Abschlussbericht Projekt Koloniebildung (1999)

VI. Schlussfolgerungen

Folgende Leitfragen wurden eingangs für das Projekt aufgestellt:

  1. Welche Formen von organisierten, auf Dauer gestellten community-Strukturen haben sich bei den türkischstämmigen MigrantInnen in Hannover über die letzten Jahrzehnte gebildet?
  2. Was bedeuten diese institutionalisierten Angebote der jeweiligen communities für die Individuen und ihre Lebensbewältigung?

Es stand somit nicht nur die ‚objektive‘, sozusagen zu aktenkundigen Fakten geronnene Seite dieses Etablierungsprozesses im Mittelpunkt, also beispielsweise die Geschichte von Vereinen, sondern ebenso die subjektive Perspektive der beteiligten Menschen. Gerade in den sehr ausführlichen Interviews, die wir zu diesem subjektiven Aspekt führten (sie wurden im vorigen Teil dargestellt), machten wir schon sehr bald die zunächst bittere, langfristig aber sehr produktive Erfahrung, daß unsere ursprüngliche Forschungsabsicht im großen und ganzen an der Lebensrealität unserer türkischstämmigen GesprächspartnerInnen vorbeiging.

Ausgangspunkt des Projekts war anfänglich nämlich — wie bereits dargestellt — die alte, von Fijalkowski neu formulierte Streitfrage gewesen, ob die Etablierung ethnischer communities zu einer schädlichen Ghettobildung führen wird, der dann mit entsprechenden Maßnahmen entgegenzuwirken wäre, oder ob dieser Prozeß eine grundsätzlich positive Tendenz der (Selbst-)Befähigung der Beteiligten zu kultureller Kompentenz aufweist, die von den politisch verantwortlichen Organen zu begrüßen und zu fördern wäre. Auf Schlagworte reduziert, lautete die Alternative „Ghetto“ oder „Empowerment“?[1] Mit unserer Forschung über die türkischstämmigen HannoveranerInnen wollten wir nicht zuletzt auf diese Frage eine Antwort finden. Tatsächlich aber ist sie in dieser Form gar nicht zu beantworten, die Frage ist in ihre Schwarz/Weiß-Logik schlicht falsch gestellt. Im Kern steckte dahinter auch bei uns ein Denken in gesellschaftlichen Großprozessen, das meint, von der Vermittlung in die alltägliche Praxis abstrahieren zu können und die Bildung von „ethnischen communities“ schlechthin erfassen und beurteilen zu können.

In der Alltagspraxis, wie sie sich in den problemzentrierten Interview vor uns entfaltete, hat sich jedoch etwas herausgebildet, was weder mit dem Schlagwort „Ghetto“, noch mit dem Begriff „Empowerment“ eindeutig zu fassen ist. Für große Teile der aus der Türkei nolens volens eingewanderten Bevölkerung geht es längst nicht mehr um die Alternativen „permanente Abschottung“ gegen die BRD-Gesellschaft oder „endgültige Hinwendung“ zu ihr. Vielmehr praktizieren sie ein auf Dauer angelegtes Drittes: Man wendet sich nur auf einigen, allerdings zentralen Gebieten zu und entwickelt alle hierfür notwendigen Kompetenzen. Auf anderen Gebieten jedoch verweigert man eine Identifizierung mit den bestehenden Strukturen, weil diese einem nur allzu deutlich zu verstehen geben, daß man letztlich unerwünscht ist. Man kann dies mit Stuart Hall als Prozeß der Herausbildung „hybrider Diaspora-Identitäten“ beschreiben.

Allerdings ist es keineswegs nur der qualitativen Forschung vorbehalten geblieben, zum Verständnis dieser Zusammenhänge beizutragen. Auch von der quantitativen Sozialforschung wurde in letzter Zeit Ergebnisse vorgelegt, die in die gleiche Richtung weisen. So haben z.B. Nauck u.a. bei ihrer Studie über „intergenerative Transmission und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien“ [2] festgestellt, daß Faktoren wie Beherrschung der hegemonialen Sprache und Involviertheit in die Mehrheitsgesellschaft respektive Herkunftsbezogenheit unabhängig von einander variieren können. Es gibt also keine ursächliche Verknüpfung, die etwa einen Zuwachs an Beherrschung der deutschen Sprache notwendig mit einer Steigerung der Involviertheit in die BRD-Gesellschaft bzw. einem Rückgang der Bindung an die Türkei verbände.

