielstrebig Deutsch lernte, sondern auch Anschluß bei einheimischen Kollegen suchte und fand. Die guten Sozialkontakte gerade in den Anfangsjahren seiner Zusatzausbildung hält Herr Akpınar in lobender Erinnerung:
„...die Leute haben uns eingeladen, das heißt einheimische Leute. Die Deutschen zum, zum Zusammenfeiern [...] wir haben das immer mitgemacht und da haben wir nie einsam gefühlt. Da hatten wir jeden Abend entweder eine Kollege oder bei mir oder andere Kollege oder eine deutschen Familie was zum Feiern, etwas zu unterhalten, Musik machen, tanzen und so. Das war [...] die beste Zeit für uns, waren nie einsam.“ (Akpınar S.10/6-16)
Auf Grund seiner persönlichen Erfahrungen ist Herr Akpınar also weit davon entfernt, sich als randständig oder als von der Mehrheitsgesellschaft zurückgewiesen zu erfahren. Nur an einer einzigen Stelle verweist Herr Akpınar auf unmittelbar selbst erlebte Diskrimierung, nämlich hinsichtlich einer vermuteten Blockade seiner Aufstiegsaussichten in höchste Chefpositionen.[33] So gesehen erscheint Herrn Akpınars Antrag auf Einbürgerung als fast zwangsläufiger Endpunkt einer gelungenen Integrationsgeschichte.
Bei Frau Demirtaş[34] hingegen, unserer zweiten Gesprächspartnerin, liegen die Dinge erheblich anders. In gewisser Weise ist — um es der Pointierung willen etwas zynisch vorwegzunehmen — Frau Demirtaş der Alptraum eines jeden konservativen Sozialpolitikers. Aber der Reihe nach: Frau Demirtaş gehört zur Pionier-Generation der Kontraktarbeiterinnen der 60er Jahre. Sie ließ sich als sehr früh verwitwete und selbständige Frau Mitte Dreißig bereits 1963 von einer Textilfabrik im Ruhrgebiet anwerben. Frau Demirtaş betonte, daß nicht ökonomische Aspirationen sie zur Migration trieben — im Gegenteil: Sie habe dafür eine florierende selbständige Existenz in Ankara aufgegeben, wo sie in einer eigenen Schule Handwerksunterricht für Frauen erteilte. Es waren Neugier und Lust auf Veränderung, die sie motivierten.
Mein Gott, es gab keinen Grund. Ich wollte Deutschland sehen. Ich bin gekommen und war der Meinung, meinen Beruf handwerklich weiterentwickeln zu können. Ich kam und blieb, das war's.“ „Es fehlte uns an nichts. Es war eben Neugier. (Anflug von Lachen) Einige meiner Schülerinnen sind noch früher hierhergekommen. Durch ihre Anregung .... habe ich auch Lust bekommen, auf diese Weise bin ich hierhergekommen.“[35]
Heute ist sie über 70 Jahre alt, Rentnerin und von schwerer Krankheit gezeichnet, vor allem durch ein Wirbelsäulenleiden in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Durch einen schicksalhaften Unfall verlor sie bereits in den 60er Jahren einen großen Teil ihres Arbeitsvermögens. Wenn es einen Wendepunkt in Frau Demirtaş' Leben gab, dann war es dieser folgenschwere Unfall, der eine Rückkehr in die Türkei in weite Ferne schwinden ließ. Wie zum Beweis, daß es nicht ihre Schuld war, wiederholte Frau Demirtaş mehrfach, daß sie zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung vollständig gesund gewesen sei:
Ich war ganz gesund. Mir fehlte nichts. Wir mußten ja sowieso zur Untersuchung. Viele sind erst später eingewandert, die sind ausgenommen, aber wir sind gesund gekommen. (lacht)“[36]
Es dauerte über ein Jahrzehnt, bis ihre Behinderung amtlich anerkannt wurde. Als alleinstehende Frau ohne Familienangehörige in der BRD, die sie hätten unterstützen können, mußte sie sich in dieser Zeit mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. So verkaufte sie Flugtickets für Turkish Airlines und arbeitete als Kassiererin für den Besitzer einiger Arbeiterwohnheime. Kurzfristig versuchte sie sich auch wieder als Selbständige in ihrem angestammten handwerklichen Gewerbe, mußte aber bald wegen ihrer Krankheit wieder aufgeben. Und obwohl sie kaum je mehr Deutsch lernte, als für den Einkauf im Supermarkt notwendig war, gestaltete Frau Demirtaş bei allen Schwierigkeiten ihr Leben weiterhin selbständig, wechselte sogar als Rentnerin noch einmal die Stadt, um — über vierzig Jahre nach dem Tod des ersten Mannes — noch einmal zu heiraten und wieder von vorne anzufangen.
