„Rassismus / Antisemitismus / Rechtsextremismus“

„Rassismus / Antisemitismus / Rechtsextremismus. Warum uns Begriffe wie Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit oder Islamophobie nicht weiterbringen“

Günter Max Behrendt

Um Rassismus zu verstehen, sollte man zunächst weniger auf einzelne Individuen – z.B. den „Rassisten“ und sein „Opfer“ – schauen, sondern auf die gesamte Gesellschaft, in der diese Individuen leben. Denn Rassismus ist zuallererst ein gesellschaftliches „Ding“. Er ist zwar auch etwas, was eine Person mit einer anderen tut oder ihr antut, also eine „soziale Praxis“. Ebenso ist es nicht falsch, wenn man Rassismus als eine „Ideologie“, also als eine in sich geschlossene Welterklärung beschreibt, die in diesem Fall besonders stark von Ausgrenzung und Abwertung bestimmt ist. Aber weder mit Blick auf Rassismus als Praxis zwischen einzelnen Menschen, noch mit der Interpretation von Rassismus als Ideologie der Ausgrenzung erfasst man das Wesentliche an diesem gesellschaftlichen „Ding“ namens Rassismus.

Dieser Text wurde veröffentlicht in:
Kommunaler Qualitätszirkel zur Integrationspolitik (Hg.) Begriffe der Einwanderungs­ und Integrationspolitik. Reflexionen für die kommunale Praxis Stuttgart 2017 S.34-40. (Online-Veröffentlichung)

Man kann es auch so erklären: Rassismus bewegt sich auf einer ähnlichen Ebene wie Sprache. Auch Sprache ist ein gesellschaftliches „Ding“. So könnte man beispielsweise von einer völlig isoliert aufwachsenden Person nicht erwarten, dass sie aus sich heraus eine Sprache entwickelt. Denn Sprache zu erlernen bedeutet, zu lernen wie Gesellschaft funktioniert. Wie eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit „tickt“, schlägt sich in der/den zugehörigen Sprache(n) nieder und umgekehrt formt diese Sprache ihrerseits die gesellschaftlichen Zustände mit. Ähnlich ist es mit Rassismus.

Rassismus

Trennt man die individuelle rassistische Haltung, Handlung oder Anschauung von den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Wechselwirkungen ab, bleibt ein bloßes Vorurteil (im Sinne von: Fehlurteil in Ermangelung der relevanten Fakten) über: Herr A. hat etwas gegen Türken oder Menschen mit schwarzer Hautfarbe, obwohl er keine eigenen Erfahrungen mit Menschen aus der Türkei oder Menschen mit schwarzer Hautfarbe hat. Nun ist es unstrittig, dass es auch nicht beabsichtigten (nicht-intendierten) Rassismus gibt. Dieser funktionieren ungefähr so: Frau B. hegt persönlich keine Feindseligkeit gegen Menschen aus der Türkei oder mit schwarzer Hautfarbe, trotzdem handelt sie manchmal so, dass Menschen mit Herkunft aus Türkei oder mit schwarzer Hautfarbe sich durch dieses Handeln ausgeschlossen oder diskriminiert fühlen.

Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass ein alleiniger Zugang über das Konzept „Vorurteil“ oder „Stereotyp“ nicht ausreicht, um Rassismus zu verstehen. Gleichwohl haben Stereotype mit Rassismus zu tun.

Wir alle denken in „Schubladen“ (→ Stereotyp = „feste Form“). Das ist normal und erleichtert das alltägliche Leben enorm, ja, das Denken in Stereotypen erhält uns überhaupt erst handlungsfähig. Denn müsste jede neue Situation von uns neu durchdacht werden, kämen wir kaum noch zum Handeln. Stattdessen ordnen wir sie rasch einem bekannten Standardmuster wie „Warten auf die U-Bahn“ oder „Einkaufen im Laden“ zu und handeln entsprechend. Kommen beispielsweise neue Menschen auf den Bahnsteig in der U-Bahnstation, weiß man, ohne sie angeschaut zu haben, dass man sie weder begrüßen, noch ihre Namen in Erfahrung bringen muss, sondern sie einfach ignorieren kann, weil man an der Standardsituation „Warten auf die U-Bahn“ teilnimmt.