Für unseren Zusammenhang ergibt sich, daß jeder einzelne Fall von community-Bildung, letztlich jeder einzelne Verein und jede informelle Jugendgang, in sich widersprüchliche und auch untereinander auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringende Varianten der Orientierung auf die BRD-Gesellschaft entwikelt. Darüber globale Aussagen zu treffen, ist schlicht unmöglich. Weder kann man sagen, daß alle türkischstämmigen Hannoveraner dazu neigen, sich in ihren selbstgeschaffenen Vereinen und Treffpunkten wechselseitig in Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung zu bestärken. Noch können all diese Sozialzusammenhänge pauschal von solchen Anschuldigungen freigesprochen werden. Grundsätzlich ist aber die Offenheit des Prozesses zu betonen und damit die Grundannahme des in dubito pro reo anzuwenden. Solange nicht erkennbare Anzeichen vorliegen, daß im konkreten Fall eines Vereines, eines Treffpunktes oder auch einer informellen Jugendgruppe eindeutig bedrohliche Entwicklungen vorliegen, sollte davon ausgegangen werden, daß sich hier in legitimer Weise ein Stück Eigensinn entfaltet.

Offen ist der Prozeß auch auf der Ebene der einzelnen Individuen. In unseren Interviews zeigten sich bei ein und denselben Personen sowohl Aspekte konstruktiver Bezugnahme auf die Mehrheitsgesellschaft wie auch einzelne Stränge selbstmitleidiger Schuldzuweisungen gegen die Altbevölkerung, die auf ein bequemes Sich-Einrichten in der Rolle des schuldlos zum Opfer Gewordenen hindeuten. Die Frage von Hinwendung oder Abwendung wird niemals ein für alle Mal entschieden. Sie ist und bleibt ein offenes Feld, in welchem auch ein Verharren in der Grauzone zwischen den Polen ein konstruktives Moment sein kann, aber nicht sein muß.

Es läßt sich hieraus die Forderung ableiten, daß die Forschung über die unerklärte Einwanderungsgesellschaft Deutschland dringend neue und vor allem realitätsnähere Fragen braucht. Sie braucht auch neue Leitbegriffe, und zwar möglichst solche jenseits von Integration, Ghetto oder Parallelgesellschaft.[3] Wendet man z.B. den Blick noch einmal zurück auf das Schreckgespenst der „islamischen Parallelgesellschaft“, wird vielleicht deutlich, warum die bislang vorherrschenden Formen der Thematisierung so unergiebig geblieben sind. Hinsichtlich der Rolle islamischer Moscheevereine erscheint es uns wenig erfolgversprechend, weiterhin ausschließlich zu fragen, ob sie der „Integration“ förderlich seien oder möglicherweise gar eine Bedrohung für die pluralistische Demokratie in Deutschland darstellen. Denn solche Fragen verlangen nach einer Eindeutigkeit der Verhältnisse, die in der Realität nicht vorzufinden ist.

Der Moscheeverein beispielsweise, in welchen Frau Güler ihre kleinen Kinder jedes Wochenende zum Koranunterricht bringt, gehört einem Dachverband an, der aus seiner Nähe zur letztlich rassistischen Ideologie der türkisch-islamischen Synthese keinen Hehl macht. Und doch ist dieser Moscheeverein der Ort, an welchem sich Frau Güler engagiert, um türkischstämmigen Frauen die deutsche Sprache in kostenlosen Kursen beizubringen — wohlgemerkt: die deutsche Sprache, nicht die türkische! Nicht ohne Stolz vermerkte sie, daß seit einiger Zeit sogar ihre eigene Mutter ihren Kursus besucht, um nach 25 Jahren Arbeitsleben in einer deutschen Fabrik endlich ein bißchen Deutsch zu lernen. Dies ist ein Stück selbstorganisierter Integrationsbemühung und zugleich ein Stück Abschottung, wobei die Begriffe in dieser Vermengung beginnen, ihren Sinn zu verlieren.