Meinen ersten Mann habe ich 1943 verloren. Wir haben sehr jung geheiratet, und nach anderthalb oder zwei Jahren ungefähr verstarb er dann, Gott möge Ihnen ein längeres Leben geben! Danach, nachdem sehr viele Jahre vergangen waren, habe ich hier geheiratet. Das war gezwungenermaßen, aus dem Gefühl des Alleinseins heraus. Es war aber nicht möglich, mit ihm zusammenzuleben.“[37]
Das Scheitern ihrer Pläne bewältigte Frau Demirtaş mit bemerkenswerter Konsequenz:
Also, was weiß ich, was mich dazu gebracht hat. Wegen der Einsamkeit? Und als ich dann gekommen bin, haben wir uns nicht verstanden, dann habe ich mich getrennt.“ „Er war auch Rentner (im Original deutsch), war sehr krank und auch nicht ganz richtig im Kopf. (lacht) Ich konnte nicht mit ihm. [...] ich bin nur siebzehn Tage geblieben.“[38]
Obwohl das faktisch bedeutete, daß sie von einem Tag auf den anderen in einer ihr unbekannten Stadt obdachlos wurde, blieb sie bei ihrer Entscheidung, suchte mit Hilfe des Sozialdienstes der Arbeiterwohlfahrt eine Unterkunft und lebt seither wieder allein.
Da ihre Rente sehr niedrig ausfiel, ist Frau Demirtaş seit langem auf Unterstützung vom Sozialamt angewiesen. Daher hat sich auch das Thema der Einbürgerung für sie, die durchaus an der deutschen Staatsbürgerschaft interessiert wäre, nie ernstlich gestellt.[39] „Arzu ettim, ama olmadı.“ („Ich wollte es, aber es ging nicht.“ Demirtaş S.18/8)
Die beiden von mir geschilderten „Fälle“ — vielleicht sollte man besser sagen: „Lebensverläufe“ — könnten unterschiedlicher kaum sein: Auf der einen Seite der beruflich etablierte, promovierte Selbständige, der hier in der BRD eine „gemischte Familie“ (Zitat Akpınar) gegründet hat, sich einbürgern ließ und Grundbesitz erworben hat, und auf der anderen Seite eine praktisch mittellose Rentnerin, die in der Migration — wie sie es selbst ausdrückt — „alles verloren hat“: ihre Gesundheit, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und die meisten ihrer Sozialkontakte. Der eine zählt auf Seiten der Einheimischen auch schon mal einen Oberbürgermeister einer bundesdeutschen Großstadt zu seinen Gesprächspartnern, die andere freut sich, wenn wenigsten ihre einheimische Flurnachbarin zu ihr fernsehgucken kommt, da diese selbst kein Fernseher besitzt. Natürlich ist dieser scharfe Gegensatz kein Zufall, sondern wir haben unsere Gesprächspartnerinnen und -partner gezielt nach solchen Gesichtspunkten ausgewählt (Methode des „maximalen Fallkontrastes“).