Stereotyp

Stereotype reduzieren also Komplexität. Genau das leisten allerdings auch rassistische Denkmuster, nur diskriminieren sie zugleich die Betroffenen massiv. Sie reduzieren einen realen Menschen mit seinen eigenen individuellen Stärken und Schwächen auf die pauschalen Urteile des „schon immer Gewussten“ und machen ihn ohnmächtig. Denn was der Betreffende wirklich tut oder denkt, spielt keine Rolle, wenn rassistisches Wissen zur Anwendung kommt. Man braucht kein/e Rassist_in zu sein, um solche rassistischen Denkmuster zu verwenden und somit ungewollt zu diskriminieren. Deshalb spricht man in solchen Fällen auch von „Alltagsrassismus“. Wenn etwa ein deutscher Arzt, der aus einer Einwandererfamilie stammt, bei der Rückkehr von einer Auslandsreise bei der deutschen Grenzkontrolle gefragt wird, ob er Deutsch spreche, und dann auf die Vorlage eines deutschen Passes zunächst Verblüffung erntet, dann beruht dieses ausgrenzende Verhalten auf dem „Wissen“, dass wer so und so aussieht mit hoher Wahrscheinlichkeit schlecht Deutsch spricht und ganz gewiss kein Deutscher sein kann.

Alltagsrassismus

In dieser beispielhaften Szene war keine individuelle Feindseligkeit im Spiel, keine willentliche Herabsetzung beabsichtigt („intendiert“). Nicht-intendierte Rassismen wirken eben durch die selbstverständliche Anwendung solches fraglos akzeptierten Wissens über gesellschaftliche Verhältnisses („die gehören dazu, jene nicht“). Damit ist auch schon ein wichtiger Einwand gegen die Verwendung der mit „Rassismus“ konkurrierenden Begriffe „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ formuliert: Das Einfließen rassistischen Wissens ins eigene Handeln kann auch ohne feindselige Absicht erfolgen.

Ausländerfeindlichkeit

Die Ausgrenzung, die nicht wenige Migrant_innen durch Kommentare wie „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ erfahren, beruht nicht auf einer bewussten Feindschaft desjenigen, der kommentiert, gegenüber dem Betroffenen. Der Kommentierende wird sich selbst als zugewandten und höflichen Mitmenschen wahrnehmen, der ein angemessenes Lob ausspricht. Was an diesem „Lob“ so trifft und verletzt sind die nicht-ausgesprochenen, ausgrenzenden Grundannahmen, die in darin mitschwingen und für die Betroffenen einen verstörenden Grundton ihres Alltags bilden. („Du gehörst nicht hier her, du bist nicht Teil von uns.“)

Allerdings entlastet das fehlende Bewusstsein über den ausgrenzenden Akt, die wohlmöglich wohlwollende Gedankenlosigkeit des unangebrachten „Lobs“ nicht von der Verantwortung für die Verletzung, die man damit anrichtet. Und dass das Ganze gar nicht so unschuldig geschieht, merkt man spätestens, wenn sich der oder die Ausgegrenzte zur Wehr setzt. Auch nur die leiseste Andeutung, hier könne Rassismus im Spiel sein, wird in der Regel wütend abgewehrt. Vielleicht ist es sogar ein typisches Merkmal von rassistischem Wissen, dass es keine Bereitschaft gibt, darüber nachzudenken.

Rassismus rastert und strukturiert die soziale Welt in „Wir“ und „die Anderen“. Das wird in der Behauptung „Du bist nicht Teil von uns!“ gut sichtbar: „Wir“ sind die, die „dich“ ausschließen können. Das rassistische Wissen leitet mich dazu an, über vollkommen fremde Menschen, über die ich nichts weiß, als dass sie denselben Pass und dieselbe Sprache als Muttersprache haben, zu denken, dass sie seien wie ich. Während ich über ebenso fremde Menschen, über die ich nur weiß, dass sie eine andere Muttersprache haben, die Gewissheit hege, dass sie nicht so sind wie ich. Treten also bei einem Jobinterview eine Bewerberin mit albanischer Muttersprache und eine andere Bewerberin mit deutscher Muttersprache auf, ist die Versuchung für eine/n kommunale/n Entscheider_in, die/der zu den Deutschmuttersprachlern zählt, groß, der letzteren Bewerberin mehr Gemeinsamkeiten mit sich selbst zu unterstellen. Gut ausgebildete Personaler_innen werden dieser Falle durch Selbstreflexion widerstehen, doch die Versuchung ist da.