Auch der Moscheeverein, in welchem Herr Yılmaz aktiv ist, gehört zu einer der in den Medien dämonisierten türkischen Islamistenorganisationen. Der Verein betreibt wie dargestellt intensive Jugendarbeit in Hannover, man kümmert sich z.B. auch gezielt um Straffällige und Drogengefährdete. Die Kellerräume der Moschee wurden hierfür ausgestattet wie ein reguläres Jugendzentrum. Und diese Angebote für (männliche) Jugendlichen werden durchaus angenommen, was nicht nur einschlägigen Medienkommentatoren Sorgen bereitet.

Bevor man nun allerdings über Eindämmungsstrategien oder andere Gegenmaßnahmen nachdenkt, sollte man fragen, welche Institutionen eigentlich die von diesem und anderen Moscheevereinen geleistete Sozialarbeit übernehmen könnten? Dabei geht es nicht einmal so sehr um die Jugendarbeit, weitaus wichtiger ist der gewaltige sozialfürsorgerische Beitrag, den die Moscheevereine insgesamt auf dem Gebiet der Betreuung alleinstehender (männlicher) Rentner aus der Generation der Kontraktarbeiter leisten. Sie entlasten damit, ungefragt und unentgeldlich, die eigentlich zuständigen Einrichtungen von einer Aufgabe, welcher sich bislang weder die freien noch die staatlichen Träger auch nur in Ansätzen gestellt haben.[4] Nur sind dies Aspekte des sog. islamischen Fundamentalismus in Deutschland, die selten in die Medien gelangen.

Damit soll nicht geleugnet werden, daß in zahlreichen Moscheevereinen — z.B. denen, die dem Dachverband der Milli Görüş angehören, aber nicht nur dort — bedenkliche politische Ideale und Gesellschaftsutopien vertreten werden, die sich kaum in Einklang mit einer pluralistischen Demokratie bringen lassen. Diese Tatsache kann weder weggeleugnet werden, noch gibt es hier etwas zu beschönigen. Doch wird man der Komplexität der Lage kaum gerecht, wenn man Moscheen generell als „Orte der Indoktrination“ verdammt und ausgrenzt. Zweifellos muß es eine öffentliche Auseinandersetzung um die Ziele und die Arbeitsweisen islamistischer Trägervereine und Dachorganisationen wie Milli Görüş, ATİB, ATF (Graue Wölfe) und VİKZ (Süleymancıs) geben.[5] Nur dürfen dabei auf keine Fall die Fehler der ausgehenden 70er Jahre wiederholt werden, als — unter kräftiger Beihilfe der türkischen Exillinken — die Koranschulen der Süleymancıs in der BRD zum Ziel einer wahren Verteufelungskampagne wurden.[6] Denn eine Auseinandersetzung, bei der als Ergebnis die Verurteilung schon vorab feststeht, ist eine Farce.

Es ist uns bewußt, daß die hier verlangte Differenzierungsarbeit sich nur außerordentlich schwer in die konkrete Aufgabenstellung beispielsweise einer kommunalen Behörde integrieren läßt, die über einen Förderantrag von einem islamischen Verein entscheiden muß. Denn wie könnte man erreichen, daß als Ergebnis einer Einzelfallprüfung z.B. die anerkennenswerte Betreuung alleinstehender türkischstämmiger Rentner auf der einen Seite gefördert wird, ohne gleichzeitig auch die möglicherweise als problematisch empfundene Jugendarbeit zu unterstützen. Auch dürfte es illusorisch sein, die islamischen Verein dazu bewegen zu wollen, ein entsprechendes Angebot für weibliche Alleinstehende im Rentenalter zu entwickeln.

Gleichwohl muß eine Bereitschaft dafür entstehen, sich direkt mit den großen islamischen Gruppierungen auseinanderzusetzen. Nur so können Fehler verhindert werden, wie sie seinerzeit bei der Anlage des islamischen Gräberfeldes auf dem Stöckener Friedhof begangen wurden (siehe S.72f). Die Einrichtung eines „Referats für interkulturelle Angelegenheiten“ durch die Landeshauptstadt Hannover im Sommer 1998 stellt hier einen Schritt in die richtige Richtung dar.