Die Tatsache, daß es ausgerechnet Frau Demirtaş ist, die auf die Frage, ob sie sich hier in Hannover heimisch fühle, umstandslos mit „ja“ antwortete, während Herr Akpınar zögerlich meinte „ja, halb, fast, halb, nicht ganz“, muß auf den ersten Blick verblüffen. Herr Akpınar bekannte sogar, daß er lieber heute als morgen nach Istanbul zurückkehren würde — wenn bloß seine Familie mitziehen wollte. Konkret wünschte er sich, zumindest die Zeit nach der Pensionierung in der Türkei zu verbringen:
Aber meine [...] Pensionierungszeit, die würde ich in meiner Heimat verbringen, wenn es möglich geht. Deshalb hab' ich auch eine Wohnung in Istanbul. ... und ich versuche — das ist in Istanbul —, ich versuche, — noch nicht, aber bald — eine Ferienwohnung zu kaufen und dann da leben bleiben. Etwas in meiner Heimat leben kann.“ (Akpınar S.58/15-24)
Ebenso stand für Herrn Akpınar außer Frage, daß sein Grab sich dereinst in „seiner Heimat“ befinden solle:
Akpınar: „[...] für mich persönlich meinen Sie? Ich würde gerne in meine Heimat. Mein [...]
Wunsch ist meine Heimat.“
Behrendt: „Sie würden gerne in [tk. Geburtsort] (A.: Genau.) begraben sein.“
Akpınar: „Genau, so ist es. Wir haben das [...] große Grundstück und so weiter, eigener Friedhof ist.
(leise) Da würde ich das gerne machen. Nicht hier in Hannover.“ (Akpınar S.55/6-14)
Es ist offenkundig, daß Herr Akpınar — trotz des bald zwanzigjährigen Aufenthalts in der BRD und der Aussicht auf mindestens ein weiteres Jahrzehnt hier — unverändert die Türkei als seine Heimat betrachtet. Frau Demirtaş hingegen konnte keinen Vorteil darin erkennen, in der Türkei begraben zu werden.
Sarış: „Können Sie sich vorstellen, daß Ihre Grabstätte in Hannover sein könnte? Oder würden Sie
gerne in die Türkei zurückgehen?“
Demirtaş: „Natürlich, das kann ich mir vorstellen. Wenn ich in die Türkei ginge, wäre der Grund der, daß es für mich
wichtig ist, daß man mich besucht. Nachdem ich gestorben bin, ist es mir egal, wo man mich
begräbt.“[40]
Ich möchte diese biografischen Miniaturen — so faszinierend sie aus sich heraus schon sind — nicht weiter vertiefen, sondern sie sogleich wieder einbetten in die Hauptfragerichtung des Projekts: Was bedeutet im Kontext dieser Migrationsbiografien die Herausbildung einer in vielfältiger Weise institutionalisierter Migranten-community, wie sie weiter oben skizziert wurde?
Für Herrn Akpınar etwa spielte es bei der Frage, wo er sich mit seiner Familie für die weitere Zukunft niederlassen sollte — und er mußte mit einer weiteren Verweildauer in der BRD bis zum Erreichen des Rentenalters rechnen —, offenbar eine erhebliche Rolle, daß in Hannover eine „ausreichende“ Anzahl an türkischen Cafés, Restaurants und Kaufläden vorhanden war und ist.
Sonst könnte ich ja mein Geschäft da in Ostfriesland und so haben.“ (Akpınar S.38/3-4) „Natürlich können Sie ja das nicht vergleichen da, wie Sie in Istanbul leben oder hier leben. Können Sie nicht vergleichen. Aber, wie ich sagte, diese Einkaufsmöglichkeiten, dies mit den Leuten zusammentreffen und so weiter, natürlich ist das etwas Nähe, nicht?“ (S.54/3-8)
Dies weiß er besonders zu schätzen, da er zuvor während seiner Zusatzausbildung praktisch ganz ohne Bezüge zum türkischen Lebenstil hatte auskommen müssen.
...wenn ich denn direkt nach Hannover gekommen wäre, könnte ich gar nicht wissen. Aber ich hab' ja zwischendurch da gelebt, wo keine Türken und so oder kein türkisches Geschäft und so gibt's. Hab' ich ja da gelebt, das weiß ich ja, das war ganz schwierige Zeit.“ (Akpınar S.53/8-12)[41]
Die Herausbildung einer institutionalisierter Migranten-community in Hannover ist für Herrn Akpınar also zweifellos höchst bedeutsam. Dies läßt sich auch an weiteren Bezügen zeigen. So ist er beispielsweise stark in der türkischen Vereinsszene involviert. Außer einer eher passiven Mitgliedschaft in einem kemalistischen Kulturverein pflegt er zwei sehr aktive Vereinsmitgliedschaften. In dem einen Verein hat er sogar in der Zeit nach dem Interview den Posten des ersten Vorsitzenden übernommen. Herr Akpınar besucht gelegentlich die türkischen Innenstadtcafés und wenn er es schafft, ist er auch schon mal bei einem Match der lokalen türkischen Fußballvereine als Zuschauer zugegen. Auch bei den sehr feierlichen Empfängen des türkischen Generalkonsuls anläßlich des Jahrestages der Ausrufung der Türkischen Republik ist er regelmäßig geladener Gast.