Ähnlich funktioniert auch jede Begegnung auf der Straße. Faktisch weiß ich über diesen einen „Fremden“, der mir jetzt gerade eben unbekannter Weise gegenüber tritt, ebenso viel oder wenig wie über jedes beliebige Mitglied meiner nationalen Wir-Gruppe, das sich gerade ebenfalls auf der Straße aufhält und mir aktuell noch unbekannt ist. Und doch bin ich sofort bereit, dem ersteren den Status des Fremden zuzuweisen, während ich den anderen Unbekannten als „ähnlich wie ich“ akzeptiere und damit zum Mitglied meiner weiteren Wir-Gruppe rechne.

Dies ist nicht wirklich meine eigene Leistung, meine Wahrnehmung und mein Verhalten folgen hier einer vorab bestehende Form, einer Verhaltensschablone, die lange schon allgemein akzeptierter Standard geworden ist, bevor ich überhaupt ein Ich-Bewusstsein entwickelte. Es muss dabei immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass dies mich nicht von der Verantwortung für mein Tun entlastet.

Neben diesen individuellen – gewollten und ungewollten – rassistischen Akten gibt es auch einen institutionellen oder strukturellen Rassismus, der sich nicht am Tun einzelner Menschen festmacht, sondern in abstrakten, unpersönlichen Formen wie Gesetzen, Prüfungsordnungen, Auswahlverfahren oder Förderrichtlinien, aber auch in ungeschriebenen Verfahrensroutinen zementiert ist. Der bahnbrechende,amtliche britische Macpherson-Report definierte 1999 institutionellen Rassismus als

struktureller
Rassismus /
institutioneller
Rassismus

„das kollektive Versagen einer Organisation, für Menschen angemessene und professionelle Leistungen zu erbringen wegen deren Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft.“ (Macpherson 1999:6.34, meine Übersetzung)

Dass Kinder aus Einwandererfamilien überproportional oft auf Sonderschulen verwiesen werden, ist hierfür ein Beispiel. Offen diskriminierende Gesetze und Verwaltungspraktiken bezeichnet man hingegen als strukturellen Rassismus.

Macpherson, William The Stephen Lawrence Inquiry. Report of an Inquiry by Sir William Macpherson of Cluny. Presented to Parliament by the Secretary of State for the Home Department by Command of Her Majesty February 1999 London 1999 (Parlamentsdrucksache Cm 4262)

Da Rassismus sehr oft fälschlich mit dem völkermörderischen Rassen- und Abstammungswahn des deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, weicht man im alltäglichen Sprachgebrauch – wie bereits erwähnt – oft auf die Begriffe Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit aus. Beide Ersatzbegriffe verwirren aber mehr, als sie klären, denn rassistische Diskriminierung bezieht sich weder nur auf Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen („Ausländer“), noch trifft sie vorrangig „Fremde“. Es ist umgekehrt so, dass durch rassistische Ausgrenzungspraxis Nachbar_innen gezielt von wohlbekannten Mitmenschen zu „Fremden“ gemacht werden können. Echte Fremdenangst (Xenophobie) hingegen gehört als soziale Phobie (psychisches Krankheitsbild) nicht zu den ideologischen Weltkonstrukten. Dass auch der zweite Wortteil „Feindlichkeit“ fraglich ist, weil er eine aktive, willentliche Feindseligkeit als notwendig unterstellt, wurde schon gesagt.