Um das Thema „Ghettobildung“ abzuschließen, muß nochmals auf die Seite der ‚objektiven‘ Daten eingegangen werden. Tatsächlich gibt es nichts in Hannover, was der Bezeichnung „Ghetto“ entsprechen würde. Selbst wenn man auf die sehr kleinteilige Gliederung der statistischen Bezirke der Stadt heruntergeht, findet man nur drei Bezirke, in denen der Anteil der Einwohner mit türkischer Staatsbürgerschaft mehr als zehn Prozent ausmacht. Spitzenreiter ist hier die Hochhaussiedlung Vahrenheide Ost mit 16 Prozent (1.406 von 8.802 Einwohnern insgesamt).[7] Aber auch dort gibt es nirgends einen Block oder Straßenzug, der ausschließlich oder auch nur mehrheitlich „türkisch“ geprägt wäre. Selbst im Bezirk Linden-Nord, in welchem die Zahl der türkischstämmigen Einwohner mit rund 2.800 in absoluten Zahlen am höchsten ist, gibt es nichts, was den Begriff „Ghetto“ im Sinne von „Chinatown“ oder „Little Italy“ rechtfertigen würde.

Wenn es überhaupt einen Ort in Hannover gibt, der im öffentlichen Bewußtsein klar „türkisch“ ist, dann ist es der „Steintor“ genannte Platz im Stadtzentrum mit der einmündenden Goethestraße. Doch was hier das „türkische“ Gepräge ausmacht, ist die Vielzahl von Geschäften und Restaurants, die sich auf Lebensmittel, Speisen und Waren aus der Türkei spezialisiert haben. In der Bezirksstatistik hingegen rangiert das Steintor, was die Präsenz von türkischstämmigen Bewohnern angeht, nur im Mittelfeld.[8]

Anders als die mediale Aufbereitung des Themas z.B. im Spiegel[9] suggeriert, hat — zumindest in Hannover — die community-Bildung unter den Türkischstämmigen wenig mit den Folgen räumlicher Kopräsenz oder Verdichtung zu tun. Vielmehr geht es um Formen freiwilliger sozialer Kooperation und Verpflichtung gerade trotz zerstreuter Siedlung. Der Ansatz des Projektes, sich hierbei auf organisierte, auf Dauer gestellte community-Strukturen (Vereine, Moscheen, Kaffeehäuser etc.) zu beschränken, beruhte auf äußeren Sachzwängen (Mittelknappheit). Bedauerlicher Weise gerieten dadurch gerade jene Formen sozialen Zusammenhangs aus dem Blickfeld, die möglicherweise auch hier in Hannover Ansätze einer autonomen Lebenswelt von Frauen konstituieren, wie sie in islamischen Gesellschaften vorzufinden sind und wie sie z.B. für die türkischen communities in der französischen Kleinstadt Colmar nachgewiesen werden konnten.[10] Hierzu wäre weitere Forschung von großem Interesse.

Unter demographischen Gesichtspunkten, also hinsichtlich der Alterszusammensetzung, des prozentualen Verhältnis' von Männer zu Frauen etc., ist an der gut 24.000 Köpfe zählenden Population türkischer Herkunft in Hannover nichts Außergewöhnliches. Eines unterscheidet die hiesigen Verhältnisse allerdings doch: Die Zuwanderung aus der Türkei setzte in Hannover — anders als in den meisten anderen westdeutschen Großstädten — schon Anfang der 50er Jahre ein. Der Grund hierfür war, daß die Technische Hochschule Hannover sich damals bei Ingenieursstudenten aus der Türkei großer Beliebtheit erfreute. Von den gut 180 türkischen Staatsbürgern, die im Jahre 1960 in Hannover lebten, waren fast die Hälfte Studenten. Sie, die Studenten, waren es auch, die in eben jenem Jahr 1960 den ersten türkischen Verein in Hannover gründeten: den „Türk Talebe Cemiyeti“ oder zu deutsch: den „Türkischen Studentenverein“. Das heißt, es gab in Hannover schon organisierte Selbsthilfestrukturen, noch bevor der erste Kontraktarbeiter[11] in der Türkei angeworben wurde. Auch die Herausdifferenzierung einer Art Mittelschicht aus selbständigen Dienstleistern oder Unternehmern trat in Hannover früher ein: 1964 wurde mit der „Bürotex Export-Import GmbH“ die erste Firma eines ehemaligen Bildungsmigranten gegründet, 1967 tummelten sich schon fünf Anbieter auf dem Türkei-orientierten Export-Import-Sektor. Im selben Jahr eröffnete das erste türkische Restaurant in Hannover: das „Bosporus“. Die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe von Hannover war also von Anfang an deutlich sozial geschichtet und differenziert. Vor und neben den Arbeitsmigranten gab es immer schon eine schmale Schicht von Akademikerinnen, Geschäftsleuten und Ingenieuren, die auch beim Gründen und Betreiben von Vereinen äußerst aktiv waren.