Für Frau Demirtaş kommen aus naheliegenden Gründen viele dieser Formen der community-Bezüge nicht infrage, als muslimische Frau wäre sie beispielsweise in einem türkischen Kaffeehaus unter lauter kartenspielenden Männer völlig fehl am Platze. Geschlechtsrollenspezifisch läge es schon eher nahe, daß sie vielleicht während des islamischen Fastenmonats Ramadan eine der sechs Moscheen der Stadt aufsuchte. Denn zwar ist auch die Moschee als gemeinde-öffentlicher Ort wesentlich ein Raum für Männer, nur für sie ist das gemeinschaftliche Gebet in der Moschee Pflicht.[42] Doch wird diese Männerzentriertheit während des Ramadan — zumindest hier in der BRD — häufig durch ein nach Sonnenuntergang begangenes, geselliges Fastenbrechen (iftar) aufgelockert.[43] Als wir Frau Demirtaş danach fragten, waren wir überrascht von der Vehemenz, mit welcher sie jeglichen Kontakt mit einer der hiesigen Moscheen von sich wies.
Demirtaş: „Habe ich überhaupt kein Interesse dran. [...] Alles Schwindel.“ (lacht)
Sarış: „Alles Schwindel. Gehen Sie dann überhaupt bei religiösen Feiern oder während des Ramadan in die Moschee?
Überhaupt?“
Demirtaş: „Ich gehe nie hin.“
Sarış: „Also, sind Sie jemals in Hannover in eine Moschee gegangen, oder haben Sie eine Moschee von innen
gesehen?... Sie haben nie eine gesehen? Mhm.“
Demirtaş: „Nur einmal bin ich dahin gegangen, als ich keine Wohnung hatte und auf der Straße war. Weil ich
kein Kopftuch hatte, (lacht) haben sie sich überhaupt nicht um mich
gekümmert.“[44]
Glaube ist für Frau Demirtaş, die nach eigenem Bekunden von ihren Eltern gelernt hat, den Koran im arabischen Original zu lesen, eine häusliche Angelegenheit.
Nie. Ich bin nie hingegangen. [...] Wer beten will, kann auch zu Hause beten, wozu braucht man die Moschee?“[45]
Im übrigen sei es Aufgabe der Familie, die Kinder religiös zu unterweisen und zu fördern, auch hierfür seien Moscheen überflüssig. Sie jedenfalls habe nicht das geringste Bedürfnis, die Menschen kennenzulernen, die die hiesigen Moscheen betrieben.
Auch hierin konstrastiert Herr Akpınar, der u.a. den Vorsitzenden des lokalen DİTİB-Moschee-Vereins zu seinem Freundeskreis zählt. Allerdings beschränken sich seine Moscheebesuche auf die beiden höchsten Feiertage im islamischen Kalender: Kurban Bayramı und Şeker Bayramı. In dieser Hinsicht ist Herrn Akpınars gemeinde-öffentlich vollzogene Glaubenspraxis ungefähr vergleichbar mit der eines Katholiken, der die Heilige Messe nur zu Weihnachten und Ostern aufsucht.
Ich bin kein so strenger Gläubiger, ja? Ich bin, sagen wir, so Laizist.“ „... aber gut, wenn ich denn nun im Jahre zweimal (lacht) Moschee gehe, das...“ (Akpınar S.39/25-27 und 36-38)
Anders als Frau Demirtaş jedoch hält Herr Akpınar das, was Kinder türkischstämmiger MigrantInnen hier in den bundesdeutschen Schulen über den Islam, die Religion ihrer Eltern, lernen können, für ungenügend. Hierzu muß man anmerken, daß in Niedersachsen nur die Schülerinnen und Schüler, die am muttersprachlichen Zusatzunterricht teilnehmen, in diesem Rahmen auch etwas Religionskunde erhalten. Herr Akpınar hält daher Korankurse — sofern sie in der ‚offiziellen‘, also der von der Türkei autorisierten DİTİB-Moschee erteilt werden — durchaus für eine akzeptable Option.