Fremdenfeindlichkeit

Fremdenangst /
Xenophobie

Was tatsächlich meist mit Ausländerfeindlichkeit gemeint wird, müsste man korrekter Weise als „Einwanderungsablehnung“ bezeichnen. Dies ist eine politische Einstellung, die typischer Weise mit explizitem Rechtsextremismus in Verbindung gebracht wird. Diese fast zwanghafte Verkettung: „Rassismus“ → „Ausländerfeindlichkeit“ → „Rechtsextremismus“ ist ein weiterer Grund dafür, dass sich in der deutschen Diskussion kein adäquates Verständnis von Rassismus durchsetzt. Wenn der Begriff „Rassismus“ automatisch die Etikettierung als „Nazi“ nach sich zieht, gibt es keinen Raum mehr für ein Gespräch, sondern nur noch Abwehr und Ausgrenzung. Dies erleben gerade die von Rassismus regelmäßig betroffenen Menschen immer wieder, wenn sie es wagen, auf ihre Ausgrenzung aufmerksam zu machen. Sie ernten massive Abwehr, weil niemand auch nur den leisesten Anschein aufkommen lassen will, er/sie habe irgendetwas mit Rassismus zu tun.

Deshalb ist es wichtig darauf zu bestehen, dass Rassismus und Rechtsextremismus zwei theoretisch unterscheidbare und praktisch verschiedene „Dinge“ sind. Zwar kann man sich kaum einen nicht-rassistischen Rechtsextremismus vorstellbaren. Aber gibt sehr wohl einen Rassismus, der keine weiteren Gemeinsamkeiten mit den typischen Merkmalen des Rechtsextremismus (vor allem Ablehnung von Demokratie und Drang nach einem autoritären Systemwechsel) aufweist. Rechtsextremismus strebt nach einer Gesellschaftsordnung, in der die „natürliche“ Elite eines Volkes dieses zu führen habe. Das Politische wird hier als ein Kampf aller gegen alle biologisiert („Naturgesetz“), in welchem nur der Stärkste überlebt und gerade darin seine Existenzberechtigung beweist. Man könnte vom Rechtsextremismus auch als einem „politisierten Rassismus“ sprechen, weil die Frage der staatlichen Organisation von Macht den Kern des „Politischen“ ausmacht. Allerdings stützt Rechtsextremismus sich nicht nur auf rassistisch begründete Dominanzansprüche, sondern bezieht noch weitere gesellschaftliche Dominanzverhältnisse (Geschlechterrollen, Umgang mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten oder mit körperlichen und geistigen Einschränkungen) in sein starres Weltbild ein. (Rommelspacher 2008)

Rechtsextremismus

Rommelspacher, Birgit „Was ist eigentlich Rassismus?“ in: Melter, Claus; Mecheril, Paul (Hg.) Rassismuskritik, Rassismustheorie und -forschung Schwalbach 2008 S.25-38

Antisemitismus ist – insbesondere im deutschen Kontext – eine weitere typische „Zutat“ des Rechtsextremismus. Antisemitismus hat strukturell viele Gemeinsamkeiten mit Rassismus. Auch Antisemitismus ist ein gesellschaftliches „Ding“, ist nur im Kontext von Machtverhältnissen zu verstehen und gründet auf „Wissens“-Beständen, die in der Gesellschaft allgemein geteilt werden und für fraglos gegeben gehalten werden. Die historischen Wurzeln des Antisemitismus reichen allerdings viel weiter zurück als die des Rassismus, dessen Entstehung mit dem neuzeitlichen Kolonialismus verbunden ist. Zudem sind die Unwert-Urteile, aus denen sich die typischen antisemitischen Klischees zusammensetzen, meist genau umgekehrt zu den üblichen rassistischen Unwert-Urteilen. Wird den rassistisch entwerteten Menschen meist unterstellt, sie seien faul, dumm, schmutzig und triebhaft, handelt das heutige antisemitische Phantom von „dem Juden“ von Reichtum, Macht und berechnender Gefühlskälte. Das antisemitische Klischee unterstellt letztlich eine schier uneingeschränkte Machtfülle, denn wie sonst sollten „die Juden“ an „allem“ schuld sein?

Antisemitismus

Obwohl Antisemitismus und Rassismus in der Lebenswelt oft ineinander verschwimmen, macht es Sinn, sie als selbstständige Phänomene zu begreifen und nicht etwa Antisemitismus einfach als bloße Variante von Rassismus zu behandeln. Antisemitismus hat etwa eine welterklärende Qualität, die Rassismus kaum aufweist (beispielsweise indem der Ausbruch einer Pestepidemie oder einer Wirtschaftskrise „den Juden“ insgesamt zu Last gelegt werden konnte). Auch tritt das „eliminatorische“ (alle Juden vernichten wollende) Element im Antisemitismus wesentlich massiver hervor als im Rassismus. Und schließlich trennt die jahrtausendalte Tradition einer religiös motivierten Ausgrenzung und Abwertung alles Jüdischen den Antisemitismus von Rassismus. Das antisemitische „Wissen“ wurde allerdings nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft massiv gesellschaftlich delegitimiert. Diesen Wissensbeständen wurde der Status „das weiß doch jeder“, bzw. „das ist fraglos gegeben“ aktiv entzogen. Die offene Äußerung von antisemitischer Hetze wurde nach 1945 so nachdrücklich geächtet, dass zeitweilig das Sprechen über das Judentum lieber gleich ganz vermieden wurde. Auch heute äußert sich Antisemitismus in Deutschland lieber auf Umwegen (z.B. als genereller Israel-Hass oder als Kritik an einer angeblichen Instrumentalisierung des Holocausts).

Anders erging es dem Antiziganismus, dessen Wissensbestände völlig ungebrochen aus der Nazizeit bis tief in Bonner Republik hinein weiter lebten. Die nationalsozialistische Zigeunerpolizeistelle konnte umgetauft als „Landfahrerstelle“ nach 1945 ungestört weiterarbeiten und mit denselben Akten und demselben Personal Sinti und Roma weiter drangsalieren. Diese Kontinuität endete erst in den 70er Jahren und erst heute beginnt eine wirklich wahrgenommene Debatte darüber, dass das öffentliche Reden und Schreiben über „die Roma“ voller rassistischer Klischees ist. Der Preis dafür ist allerdings, dass gleichzeitig die gegen Roma gerichtete Diskriminierung wieder zunimmt. Was Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus strukturell verbindet, ist die Diskurs-Form des „Othering“, zu Deutsch: „zum Anderen machen“.

Antiziganismus

Zum „Anderen“ gemacht werden Menschen dadurch, dass vorhandene oder behauptete soziale und kulturelle Unterschiede zur unveränderlichen, naturhaften Eigenschaft einer Gruppe erklärt werden, die allen Mitgliedern gleichermaßen als „ihr natürliches Wesen“ zukomme. Soziale Beziehungen werden so naturalisiert („die sind so“) und homogenisiert („die sind alle gleich“). Das heißt, lebendige Interaktion zwischen Menschen, die sich ständig ändern kann, wird zum einen festgeschrieben und zu einem Stück „Natur“ – fest und veränderlich wie Stein – erklärt. Zum anderen wird nicht mehr unterschieden zwischen einzelnen Individuen, sondern alle, die einer Gruppe zugeordnet werden, werden als in den wesentlichen Charakterzügen identisch wahrgenommen. („Wir wissen ja, die sind alle so.“)

Othering

Wichtig ist dabei zu verstehen, dass hier nicht einfach schon vorhandene Gruppeneigenschaften unzulässig überbetont werden, sondern dass im Prozess des wiederholten Benennens der Gruppe und ihrer Eigenschaften beide erst als soziale Wirklichkeit geschaffen werden. Als einmal etabliertes Wissen über das „Wesen“ einer bestimmten Gruppe gewinnt diese Etikettierung dann jedoch ein so starkes Eigenleben, dass sie kaum anders zu sein scheinen als die natürlichen Eigenheiten von Eichen, Birken und Tannenbäumen. Zur Naturalisierung und Homogenisierung kommt schließlich noch eine Polarisierung dazu („die sind ganz anders“), was zwangsläufig in eine Wertung bzw. Rangordnung mündet.

Othering – ein gleichwertiges deutsches Wort dafür gibt es leider nicht – macht aus völlig unterschiedlichen Menschen scheinbar homogene Menschenblöcke, die wesenhaft und unveränderlich scharf von einander geschieden sind, nämlich „wir“ und „die Anderen“. In der Regel dient dieses „zum Anderen machen“ dazu gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse zu legitimieren und sich selbst psychisch zu entlasten. Ziel der Konstruktion dieser Unterschiede ist, eine eigene Gruppenidentität durch die Abgrenzung von anderen Gruppen zu schaffen und dadurch Aggressionen, Ausschlüsse und Privilegien zu legitimieren. Wie Rassismus wirkt, ist eng verknüpft mit der Möglichkeit Macht auszuüben. Eine durch aktives Tun geschaffene Ausgrenzung wird durch eine scheinbar naturgegebene Differenz für selbstverständlich erklärt. Für etwas, was naturgegeben ist, muss ich keine Verantwortung übernehmen. Im Kontext des Kolonialismus diente das rassistische Bild vom „Eingeborenen“ oder vom „Afrikaner“ vor allem dazu zu erklären, warum diesen Menschen die elementaren Menschenrechte verwehrt werden durften und bleiben mussten. („Weil sie primitiv sind, sind sie noch nicht reif für ...“)

Solch eine Art und Weise zu argumentieren – wie es etwa das südafrikanische Apartheidsregime noch offen tat – als rassistisch zu erkennen, fällt heute nicht schwer. Weniger leicht fällt die Einschätzung, wenn zum Beispiel eine schlechtere Schulempfehlung für einen Grundschüler, der aus einer Einwandererfamilie stammt, in der Türkisch gesprochen wird, u.a. damit gerechtfertigt wird, dass seine Eltern ihn beim Lernen nicht hinreichend gut unterstützen werden können. Eine solche Argumentation, die eventuell sogar von persönlichem Wohlwollen getragen wird, in einem Atemzug zu nennen mit der mörderischen Brutalität der Apartheid, erscheint spontan unangemessen. Es gibt jedoch eine strukturelle Gemeinsamkeit, indem beide sich auf Wissensbestände stützen, die als völlig selbstverständlich gelten, in deren Zustandekommen aber die Merkmale der Homogenisierung, der Naturalisierung und der Polarisierung eine klar erkennbare Rolle spielen. Im Fall der Schulempfehlung ist es das „Wissen“ über eine generelle „Bildungsferne türkischer Eltern“.

Sämtlichen Eltern, die man beispielsweise über den Familiennamen, die Haarfarbe und eine dunklere Hauttönung einer Herkunft aus der Türkei zuordnen kann, wird dabei eine einheitliche Eigenschaft („bildungsfern“) zugeschrieben. Alle realen Unterschiede im Bildungsniveau der je konkreten Eltern und ihres tatsächlichen Engagements für die schulische Karriere ihrer Kinder werden beiseite geschoben und durch das pauschale Etikett „bildungsfern“ überschrieben. Mit dieser Zuschreibung wird in einem Akt homogenisiert und polarisiert: „türkische Eltern sind alle gleich, nämlich anders als wir“.

Während der „alte“ Rassismus die Position, von der aus die Abwertung „der Anderen“ formuliert wurde, noch offen feierte und verherrlichte („Herrenrasse“, „Ariertum“), hält sich das gegenwärtige rassistische Wissen dazu mehr zurück. Allenfalls wird das „wir“ mit „der Moderne“ gleichgesetzt. Viel lieber thematisiert werden „die Anderen“; das „wir“ (das „Eigene“) muss nicht mehr groß herausgestellt werden. Das Eigene ist zur selbstverständlichen Norm geworden, „wir“ sind die „normalen Menschen“, an denen sich alle anderen messen lassen müssen. In der Mitte des rassistischen Wissens befindet sich so ein sehr großer blinder Fleck. Rassismus kann aus dieser Warte nur noch als Merkmal einiger randständiger Extremist_innen wahrgenommen werden, als Kennzeichen der Normalität in unserer Gesellschaft hingegen kann und darf Rassismus nicht thematisiert werden.

Insgesamt beweist das Phänomen des Rassismus eine hohe Wandlungsfähigkeit und vermag sich gesellschaftliche Entwicklungen gut anzupassen. Als neuste Erscheinungsform des Rassismus kann etwa die seit Anfang des Jahrtausends grassierende Ausgrenzung von Muslim_innen gedeutet werden. Zwar knüpft diese Form der Abwertung an einem kulturellen Phänomen, nämlich Religion, an. Und das widerspricht auf den ersten Blick einem Merkmal des Rassismus, nämlich dessen Tendenz zur Naturalisierung. Denn eine Religion kann man wechseln, sie ist nicht wesenhaft mit dem eigenen Körper verbunden. Doch wenn man sich den anti-muslimischen Diskurs genauer anschaut, wird hier ganz genauso homogenisiert, naturalisiert und polarisiert wie im rassistischen Diskurs. „Die Muslime“ erscheinen als homogener Block, als das „ganz Andere“ und als wesenhaft „Fremde“. Diejenigen, die vor 30 Jahren noch als „Türken“ diskriminierenden Zuschreibungen ausgesetzt waren, werden heute als „Muslime“ ausgegrenzt. Diese Verschiebung, dass jetzt auch kulturelle Eigenschaften als „fest wie Stein“ gelten, ist gerade in der deutschen Diskussion besonders einfach zu bewerkstelligen gewesen, weil im historischen Gedächtnis die Gleichsetzung von Türke = Muslim fest verankert war und ist. In den so genannten „Türkenkriegen“ des 16./17. Jahrhunderts kämpften nach hiesiger Interpretation ganz selbstverständlich „Christen“ gegen „Muslime“. Die Bildsprache der frühneuzeitlichen „Türkenangst“ kann heute fast bruchlos als antimuslimische Stereotype wieder benutzt werden. Deshalb ist es zutreffender, von antimuslimischem Rassismus zu sprechen als von „Islamfeindschaft“ oder „Islamophobie“. Diese Form von Ausgrenzung trifft nicht so sehr eine Religion, sondern vor allem Menschen, die als „Muslim_innen“ markiert werden.

antimuslimischer
Rassismus

Neu am aktuellen anti-muslimischen Ressentiment ist die Gleichsetzung von Muslimen mit Terrorismus. Sämtliche Muslim_innen, die ihren Glauben visuell kenntlich machen und offen leben, stehen unter dem Generalverdacht, dass sie mit mörderischen Terroristen gemeinsame Sache machen könnten. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, dass ihnen fortwährend Distanzierungen vom Terror abverlangt werden. Im Ergebnis erlebt man immer häufiger, dass die Unterscheidung zwischen „islamisch“ und „islamistisch“ aufgegeben wird und von Islamisten gesprochen wird, wo Muslime gemeint sind.

Empfehlungen:
Der Begriff Rassismus kann und sollte auch im kommunalen Kontext ohne Scheu vor den Auseinandersetzungen, die das notwendig auslöst, eingesetzt werden. Dabei sollte auf eine bewusste Abgrenzung zum Begriff „Rechtsextremismus“ geachtet werden. Die Verwendung rassistischer Versatzstücke oder Sprüche macht einen Menschen nicht automatisch zum Rechtsextremisten. Von Rechtsextremismus sollte vor allem dann gesprochen werden, wenn der Wille zur antidemokratischen Systemveränderung kenntlich wird. Antisemitismus und Antiziganismus bedürfen aufgrund ihrer enorm tiefen geschichtlichen Verwurzelung einer eigenständigen Aufmerksamkeit und Zugangsweise. Sie können nicht im Rahmen einer allgemeinen antirassistischen Strategie am Rande „mit erledigt“ werden.

Offen geäußerter Rassismus tritt heute vor allem als Einwanderungsablehnung auf und muss auf dieser Ebene als politische Einstellung auch bekämpft werden. Darüber sollte aber nicht aus den Augen verloren werden, dass Rassismus als gesellschaftliches Strukturierungsmuster auch die Lebensrealität von Menschen trifft, die allenfalls in der Urgroßelterngeneration mit Einwanderung zu tun haben. Die Bekämpfung dieses Rassismus ist vor allem durch eine konsequente menschenrechtliche Fundierung der kommunalen Praxis – gleiche Teilhabe für alle! – zu erreichen.