Unter dem Gesichtspunkt der ethnic leadership entsteht damit ein neuer Interpretationsrahmen für die weitere Entwicklung. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Befunde des Bamberger Forschungsprojekts von Yalçın-Heckmann u.a.[12] zum Vergleich heranzieht. Während die Gründung des ersten Arbeiternehmervereins in Hannover 1963 unter der Patronage von türkischstämmigen Akademikern stand, die teilweise schon ein Jahrzehnt Erfahrung vor Ort gesammelt hatten, dauerte es in der bamberger reinen Arbeiterkolonie bis 1974, bis der erste türkische Verein gegründet wurde. Dieser „Türkischer Arbeitnehmerverein Bamberg e.V.“ konnte für einige Jahre praktisch alle Mitglieder der dortigen community zu einer realen face-to-face-Gemeinschaft zusammenbringen. Die später entsandten Lehrer und Imame stellten die ersten türkischstämmigen Intellektuellen in Bamberg überhaupt dar, auch die Herausdifferenzierung einer Mittelschicht begann erst mit der Etablierung der zweiten Generation. Umgekehrt hat es eine Phase weitgehender sozialer Einheit wie in Bamberg, die auch Ausdruck in organisatorischen Formen gefunden hätte, in Hannover nie gegeben. Es bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten festzustellen, ob Hannover hierin ein einmaliger Sonderfall war oder nicht. Unser Material deutet daraufhin, daß in Aachen und Braunschweig (ebenfalls Standorte Technischer Hochschulen) ähnliche Prozesse stattgefunden haben könnten.

Ende des Jahres 1996 waren 39 türkische Vereine in Hannover mehr oder minder aktiv.[13] Davon sind acht Sportvereine; die restlichen verteilen sich so: Neun sind eindeutig religiöse Vereine (Moscheen gibt es allerdings nur sechs), zwei sind noch Arbeitervereine des alten Stils, die vermutlich zusammen mit der Generation ihrer Gründer aussterben werden. Die größte Gruppe mit zwölf Einträgen bilden die Kultur-, Wohlfahrts- oder Kaffeehausvereine. Die letzten acht Vereine spiegeln — neben der Etablierung einer separaten Vereinsstruktur der Aleviten — die wichtigste Neuerung der 90er Jahre: die Gründung berufs- oder statusgruppenspezifischer Vereine: Rentner, Ärzte, Arbeitgeber, Studenten, Ingenieure und Eltern schließen sich auf der Grundlage zusammen, türkischstämmige Rentner, Ärzte, Ingenieure und so weiter zu sein, und sie versuchen, durch Lobbyarbeit auf eine Verbesserung ihrer gemeinsamen Lage hinzuwirken.

Grundsätzlich kann die Entwicklung der türkischen Vereinsszene in Hannover im Sinne eines Trends zur Individualisierung und Atomisierung gedeutet werden. Abseits der Moscheenszene, in welcher der Zwang zur Unterhaltung großer Versammlungsräume und zur Finanzierung von festangestellten Predigern die Unterschreitung eine bestimmten Mitgliederzahl unmöglich macht, ist die Zeit der Großvereine vorbei. Ein solcher Großverein war z.B. die Türkische Gemeinde Hannover, die bis 1983 mit ihrem Zentrum ein fünfstöckiges Bürohaus mitten im Stadtzentrum vollständig belegte. Alle nachfolgenden Versuche, an dieses Modell anzuknüpfen, sind gescheitert. Die heutigen Vereine haben auch nicht mehr den Anspruch, die Gesamtheit der deutsch-türkischen Minderheit in der Stadt zu vertreten, die Tendenz geht eher zu single issue- oder Lobby-Vereinen für beschränkte Teilnehmerkreise (Ärzte, Ingenieure etc.). Da seit Beginn des Projekts jedes Jahr durchschnittlich vier neue Vereine ins Vereinsregister eingetragen wurden, muß man davon ausgehen, daß diese Form der Ausdifferenzierung auch im kommenden Jahrzehnt weiter anhalten wird.

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Hinweis des Autors
Der vorliegende Text wurde 1999 als Abschlussbericht des Projekts „Gemeindestrukturbildung und ethnisches/religiöses Protestpotential bei türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in Niedersachsen“ an die Förderinstitution fertigestellt und seither nicht publiziert. Die hier vorliegende Onlinefassung von 2021 stellt somit die Erstveröffentlichung dar. Das Copyright liegt beim Autor.

Fußnoten

1
Fijalkowski wählte stattdessen die etwas kryptischen Wortschöpfungen „irredentorischer Typ“ versus „philogener Typ“.
2
Nauck, Bernhard; Kohlmann, Annette; Diefenbach, Heike „Familiäre Netzwerke, intergenerative Transmission und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien“ in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Köln 1997 (Jg.49 Heft 3) S.477-499
3
Diese Forderung war auch Zentralthese des Vortrages auf dem 29. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Universität Freiburg, welchen der Bearbeiter in der Sektion „Migration und ethnische Minderheiten“ am 16. September 1998 lieferte. Da dieser Kongreß zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder gemeinsam mit der Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie veranstaltet wurde, kamen hier MigrationsforscherInnen des gesamten deutschsprachigen Raum zusammen.
4
Das einzige explizit auf türkischstämmige RentnerInnen ausgerichtete Projekt in Hannover wurde 1997 von der Arbeiterwohlfahrt aus schwer nachvollziehbaren Gründen vorläufig eingestellt.
5
Hierin, und nur hierin, ist Heitmeyer voll zuzustimmen.
6
Die in dem seinerzeit sehr einflußreichen Buch Graue Wölfe, Koranschulen, Idealistenvereine. Türkische Faschisten in der Bundesrepublik von Barbara Hoffmann, Michael Opperskalski und Erden Solmaz (Köln 1981) propagierte These, daß alle muslimischen Organisationen in der BRD letztlich faschistisch seien, wirkt leider bis heute fort. In einer aktuellen Veröffentlichung heißt es etwa: „Alle Moscheen und Korankurse in der BRD sind unter der festen Kontrolle von rechtsextremistischen Gruppen.“ (Aslan, Fikret; Bozay, Kemal u.a. (Hg.) Graue Wölfe heulen wieder. Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in der BRD Münster 1997 S.233)
7
Die anderen beiden statistischen Bezirke sind Linden-Nord (18.975 Einwohner gesamt, davon 2.772 oder 14,6 Prozent mit türkischem Paß) und Freudenthalstraße (10.736 Einwohner gesamt, davon 1.403 oder 13,1 Prozent mit türkischem Paß). Alle Angaben beziehen sich auf den Stand 30. Juni 1992. (Quelle: Statistikstelle der Stadt Hannover)
8
Die Angaben beziehen sich auf die wohnberechtigte Bevölkerung, differenziert nach Herkunftsnationalitäten und statistischen Bezirken. Der Stadtteil „Mitte“ mit 11.000 Einwohner gliedert sich in acht statistische Bezirke. Das „Steintor“ zählt zum statistischen Bezirk „Lange Laube“ (2.513 Einw.), hier sind 125 Einwohner mit türkischer Staatsbürgerschaft registriert, was gerade fünf Prozent ausmacht. Alle Angaben beziehen sich auf den Stand 30. Juni 1992. (Quelle: Statistikstelle der Stadt Hannover)
9
Insbesondere jene Spiegel-Ausgabe vom April 1997 (Nr.16), deren Titelgeschichte „Zeitbomben in den Vorstädten“ das „Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ (Schriftzug auf dem Titelblatt) behauptete.
Siehe: Yalçın-Heckmann/Unbehaun/Straßburger Die türkischen Kolonien in Bamberg und Colmar Abschnitt IV.c (Informelle Netzwerke)
Zur Definition dieses Begriffes siehe S.162
Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts (1999) war der Abschlußbericht des Projekts (Yalçın-Heckmann/Unbehaun/Straßburger Die türkischen Kolonien in Bamberg und Colmar) leider noch unveröffentlicht. Aber mittlerweile haben die Autorinnen ihren Abschlussbericht auch online zugänglich gemacht.
Es darf als sicher gelten, daß weitere Nachforschungen noch mehr Vereine zum Vorschein bringen werden — sowohl solche, deren aktive Zeit weiter zurückliegt, als auch solche, die in den letzten Jahren neu hinzugekommen sind.