Vielleicht kann man diese Differenz über die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Haltung zu Moscheen hinaus so interpretieren, daß der Glaube bei Frau Demirtaş auf eine innere Gewißheit gründet und das Fundament ihrer Verortung in der Welt abgibt. Der Glaube setzt sie vor allem zu sich selbst und vielleicht noch zu ihrer Familie in Beziehung. Für Herrn Akpınar hingegen scheint der Islam mehr ein Teil türkisch-nationaler Kultur, ein Stück des „Wir“ zu sein. Die Frage nach der Religion berührt ihn persönlich weniger, doch möchte er diese Ressource im kollektiven Kontext nicht vernachlässigt sehen. Es ist überhaupt auffällig, daß Herr Akpınar insgesamt mehr in Kategorien des „wir“ argumentierte[46], während Frau Demirtaş sich überwiegend „ich“-bezogen äußerte.
Wenn ich mich noch einmal auf unsere Ausgangsfrage zurückbeziehe, was die Etablierung einer oder vieler organisierter communities für die Lebensbewältigung von Frau Demirtaş bedeutet, so scheint es nicht viel zu sein. Dies wäre aber nur ein unvollständiges Bild, denn auch Frau Demirtaş liest fast ausschließlich Zeitschriften und Bücher aus der Türkei (bevorzugt allerdings Übersetzungen aus anderen Sprachen), in ihrem Fernseher läuft — wenn nicht gerade die Nachbarin zu Besuch ist — das türkische Programm TRT-International. Außerdem besucht sie — soweit ihre Erkrankung es zuläßt — die Gesprächskreise für türkische Migrantinnen, die eine sehr aktive Mitarbeiterin der AWO in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut hat.
Ich hoffe, es ist mir gelungen aufzuzeigen, wie vielschichtig und auch widersprüchlich die Formen der sozialer Bezugnahme im Migrationskontext sind. Mit bipolaren Mustern im Sinne von Integration versus Konflikt scheint diesen nicht beizukommen zu sein. Der rechtlich, statusmäßig und sozial vollständig in diese Gesellschaft eingebundene, etablierte Herr Akpınar wird sich in Hannover nie wirklich heimisch fühlen, da das Gefühl von Heimat für ihn mit Erinnerungen verknüpft ist, wie z.B. solchen an das pulsierende Leben in den Straßen des nächtlichen Istanbuls mit seinen überfüllten Restaurants:
Das ist ganz anderes Leben. [...] gehen wir einmal abends, laufen wir 'rum in Istanbul Restaurants, wie die aussehen. Wenn Sie dann hingehen, ist alles voll, kriegen Sie kein Plätze. Wenn Sie hier ausgehen, ist alles leer. Dort so viele Leute gibt's. Das ist ganz anderer Lebensstil, ja?“ (Akpınar S.54/38-43)
In der BRD zu leben, leben zu müssen, während sich das genußvolle, „ganz andere Leben“ in der Türkei abspielt, ist für Herrn Akpınar Quell von Unzufriedenheit und ambivalenten Gefühlen. Und so wird der Aufenthalt hier — allen selbstgeschaffenen, gegenteiligen Fakten zum Trotz — unverändert als transitorisch entworfen. Trotzdem sagt er über sich selbst:
[...] wenn Sie mich fragen, bin ich auch bißchen anders geworden. Wenn ich von hier in die Heimat komme, sagen die: ‚Aha, Du bist ja ein Deutscher geworden.‘“ (Akpınar S.57/21-23)
Nicht zufällig wohl gehören „Monitor“ und „Aspekte“ zu seinen bevorzugten Sendungen im Fernsehen. Seine Tageszeitung hingegen ist die „Milliyet“, daneben liest er ein deutschsprachiges Nachrichtenmagazin.
Frau Demirtaş hingegen, die allein schon wegen ihrer geringen aktiven Beherrschung der deutschen Sprache, mehr noch aber wegen ihrer bedrückenden sozialen Lage ganz am Rande dieser Gesellschaft steht, wünscht sich nichts anderes, als ihren Lebensabend in Würde hier zu erleben. Sie möchte auch als Rentnerin so selbständig bleiben, wie sie es ihr ganzes Leben über gewesen ist. Dieses Ziel kann sie in der BRD besser realisieren als in der Türkei. Eine Sorge quält sie jedoch, nämlich daß man versuchen könnte, sie in ein Altersheim einzuweisen.
Nur in einer Sache habe ich Bedenken. Falls sie mich ins Heim (im Original deutsch) stecken wollen. Dort kann ich nicht bleiben. Ich möchte nicht in die Lage kommen, in einem Heim (im Original deutsch) leben zu müssen. Denn ich habe in Heimen (im Original deutsch) und im Krankenhaus gearbeitet, ich kenne deren Beigeschmack.“[47]
Der Wunsch, als Frau autonom zu leben, ist offenbar ein zentrales Motiv in Frau Demirtaş' Lebensentwurf. Schon ihre Entscheidung zur Migration hatte damit zu tun, denn ihre Situation als ökonomisch selbständige, alleinstehende Witwe war auch in einer Millionenstadt wie Ankara in den 50er und 60er Jahren nicht einfach gewesen.
Ich komme zum Schluß zurück auf den Ausgangspunkt des Projekts, nämlich Fijalkowkis Thesen zur Bildung ethnischer Kolonien oder communities. Fijalkowskis düstere Mutmaßungen von einem Rückzug auf die selbstgeschaffenen Hilfestrukturen der Kolonie als irreversiblem Schritt in die „Falle einer Ghettoexistenz“, aus welcher dann als letzter Ausweg nur noch ethnischer oder religiöser Protest übrigbliebe[48], hat sich, so denke ich, als viel zu grobschlächtig erwiesen, um der Vielschichtigkeit der real gelebten Gemengelage gerecht zu werden. Auch Elwerts optimistischere Gegen-These von der „Binnenintegration“ in ethnische Gemeindestrukturen „als erstem Schritt zur gesamtgesellschaftlichen Integration“ verbleibt in dieser bipolaren starren Logik von Integration oder Konflikt. Sinnvoller scheint mir eine Orientierung an fließenderen Konzepten, um eine umfassendere Perspektive einzuholen, Konzepten, wie sie offenbar auch Stuart Hall vorschweben, wenn er etwa schreibt:
Das Verständnis von Diaspora-Erfahrung, um das es mir geht, wird nicht von Essenz oder Reinheit bestimmt, sondern von der Anerkennung notwendiger Heterogenität und Verschiedenheit; von einem Konzept von ‚Identität‘, das mit und von — nicht trotz — der Differenz lebt, das durch Hybridbildung lebendig ist. Die Identitäten der Diaspora produzieren und reproduzieren sich ständig aufs Neue, durch Transformationen und Differenz.“[49]
Wie weit ein solches Verständnis von Identität trägt, wird sich im Fortgang der Einzelfallanalysen noch erweisen müssen.
Eins jedoch scheint mir sicher: eine Diskussion um ethnische communities, Identität und sog. gesellschaftliche Integration, die die Ebene dieser widersprüchlichen individuellen Lebensentwürfe, Handlungsmuster und Identitätsstrategien vernachlässigt, muß notwendig in sterilem Schematismus enden. Dies soll die Bedeutungen von Untersuchungen über strukturelle Benachteiligung nicht schmälern, ich plädiere jedoch für eine Erweiterung der Perspektiven.
Dieser Text wurde veröffentlicht in:
Waldhoff, Hans-Peter; Tan, Dursun; Kürşat-Ahlers, Elçin (Hg.)
Brücken zwischen Zivilisationen. Zur Zivilsierung ethnisch-kultureller Differenzen und Machtungleich-heiten.
Das türkisch-deutsche Beispiel
Frankfurt/M. 1997 S.213-234 (ZwischenWelten Bd.1)
Anmerkungen: