Nationalismus in Kurdistan (1993)
Über die ersten Jahre der Herrschaft Bedir Khans als erblichen Emir von Botan wurden bis jetzt nur wenige verläßliche Nachrichten zutage gefördert. Man weiß nur, daß nach dem Tode seines Vaters, Abullah Khan, zunächst ein Cousin, Seyfeddin, die Herrschaft übernahm, dieser jedoch wegen angeblich übergroßer Zuwendung zur sufi-Meditation und Mystik die Amtsgeschäfte vernachlässigte und abgesetzt wurde. Angeblich wegen ähnlicher Neigungen wurde auch ein älterer Bruder Bedir Khans in der Erbfolge übergangen.[1] Das Jahr 1821 wird allgemein als Datum der Thronbesteigung Bedir Khans angenommen. Ganz wie Mir-i Kora hatte er langwierige Kämpfe zu bestehen, bevor seine Hoheit wenigstens im nominellen Radius des Emirats Botan anerkannt wurde.[2] Wie weiter oben schon geschildert, hielt er seine Position während des osmanisch-russischen Krieges 1828-1829 offenbar bereits für so gefestigt, daß er das vom Sultan angeforderte Hilfskontingent an Soldaten, welches im Kriegsfalle zu stellen höchste Vasallenpflicht war, nicht entsandte. 1834 verteidigten seine Gefolgsleute das Emirat erfolgreich gegen die Invasionsarmee Mir-i Koras, 1836 unterlagen sie den osmanischen Truppen, und Bedir Khan erneuerte seine Unterwerfung unter den Sultan. 1838 beteiligte er sich an der Bestrafung seines fürstlichen Nachbarn Said Beys, 1839 nahm er am gescheiterten Feldzug der Osmanen gegen die Ägypter in Syrien teil.[3] Die größte Ausdehnung erreichte Bedir Khans Herrschaftsbereich um 1846; als seine wichtigsten „Verbündeten“ zu diesem Zeitpunkt werden Nurullah Bey, Emir von Hakkâri, Şerif Bey, Emir von Bitlis, und Khan Mahmud, Herrscher von eigenen Gnaden über ein beträchtliches Gebiet südlich des Van-Sees, genannt.[4]
Es scheint mir aber, daß es sich hier weniger um Bündnisse als um Beziehungen von Vasallität handelte, was sich u.a. daran zeigt, daß Bedir Khan die Herrschaft seiner Vasallen aktiv zu sichern trachtete. Der Emir von Hakkâri beispielsweise hatte als Nachfolger eines verstorbenen Bruders erhebliche Mühe gehabt, seine Autorität über alle ihm nominell untertanen Stämme zu behaupten. Die traditionelle Residenz der Emire, Çölemerik, blieb unter der Hoheit des Sohnes seines Vorgängers, Süleyman, der zudem Rückhalt bei der mächtigsten Stammesgruppe im Hakkâri-Emirat, den militanten Nestorianerstämmen[5] unter ihrem erblichen Patriarchen, dem Mar Shimun, hatte.[6] Um sich gegenüber dem Mar Shimun besser durchsetzen zu können, hatte Nurullah Bey sogar beim osmanischen vali von Erzurum um Pardon und um offizielle Bestätigung durch die Pforte nachgesucht.[7] Knapp ein Jahr danach ließ er die Residenz des Mar Shimuns von seinen Gefolgsleuten einäschern, eine Machtdemonstration, die den Patriarchen für einige Zeit zum Einlenken bewegte.[8]
Es ist wichtig festzuhalten, daß dies kein Kampf zwischen ausgebeuteten Christen und muslimischen Unterdrückern war, sondern ein politischer Machtkampf innerhalb des tribalen Kräftesystems des Hakkâri-Emirats, ein Kampf von Gleich gegen Gleich. Denn die nestorianische Bevölkerungsgruppe setzte sich genau wie die muslimische aus einer aşiret- und einer reaya-Schicht zusammen, und die tribal organisierten Nestorianer standen ihren muslimischen Standesgenossen an militärischer Potenz in nichts nach.[9] Es gab sogar eine beträchtliche Zahl muslimischer reaya, die in Abhängigkeit von nestorianischen Herren lebten.[10] Als Nurullah Bey sich auch an seinen mächtigen Nachbarn Bedir Khan um Unterstützung gegen die Nestorianer wandte, war dies das offene Eingeständnis, daß seine Machtbasis so zerrüttet war, daß er seinen Anspruch auf Oberhoheit mit eigenen Kräften nicht mehr durchsetzen konnte.[11] Indem Bedir Khan 1843 seine Stammestruppen gegen die Nestorianer von Hakkâri ins Feld schickte[12], betätigte er sich als Protektor Nurullah Beys, genau wie er zuvor dem entmachteten Emir von Badinan Unterstützung gewährt hatte, bei dessen (vergeblichem) Versuch, sein Emirat zurückzugewinnen.[13] Zugleich festigte Bedir Khan dabei seine Stellung im eigenen Haus, denn die „Züchtigung“ der Nestorianer war auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, seinen Gefolgsleuten Beute und Ruhm zukommen zu lassen.[14]
Die außerordentliche Härte der Attacken, denen nach einer Schätzung 7 000, nach einer anderen sogar fast 10 000 Nestorianer zum Opfer fielen[15], mag allerdings zum Teil auch der tiefen Irritation unter den Muslimen geschuldet sein, welche die Anwesenheit und offene Agitation ausländischer Missionare unter den Nestorianern hatte aufkommen lassen. Das Wirken dieser nordamerikanischen und britischen Missionare wurde von ihnen als politische Einmischung der christlichen Großmächte in die eigenen Angelegenheiten begriffen und mobilisierte diffuse Ängste vor einer möglichen christlichen Dominanz.[16]
Die heutigen kurdischen Nationalisten haben mit diesen Vorfällen einige Probleme, betont man doch heute gern das gemeinsame Leiden und die Kampfgemeinschaft mit dem „assyrischen Brudervolk“, also den Nestorianern.[17] Man schiebt daher die Schuld für die Massaker ganz auf die Missionare, die als Spitzel der Pforte die Christen zu ihrem eigenen Schaden gegen den „nationalen Kampf“ Bedir Khans aufgehetzt hätten. In dieser Version erscheint der Schlag gegen die Nestorianer als bedauerliche, aber notwendige Polizeiaktion, um ‚Wehrkraftzersetzung und Subversion im Inneren‘ zu stoppen.[18] Der überwiegend tribale Aspekt des Konflikts wird dabei völlig ignoriert, während der religiöse sich in einen nationalen zu verwandeln scheint. Interessanterweise verzichtet man hier implizit auf die Fiktion vom „freiwilligen Bündnis“ und von der Selbständigkeit Nurullah Beys, denn schließlich war der Mar Shimun ihm und nicht Bedir Khan tributpflichtig. Wenn eine ‚provokative‘ Tributverweigerung ihm gegenüber unmittelbar Bedir Khans Vergeltung zur Folge haben ‚mußte‘, dann war Nurullah Bey nicht mehr als dessen Statthalter in Hakkâri.[19]
Was die anderen Verbündeten, Şerif Bey und Khan Mahmud, angeht, so ist über den ersteren fast gar nichts bekannt und das wenige spricht eher gegen ein Bündnis mit Bedir Khan.[20] Über die Verbindung Khan Mahmuds zu Bedir Khan gibt es hingegen reichlich Nachricht, sie scheint aber keineswegs immer von gemeinsamen Interessen geprägt gewesen zu sein. Schon 1838 mußte er sich zur Verteidigung gegen einen Angriff von Seiten des letzteren rüsten, sechs Jahre später (nach dem großen Angriff auf die Nestorianer) unterwarf Bedir Khan einen Bruder Khan Mahmuds gewaltsam und zwar jenen, dessen Residenz als die größte und stärkste Festung von allen galt.[21] Ein Wink, den auch Khan Mahmud nicht mißverstehen konnte. Ebenso sprechen die Berichte von Augenzeugen über den persönlichen Verkehr zwischen Bedir Khan und seinen „Verbündeten“ klar für ein Verhältnis von Herr und Vasallen.[22]
Ein weiteres Argument, das gegen eine ‚nationale‘ Interpretation Bedir Khans Bestrebungen spricht, ist die Tatsache, daß es deutliche Anzeichen dafür gibt, daß der Emir zu keinem Zeitpunkt seiner sogenannten „Rebellion“ die Hoheit des Sultans ernstlich angezweifelt hat; vielmehr bemühte er sich, selbst nachdem seine Macht gewaltig angewachsen war, seinem Status als Vasallen des Sultans wenigstens der Form nach gerecht zu werden.[23] Umkehrt schien die Pforte ihrerseits bemüht, unter allen Umständen einen friedlichen Interessensausgleich mit Bedir Khan zu bewerkstelligen. 1842 beispielsweise, als eine ernste Krise um die vom vali in Mosul angestrebte Gebietsreform ausbrach, die Bedir Khan um beträchtliche Revenuen gebracht hätte, entschied der Sultan auf Vermittlung des valis in Diyarbakır zugunsten Bedir Khans. Zur Beschwichtigung des erbosten Emirs wurde er sogar mit einem Ehrenschwert ausgezeichnet.[24] Und im Jahre 1844 wurde Bedir Khan von höchster Stelle dafür belobigt, bei der Bestrafung eines „räuberischen“ Stammes geholfen zu haben, der einen für Bagdad bestimmten Lebensmitteltransport geplündert hatte.[25] In das gleiche Jahr fällt die folgende, von einem nordamerikanischen Missionar berichtete Episode, die in diesem Zusammenhang charakteristisch ist:
„Sie werden schon zuvor gehört haben von der Unterredung Keimal Effendis, des türkischen Sonderbeauftragten, mit Bader Khan Bey, davon daß er Position zugunsten der Nestorianer bezog und von der darauffolgenden Freisetzung von über vierzig Gefangenen. Der Sonderbeauftragte tat dies, als er auf dem Weg von Konstantinopel hierher [der Autor schreibt aus Mosul, G.B.] war. Etwa zur gleichen Zeit erging Befehl von der Pforte an Bader Khan Bey, all seine Gefangenen freizugeben. Er gehorchte allerdings nur soweit, als hinlänglich war, um den Anschein von Gehorsam zu wahren — bei geringstmöglicher realer Befolgung des Befehls; d.h., er ließ ein paar Menschen frei, damit es so aussah, als komme er der Anordnung der Regierung nach, während er gleichzeitig den größeren Teil weiterhin in Gefangenschaft hält.“[26]
Der gleiche Geist spricht aus Bedir Khans zahlreichen Eingaben an die Pforte, in denen es vor Ergebenheitsfloskeln nur so wimmelt, die aber in der Sache durchaus von wohlverstandenem Eigennutz geprägt sind.[27]
Die Pforte ihrerseits schien es nicht übermäßig eilig zu haben, ihre staatliche Autorität in Bedir Khans Herrschaftsbereich gewaltsam durchzusetzen, wurde aber von den Großmächten massiv zu Strafmaßnahmen wegen der Massaker an den Nestorianern — als deren Schutzpatrone sich England und Frankreich aufwarfen — gedrängt.[28] Das ganze Jahr 1846 über schleppten sich die zögerlichen Vorbereitungen für eine militärische Strafexpedition hin, gleichzeitig wurde durch spezielle Regierungsemissäre intensiv mit dem ‚aufsässigen‘ Emir verhandelt. Anfang 1847 bot Bedir Khan im untertänigsten Ton — er hatte mittlerweile vom Aufmarsch einer starken Armee in Diyarbakır erfahren — an, für all seine Missetaten geradestehen zu wollen, denn „sofern ich tatsächlich unfreundliche Akte verübt habe, für die die gebührende Strafe zu akzeptierten ich klar bereit bin, und eventuell auch jetzt noch Fehler begehe, so doch nur weil ich in eingestandener Unkenntnis vorging.“ Weiter beteuert er demütig: „Und wenn ich tausend Leben hätte, ich gäbe sie alle freudig für meinen Großherrn hin.“[29] Allerdings geht aus Bedir Khans letztem Unterwerfungsangebot vom 19. April 1847 auch hervor, daß er sich mittlerweile ein wichtiges Prärogativ des Sultans angemaßt hatte: nämlich das Freitagsgebet (hutbe) in der Zentralmoschee in seinem Namen lesen zu lassen.[30] Woraus man deutlich erkennen kann, daß er bei aller Kompromißbereitschaft zielstrebig daran arbeitete, die eigene Machtstellung weiter auszubauen. Doch die osmanische Militärmaschine war — einmal angelaufen — nicht mehr zu stoppen. Im Juni 1847 kam es zur Entscheidungsschlacht, die mit einer Niederlage für den Emir endete. Bedir Khans Vasallen ließen ihn daraufhin sofort im Stich, und so mußte er am 29. Juli 1847 kapitulieren.[31] Im Oktober des gleichen Jahres wurde er unter höchst ehrenvollen Bedingungen nach Kreta verbannt.[32]
Die von Bedir Khans Nachfahren später in Umlauf gebrachte Geschichte von großartigen Schlachtensiegen und vom achtmonatigen heldenhaften Ausharren ihres Ahnen in seiner Bergzitadelle gegen eine erdrückende Übermacht darf getrost ins Reich der nationalistischen Mythenbildung verwiesen werden.[33] Ebenfalls unzutreffend ist die Behauptung, die ‚Alliierten‘ Bedir Khans hätten auch nach dessen Gefangennahme noch jahrelang weitergekämpft.[34] Was z.B. Nurullah Bey betrifft, so schrieb er selbst ein Jahr später in einer Petition an den Sultan:
„[...] als Osman Paşa gegen Bedir Khan Bey ins Feld geschickt wurde, leistete ich ihm Hilfe; indem ich mich samt meinen Soldaten dem Heer anschloß, war ich ihm eifrigst zu Diensten. In Anerkennung dieser meiner Dienste geruhte man Euerem Diener die Gunst der Ernennung zum Obertürhüter zu gewähren, und indem man mir ein Batallion Soldaten mitgab, wurde dafür gesorgt, daß ich den Schutz meiner Festung und meiner Orte gewährleisten konnte.“[35]
Er erhielt also außer einem Ehrentitel vor allem militärische Unterstützung bei der Durchsetzung seiner Machtposition gegenüber seinem weiter oben bereits erwähnten Rivalen und Neffen Süleyman Bey.[36]
Genau betrachtet unterscheidet sich Bedir Khans Revolte kaum von der anderer derebeys vor ihm: In einer Zeit der Schwäche der Zentralgewalt dehnte er seinen Herrschaftsradius aus und beanspruchte innerhalb dessen alleinige Autorität. Erfolgreiche Feld/Raubzüge mehrten die Zahl seiner Gefolgsleute, die erhöhte militärische Schlagkraft wiederum erlaubte es ihm, seinen Schiedsspruch zum einzigen Gesetz zu machen.[37] Die Konkurrenz von osmanischen kadis und Steuereintreibern konnte er dabei nicht dulden, nicht weil sie ‚fremdnational‘ gewesen wären, sondern weil sie seine fürstliche Machtbasis schmälerten — materiell die einen, ideell die anderen. Die Oberhoheit der Osmanlı als Großherrn hingegen war ihm so lange unproblematisch, als dadurch seine eigene Herrschaft nicht infrage gestellt wurde, im Gegenteil: Bedir Khan betonte auch auf dem Höhepunkt seiner Macht, daß er sich seinem Vasalleneid nach wie vor verpflichtet fühle.[38] Nichts deutet darauf hin, daß er oder Mir-i Kora „die Kurden“ oder „Kurdistan“ als eine präexistente Wesenseinheit aufgefaßt hätten, welcher allein schon durch das Faktum ihrer schieren Existenz ein Recht auf vollständige Freiheit von „Fremdbestimmung“ zugestanden hätte.[39] War Mir-i Koras Ziel ein universell vergrößertes Emirat Soran gewesen, so galt Bedir Khans Streben einem allumfassenden Emirat Botan. Beide waren sie von der Erschütterung des Reiches durch den Konflikt zwischen Muhammed Ali und Mahmud II. begünstigt worden, aber das mehrmalige Eingreifen der Europäer zugunsten des von ihnen erwünschten status quo verkürzte in beiden Fällen die ihnen verbleibende Zeitspanne zu sehr, als daß sie sich endgültig als Regionalherrscher hätten festsetzen können. Mit ihnen ging allerdings die ganze Ära der fürstlichen „kurdischen“ Sonderrechte ihrem Ende zu. Nach der Eroberung von Bitlis (1849) erlosch mit dem Emirat Baban (1850) die letzte der großen alten Dynastien.[40]
Mitte des Jahrhunderts hatte die Pforte also ihr Hauptziel weitestgehend erreicht, die meisten Provinzen unterstanden wieder dem direkten Zugriff der Zentralgewalt, und kein von ihr bestellter vali mußte mehr zittern, ob es den ihm mitgegebenen Truppen wohl auch gelingen möge, seinen Vorgänger gewaltsam aus dem Amt zu vertreiben. Selbst die über ein Jahrzehnt schwelende „ägyptische Krise“ war mit Hilfe europäischen Drucks in einer Weise bereinigt worden, die eine erneute Bedrohung der Souveränität des Sultans aus diesem Teil seines Reiches unmöglich machte. Aber eigentlich war die Beseitigung der übermächtigen Provinzherren nur als erster Schritt im Rahmen der „heilsamen Neuordnung“, der tanzimat, geplant gewesen, und gerade beim zweiten Schritt, der Gewährleistung einer regulären, zentral kontrollierten Verwaltung, Steuererhebung und Rechtssprechung auch in den entfernteren Provinzen, versagte die Pforte — zumindest was Kurdistan betrifft — auf ganzer Linie.
„Die Schwäche der türkischen Regierung können die Erfolge des Mohammed Pascha von Mosul nur auf kurze Zeit bemänteln. Man legt den Häuptlingen Tribut auf, treibt in den Gränzbezirken [sic] einige Rekruten ein und hält dazu einen oder zwei Plätze — wie Basch Kalah und Dschulamerk — und ich glaube auch Amadia — mit Truppen besetzt. — Inzwischen warten die Häuptlinge im Inneren, wo sie wie vorher unbekümmert um den Sultan und seinen Tansimat schalten und walten [...] die Zeit ab, da günstigere Umstände, etwa ein Angriff auf die Türkei von Rußland oder Persien her [...], das leichte Joch abzuschütteln erlauben mögen.“[41]
Nur zu bald hatte die Pforte erfahren müssen, daß sich an den Umständen, welche die Sultane vergangener Jahrhunderte dazu bewogen hatten, ihre überlegene Militärgewalt nicht zur Zerschlagung der aufsässigen lokalen Herrschaften in Kurdistan zu benutzen, nichts geändert hatte. Auch nachdem alle größeren Orte wie Cizre, Sulaymaniya, Bitlis, Amadiya oder Çölemerik von osmanischen Truppen besetzt waren[42], reichte die Macht ihrer Statthalter außerhalb der Mauern dieser Garnisonsstädte kaum weiter als bis zum jeweiligen Standort ihrer Armee.[43]
Das entscheidende Problem war, daß das Reich unverändert stark genug geblieben war, um für einmalige Schläge eine erdrückende Übermacht zu versammeln, es jedoch für eine dauerhafte Beherrschung Kurdistans an Kräften fehlte. Folglich stellte sich alsbald die alte Kräftebalance zwischen den eingesessenen Herren in der Provinz und der Zentralgewalt auf etwas niedrigerem Niveau wieder ein. Nunmehr arbeiteten statt Sultan und erblichen Emiren eben regionale Statthalter mit lokalen ağas und Stammeschefs zusammen.[44] So hatte Kurdistan allerdings zwei Herren und die Untertanen wurden doppelt besteuert: von der osmanischen Zentralgewalt nämlich, die in jährlichen, feldzugartigen Kampagnen die staatlich festgelegten Steuern (und mehr) eintrieb, und von den alteingesessenen ağas, die gar nicht daran dachten, auf den ihnen nach Gewohnheitsrecht zustehenden Tribut zu verzichten.[45] Der daraus resultierende wirtschaftliche Niedergang wurde weiter dadurch beschleunigt, daß die neuen osmanischen Statthalter weder über die gewachsene Autorität altehrwürdiger Dynastien noch über die materielle Macht verfügten, um im Falle schwerwiegender tribaler Konflikte die Funktion der abgesetzten Emire als übergeordnete Schlichtungs- und Entscheidungsinstanz übernehmen zu können.[46]
Als Konsequenz zerbrach die fragile Kräftebalance der kurdischen Gesellschaft in einem schier unentrinnbaren Strudel allseitiger Konflikte. Die großen Konförderationen der alten Emirate lösten sich auf in einander permanent bekämpfende und befehdende Stämme und Stammesabsplitterungen.[47] Die Allianz der osmanischen Statthalter mit einzelnen lokalen ağas verschlimmerte die Krise nur noch: ohne diese Zusammenarbeit konnten sie im Umland ihrer Residenzen nicht einmal die minimalste Ordnung aufrechterhalten; gleichzeitig trieb aber gerade diese Allianz die tribalen Rivalen der protegierten ağas zur offenen Rebellion gegen den Staat. Die periodischen Strafexpeditionen größerer Truppeneinheiten hatten dabei keinerlei bleibende Wirkung, und die öffentliche Sicherheit brach schlicht zusammen.[48]
Während die Reform- und Rezentralisierungsanstrengungen der Pforte in den osmanischen Kernlanden vor allem durch die ökonomische Schwäche der Zentralgewalt teilweise bis zum Stillstand gebremst wurden, aber trotzdem allmählich zu Veränderungen im Sinne der Pforte führten, wirkten sie im gänzlich anders gearteten Kontext der kurdischen Gesellschaft offenbar bloß destruktiv. Als Reaktion auf die Unfähigkeit der osmanischen Zentralgewalt, das von ihr selbst angerichtete Chaos in der östlichen Peripherie zu stoppen, erwuchs hier schließlich durch ‚Mutation‘ einer jahrhundertealten spirituell-sozialen Institution, den sheikhs, eine neue einheimische Machtelite, die die Gestalt der kurdischen Gesellschaft während der hundert Jahre zwischen 1850 und 1950 nachhaltig prägen sollten. Dem Aufstieg dieser neuen Schlüsselfiguren muß das Augenmerk daher als nächstes gelten.
Der Aufstieg der sheikhs in der kurdischen Gesellschaft
Als sheikh bezeichnet man in Kurdistan von alters her jene spirituellen Führer, die sich durch asketische Lebensführung, Weisheit (einschließlich heilpraktischer Kenntnisse) und Vertiefung in mystisch-religiöse Lehren einen Ruf als heilige und verehrungswürdige Persönlichkeiten erworben haben.[49] Man darf sich diese sheikhs dabei nicht als entrückte ‚Säulenheilige‘ vorstellen. Sie schossen, ritten und kämpften wie jeder andere Stammeskrieger, und etliche von ihnen erwarben sich auch einen großen Ruf als militärische Führer. Im übrigen verschmähten sie auch weltlichen Reichtum nicht, denn ein großer Teil ihres Prestiges beruhte darauf, daß sie ihre Gefolgsleute und andere Gäste häufig großzügig bewirteten und im Falle der Not gelegentlich mit materieller Hilfe (z.B. Saatgut) beiseite standen.[50] Umgekehrt brachten ihre Anhänger bei jedem Besuch kleine (oder sofern sie reich waren große) Geschenke mit.[51] Landschenkungen wurden offenbar recht häufig vorgenommen.[52]
Diese materiellen Beziehungen waren jedoch von kapitalistischen Warentauschgesetzen weit entfernt, denn der Gastgeschenke darbietende Besucher eines sheikhs ‚bezahlte‘ diesem nicht etwa ein ‚Äquivalent‘ für eine empfangene ‚Dienstleistung‘, sondern er bestätigte damit dessen sozialen Status. Umgekehrt wäre die bloße Akkumulation von Gaben als Selbstzweck — etwa im Sinne einer „Schatzbildung“ — ohne die gleichzeitige Bereitschaft zur demonstrativen Verschwendung, wie z.B. die überreichliche Bewirtung Hunderter von Gästen an besonderen Feiertagen, für den sheikh einem sozialen Selbstmord gleichgekommen.[53] Die folgende Beobachtung, die der Anthropologe Leach im tribalen Milieu Irakisch-Kurdistans machte, zeigt, daß dieser soziale Mechanismus selbst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts ungebrochen in Kraft war:
„Je ausufernder die Gastfreundlichkeit des Aghas, desto höher steigt er in der Wertschätzung seiner Gefolgsleute; dies gilt in solchem Maße, daß das einem Mann dank seiner Qualität als guter und freigebiger Gastgeber zustehende Prestige auf der Ebene der Ehre Handicaps aufgrund geringer Geburt vollständig aufzuwiegen vermag. Hamid Amin Agha aus Naupurdan beispielsweise genoß trotz Armut und nur recht schwacher verwandtschaftlicher Nähe zum herrschenden Chef des Klans ein unglaubliches Ansehen im ganzen Distrikt — allein aufgrund seiner Gastfreundschaft. Überall konnte man hören, daß er viel mehr Ehre im Leib habe [...] als sein nomineller Herr, Sheikh Mohammad Agha von Walosh [...] Sheikh Mohammad sei geizig und ein altes Weib [...] Die gesellschaftliche Struktur ist derart gestaltet, daß diese Art des Ansehens höher als alle anderen geschätzt wird.“[54]
In dieser vorbürgerlichen Sozialwelt erlangte man Macht weniger durch Anhäufung von Besitz als durch exzessive Verausgabung von Gütern — mit dem dadurch erhöhten sozialen Status konnte man allerdings unter bestimmten Umständen um so mehr Leistungen und Abgaben einfordern[55] —, weil Reichtum letztlich als eine abgeleitete Funktion des Status erschien.
Teilweise vermochte sich das besondere Prestige eines sheikhs auf seine Nachkommen zu vererben. Sofern diese jedoch nicht selbst den entsprechenden Lebenswandel an den Tag legten, verflachte die aktive Verehrung rasch zu einem diffusen Respekt. Sheikh war (und ist) daher ein Titel, der vorwiegend durch praktischen Lebenswandel errungen und behauptet werden mußte und nicht wie ein Amt von irgend jemand verliehen werden konnte.[56] Wer allerdings als Lehrmeister eines der bestehenden sufi-Orden akzeptiert sein wollte, bedurfte der Einführung und Lossprechung durch einen etablierten sheikh der betreffenden Gruppierung. Daneben sind aber auch Einzelgänger ohne jede Verbindung zu einem bestimmten Orden zu weithin akzeptierten sheikhs aufgestiegen. Von diesen vermochte jedoch keiner seinen Einfluß dauerhaft auf Nachfolger zu übertragen.[57] Im Gefolge der sufi-Orden hingegen entstanden regelrechte sheikh-Dynastien, in denen Prestige und Einfluß in gewisser Weise akkumulierbar gewesen zu sein scheinen.[58] So waren die einflußreichsten sheikhs in Kurdistan allesamt entweder Mitglieder der „Kadiriye“ oder der „Nakşbendî“, jener beiden Orden, welche allein — aus der Vielzahl der sufi-Gemeinschaften im ganzen islamischen Raum — in Kurdistan zu größerer Bedeutung gelangten.[59]
Die sufis boten ihren Anhängern im Vergleich zur rationalen und eher äußerlichen Ritual-Theologie der sunnitischen ulema eine sinnlich erfahrbare und popularisierte Glaubensvariante, die den immer noch stark vorislamisch, schamanistisch geprägten Glaubensbedürfnissen der breiten Mehrheit der Bergbewohner mehr entgegenkam.[60] Besonders das Moment der persönlichen Verehrung und unbedingten Gefolgschaft der sufi-Schüler für ihren sheikh, die bisweilen selbst die Grenzen zur Vergöttlichung überschreiten konnte, wurde allgemein angenommen.[61] In jedem Fall wurde den sheikhs ein mehr oder minder direkter Kontakt zum Allmächtigen zugeschrieben. Nach einer weit verbreiteten bildhaften Vorstellung durfte der gehorsame Anhänger eines sheikhs darauf hoffen, nach dem Tode von seinem Meister in einer Tasche sicher durch die göttliche Prüfung ins Paradies gebracht zu werden.[62] So etwas propagierten die sheikhs allerdings nicht selbst. Die „inneren Mysterien“ der Nakşbendî beispielsweise waren eher orthodox und auch von der sunnitischen ulema anerkannt.[63] Das hinderte ihre Anhänger nicht daran, sie als wundertätige Magier und Heilige zu verehren, und die sheikhs unternahmen auch nichts dagegen, da solch eine Reputation der Entfaltung ihres Einfluß' nur dienlich sein konnte.[64] Die Erstellung wundertätiger Amulette und Briefchen, z.B. zum Schutz vor Verletzung durch Gewehrkugeln, gehörte dabei durchaus zu den akzeptablen Betätigungen eines seriösen sheikhs.
Natürlich hatte ein sheikh auch ganz irdische Funktionen, denn sein Rat wurde in allen wichtigen Entscheidungen (Heirat, weite Reisen, Krankheit) eingeholt, vor allem aber trat er als Schlichter bei schwerwiegenden Konflikten auf.[65] Je größer das Prestige des sheikhs, desto eher fanden die beiden Streitparteien sich bereit, seinen Schiedsspruch zu akzeptieren. Umgekehrt erhöhte jeder geschlichtete Streitfall das Prestige des erfolgreichen Schlichters. Die Funktion des obersten Schlichters war in der Vergangenheit jedoch eindeutig von den Emiren aus den großen Dynastien wie Baban, Soran oder Botan besetzt, und solange diese Herrscherhäuser noch existierten, wurden den sheikhs nur weniger bedeutsame Streitigkeiten vorgetragen. Die Schlichtung eines gewichtigen Konflikts, beispielsweise zwischen den Chefs zweier großer Stämme, wäre nämlich einer Herausforderung der Souveränität des Emirs gleichgekommen, denn durch die Unterwerfung unter seinen Schiedsspruch hätten die Konfliktparteien den Status des Schlichters als über dem ihren stehend hingenommen und den sheikh dadurch mehr oder weniger als Herrn akzeptiert.[66] Zudem qualifizierten sich die Emire, abgesehen von ihrem Prestige, zusätzlich durch die ihnen zu Gebote stehende, überlegene Streitmacht für das Amt des obersten Richters: eine Streitpartei, die einem fürstlichen Schlichtungsspruch zu trotzen wagte, mußte mit einer vernichtenden Strafexpedition rechnen.[67]
Die Beseitigung der mehr oder weniger unabhängigen Herrschaften in den Bergen Kurdistans und der Aufstieg der sheikhs von lokal verehrten weisen Männern zu überregionalen Machthabern gehören daher ursächlich zusammen. Die sheikhs standen als einzige weit genug außerhalb der Stammesorganisation, um nicht selbst automatisch Partei werden zu müssen in jenem Strudel ungebändigter segmentärer Konflikte, in welchem die gesellschaftlich dominante Schicht der Stammesleute nach dem Verschwinden der Emiratsstrukturen unterzugehen drohte. Gleichzeitig waren sie akzeptierter Teil des Systems — anders als die osmanischen Statthalter, deren offizielle Herrschaft das Chaos nur noch verschlimmerte — und konnten durch geschickte politische Allianzen und Heiraten die militärisch potenten Stämme an sich binden und so allmählich wieder eine gewisse gesellschaftliche Stabilität etablieren.[68] Auf diese Weise hatten sich binnen weniger Jahrzehnte die drei großen sheikh-Dynastien der Şamdinan, Barzan und Barzinci zu den eigentlichen Herren Kurdistans aufgeschwungen.[69]
Dieser Prozeß wurde beschleunigt durch den gänzlichen Zusammenbruch der staatlichen Autorität in den östlichen Provinzen des Reiches während des sogenannten „Krimkrieges“ (1853-1856) und das dadurch bedingte Chaos. All jene Potentaten, die sich früher in ihrem Einflußgebiet einer autonomen Herrschaft erfreut hatten, beeilten sich, von der neuerlichen Schwäche der Pforte zu profitieren. So versuchte sich auch ein Neffe Bedir Khans, İzzeddin Şir, an der Wiedererrichtung des zerschlagenen Emirats von Botan.
Seinerzeit durch frühzeitigen Frontwechsel dem Schicksal des Onkels entgangen und sogar mit einem Gouverneursposten belohnt, war er einige Zeit vor dem Krieg in Ungnade gefallen und seines Posten wieder enthoben worden.[70] Erst bei Kriegsausbruch besann man sich eines anderen und gab ihm den Auftrag, eine Truppe von einigen tausend irregulären Reitern aufzustellen.[71] İzzeddin Şir lagerte mit den ersten 1 500 Freiwilligen in der Nähe Cizres, als sich herausstellte, daß der versprochene Sold für seine Leute veruntreut worden war.[72] Daraufhin bemächtigte sich İzzedin Şir an der Spitze seiner düpierten Truppe der Stadt und ließ sich dort selbst zum Herrscher ausrufen.[73] Ein Vorstoß der Rebellen auf Zakho wurden zunächst abgeschlagen, doch Siirt konnte praktisch kampflos eingenommen werden. Mitte Dezember 1854 schließlich beherrschte İzzeddin Şir unangefochten Siirt, Cizre und Zakho.[74] Die Pforte brauchte mehrere Monate, um der Sache Herr zu werden, zumal die Rücksichtslosigkeit, mit welcher die im Frühjahr 1855 herbeigezogene, größere Armee unter Ferik Mehmet Paşa auch in unbeteiligten Gebieten zu Werke ging, diese ebenfalls zur Rebellion trieb.[75] Im Juni 1855 kam es zur Entscheidungsschlacht, die mit einer Niederlage der Rebellen endete. İzzeddin Şir gab Cizre daraufhin preis, verschanzte sich in einer Bergfestung und nahm Verhandlungen mit Mehmet Paşa auf. Da er aber den Garantien des osmanischen paşas nicht trauen wollte, flüchtete sich İzzeddin Şir schließlich nach Mosul und unterstellte sich dem Schutz des dortigen britischen Vize-Konsuls Rassam, der ihm tatsächlich solange Asyl gewährte, bis eine vergleichsweise glimpfliche Strafe (Verbannung nach Vidin) mit der Pforte ausgehandelt war.[76]
Es wird wohl hauptsächlich an der verwandtschaftlichen Verbindung İzzeddin Şirs zu Bedir Khan liegen, daß diese Revolte in der einschlägigen Literatur besonders hervorgehoben wird.[77] Tatsächlich gab es während des Krimkrieges (besonders nach dem Fall Kars') etliche solcher Versuche, lokaler oder regionaler Art, die Kontrolle der Zentralgewalt wieder abzuschütteln. Ein Aufstand unter einem gewissen Mohammed Ağa führte z.B. zur Eroberung von Başkale, woraufhin für einige Zeit ein neuer Emir für Hakkâri ausgerufen wurde.[78] Der nordamerikanische Missionar Samuel Rhea schrieb im Februar 1856 aus Mosul:
„Die Kapitulation von Kars hat zweifelsohne diesem gesetzlosen Treiben Vorschub geleistet. Man hat gegenwärtig in den Bergen wohl allgemein den Eindruck, daß die Türken am Ende sind; und da die Engländer und Russen zu weit weg und überhaupt zu sehr mit anderem beschäftigt sind, als daß sie um den Schutz der christlichen Bevölkerung kümmern würden, glauben die Kurden, sie könnten nach Belieben rauben und plündern. Ihr Motto ist zur Zeit: ‚Laßt uns essen und trinken, denn morgen werden wir sterben.“[79]
Der Krimkrieg allerdings ist — als ein Wendepunkt in der osmanischen Geschichte — von zu großer Bedeutung, als daß er hier nur als ‚Hintergrund‘ diverser Aufstände abgehandelt werden könnte.
Der Krimkrieg und seine Folgen
Der Krimkrieg, in welchem die Osmanen an der Seite der Briten, Franzosen und zuletzt auch der Sarden (Königreich Sardinien-Piemont) gegen das Russische Reich kämpften und ‚siegten‘, bedeutete für die westlich-kapitalistische Penetration des Osmanischen Reiches den endgültigen Durchbruch, vor allem verwandelte er Istanbul in einer Art Radikalkur von einem Zentrum des Islams zu einer europäischen Hauptstadt. Noch 1833, als Istanbul durch den unaufhaltsamen Vorstoß der Armeen Muhammed Alis unmittelbar bedroht zu sein schien, hatte ein russisches Expeditionskorps, das in Erfüllung eines Beistandsversprechens nahe der Hauptstadt gelandet war, wegen der allgemeinen Empörung über das Auftauchen bewaffneter Ungläubiger im „Haus des Islams“ unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen.[80] Während der Kriegsjahre 1854 bis 1856 nun wurden ganze Stadtteile Istanbuls von französischen, englischen und sardischen Truppen, Generalstäben, Lazaretten und Materialdepots in Beschlag genommen.[81] Zu Zehntausenden bevölkerten uniformierte Europäer die Straßen und benahmen sich daselbst wie Herren in einem eroberten Land.[82]
Man darf dabei nicht aus den Augen verlieren, daß der Konflikt ursprünglich ein russisch-osmanischer gewesen war, denn der unmittelbare Anlaß für den Ausbruch der Kämpfe im Jahre 1853 war das unablässige Drängen des Russischen Reiches auf eine privilegierte Sonderstellung für alle orthodoxen Christen im Osmanischen Reich, die durch ein direktes Kontrollrecht des Zaren zu garantieren sei. Ein Begehren, das um so offenkundiger auf die endgültige Demontage des Reiches abzielte, als Zar Nikolaus I. es durch die Besetzung der Donaufürstentümer Wallachei und Moldau — als eine Art ‚Faustpfand‘ — meinte durchsetzen zu können.[83] Die Pforte nahm dies jedoch als casus belli; die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens, ihrerseits in innenpolitischen Nöten, blockierten durch verbale anti-russische Kraftakte eine diplomatische Lösung, und so geriet Europa in einen der blutigsten Kriege des 19. Jahrhunderts.[84]
Dabei wäre ein Ende der Kämpfe bereits nach knapp einem halben Jahr möglich gewesen, die russischen Truppen kamen nämlich aufgrund des hartnäckigen osmanischen Widerstandes weder auf dem Balkan noch im Kaukasus voran, weshalb die Petersburger Führung den österreichischen Vorschlag annahm, die Donaufürstentümer an Habsburger Interimstruppen zu übergeben und erneut mit der Pforte zu verhandeln. Im Juli 1854 war so der status quo ante fast wiederhergestellt. Die Entscheidung, trotzdem in einem gemeinsamen Vorstoß über das Schwarze Meer den russischen Kriegshafen Sewastopol auf der Krim zu zerstören, diente in dieser Situation allein dazu, den tatenlos in der Etappe wartenden französischen und britischen Expeditionstruppen einen siegreichen Abgang zu verschaffen und so den unnützen, aber kostspieligen Truppenaufmarsch durch eine eindrucksvolle Demütigung Rußlands doch noch zu ‚rechtfertigen‘.[85]
Die Osmanen hatten bei diesem Prestigeunternehmen nichts zu gewinnen; während Zehntausende osmanischer Soldaten sinnlos auf der Krim verbluteten und das Reich insgesamt durch die Belastung der Verproviantierung der riesigen alliierten Armee an den Rand einer Hungerkatastrophe geriet[86], gewährten die westlichen Alliierten kaum Unterstützung an der Kaukasusfront, wo die russischen Truppen auf Dauer die Oberhand gewannen und letztlich sogar Kars erobern konnten.[87] Obendrein hatte sich die Pforte, die vor 1854 noch nie eine Anleihe im Ausland aufgenommen hatte, bei westeuropäischen Banken so stark verschuldet, daß die Begleichung der kriegsbedingten Auslandsverbindlichkeiten eins der größten fiskalischen Probleme der folgenden Jahrzehnte wurde. Tatsächlich vergingen zwischen der ersten Auslandsanleihe und dem Staatsbankrott gerade einmal zwanzig Jahre, in denen laufend neue Kredite aufgenommen werden mußten, anfänglich noch zur Tilgung älterer Anleihen, später allein schon, um den Zinsdienst aufrechtzuerhalten.[88]
Auf dem Papier allerdings hatte das Osmanische Reich mit dem Friedensschluß von Paris, der den Krimkrieg formell beendete, erhebliche Erfolge zu verzeichnen. Nicht nur mußte Rußland alles besetzte Territorium (vor allem Kars) räumen und seine Schwarzmeerflotte abwracken, sondern die territoriale Integrität des Reiches in seinen damaligen Grenzen wurde von allen unterzeichnenden Mächten[89] als unverletzlich anerkannt; gleichzeitig verpflichteten sie sich dazu, sich fürderhin jeder Einmischung in die Beziehungen des Sultans zu seinen Untertanen zu enthalten.[90] Im Gegenzug hatte der Sultan jedoch in einem neuen Reformedikt (Islahat Fermanı), dessen Text ihm Satz für Satz von den Botschaftern Großbritanniens, Frankreichs und Österreich-Ungarns diktiert worden war, die vollständige rechtliche Gleichstellung all seiner Untertanen ungeachtet ihrer Religion feierlich versprechen müssen.[91] In diesem Edikt wurden — anders als im Hatt-ı Şerif von 1839 — die zukünftigen Rechte der Christen im Reiche genau spezifiziert, insbesondere sollten ihnen sämtliche Staatsämter und auch der Militärdienst offenstehen.[92] Und während die Nichteinmischung der Großmächte in die inneren Angelegenheiten des Reiches ein leeres Versprechen blieb — so landete z.B. keine fünf Jahre nach Vertragsunterzeichnung eine französische Expeditionstruppe im Libanon —, wurde die Pforte immer wieder zur Erfüllung der notgedrungen versprochenen, tatsächlich aber kaum zu realisierenden Emanzipation der Christen angehalten.[93] Letztlich hatte der ungeheuere Preis an Kriegsopfern — von der langfristigen Zerrüttung der Staatsfinanzen einmal ganz abgesehen — kaum mehr bewirkt, als eine Ablösung der permanenten Drangsalierung seitens Rußlands durch eine nicht minder dreiste Drangsalierung durch alle Großmächte zusammen.
Die Erringung vorläufiger Ruhe an den äußeren Grenzen war der einzige positive Aspekt für die Regierung, die sich nun stärker auf ihre eigenes Reformprogramm (tanzimat) konzentrieren konnte. War diese tanzimat ursprünglich auch kaum mehr gewesen als ein Versuch, die verkrustete osmanische Zentralbürokratie etwas effektiver zu machen, so entwickelte sie doch allmählich eine solche Eigendynamik, daß die Reformbestrebungen sich über den traditionellen Horizont des Apparates hinaus auszubreiten begannen. Wichtigster Katalysator hierfür waren die schon in der Frühphase der tanzimat errichteten Militär-, Verwaltungs- und Medizinfachschulen, die — mit westlichem Lehrpersonal und -material bestückt — eine neue Generation von Funktionären heranzogen. Die Absolventen dieser Schulen sowie die auslandserfahrenen Mitarbeiter der 1834 wieder eröffneten diplomatischen Vertretungen in den europäischen Hauptstädten bildeten den Kern einer neuen Machtelite, die nach 1856 ernsthafte Anstrengungen unternahm, die Reichweite der staatlichen Kontrolle auszudehnen.[94]
Wichtige Etappen hierbei waren auf der institutionellen Ebene das Landgesetz (1858), das Nationalitätengesetz (1869), der Start eines breiteren Bildungssystems im selben Jahr und die Ausarbeitung eines ‚Bürgerlichen Gesetzbuches‘ (1869-1876), das die Grundlage eines von der ulema losgelösten, rein staatlichen Rechtswesens bilden sollte.[95] In infrastruktureller Hinsicht ist vor allem der rasche Ausbau jener ersten Telegraphenlinien zwischen Istanbul und Bukarest bzw. Belgrad, welche die abziehenden britischen und französischen Truppen den Osmanen hinterlassen hatten, von Bedeutung.[96] Nach nur knapp einem Jahrzehnt erfaßte das osmanische Telegraphennetz bereits alle wesentlichen Provinzzentren, Bagdad beispielsweise wurde schon 1861 direkt mit Istanbul verbunden.[97] Da die Postlinie nach Bagdad über Mosul, Cizre und Diyarbakır verlief, stand nun auch die Verwaltung Kurdistans unter unmittelbarer Kontrolle der Zentrale, denn der durch die Telegraphie gewährleistete, fast verzögerungsfreie Informationsaustausch bedeutete vor allem einen direkteren Zugriff der zentralen Bürokratie auf ihre Stellvertreter in diesen entlegenen Winkeln des Reiches.[98]
Welche Veränderungen sich daraus ergaben, mag die folgende Gegenüberstellung verdeutlichen: Als sich im Jahre 1847 Emir Bedir Khan seinen osmanischen Belagerern ergeben wollte, verhandelte er allein mit Osman Paşa, dem obersten Militärkommandanten vor Ort. Dieser gewährte ihm — trotz aller blutigen Kämpfe — exakt dieselben, überaus günstigen Übergabebedingungen, welche die Pforte im Vorfeld der Auseinandersetzung Emir Bedir Khan für den Fall einer kampflosen Kapitulation offeriert hatte.[99] In Istanbul erfuhr man hiervon erst, als der gefangene Emir sich bereits mit den Garantien des paşas auf dem Weg dorthin befand. Und obwohl man es in Palastkreisen als sicher annahm, daß sich Osman Paşa seine ‚Milde‘ gut hatte bezahlen lassen, wurden seine Versprechungen erfüllt.[100] 1878/9 hingegen mischte sich der Sultan via Telegraph direkt in einen Konflikt mit einem rebellischen Nachkommen Emir Bedir Khans ein: Diesmal war er es, der — zur Verärgerung des verantwortlichen paşas vor Ort — Amnestie und sogar Belohnung versprach, falls der Empörer sich ergeben wolle.[101] Die Gouverneure trauten sich bald nicht mehr, Entscheidungen von größerer Reichweite ohne Rückfrage in Istanbul selbst zu treffen.[102] Mit der Zeit begriffen allerdings auch die einheimischen Machteliten in Kurdistan ihrerseits die Bedeutung dieser Direktverbindung, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren telegraphische Appelle und Proteste zu einem geläufigen Politikmittel geworden. Ein frühes Beispiel für solch eine Direktintervention in Istanbul berichtet Rassam im Jahre 1877 aus Siirt, wo das Vorhaben der örtlichen chaldäisch-christlichen Gemeinde, eine neue Kirche zu errichten, die Gemüter der Muslime erregte:
„Wie es scheint, war die notwendige Summe für den Bau eines neuen Gotteshauses in einem anderen Stadtteil durch Kollekten zusammen gekommen, doch die Muslime hatten seine Errichtung verhindert. Kaum hatten die Chaldäer ihre amtliche Erlaubnis erwirkt und Baumaterial zusammengetragen, telegraphierten der kadı und andere Fanatiker nach Konstantinopel, um gegen den Bau zu protestieren [...]“[103]
Das Landgesetz von 1858
Kein anderer einzelner Aspekt der tanzimat sollte die kurdische Gesellschaft langfristig so nachhaltig beeinflussen wie das 1858 verkündete Gesetz über die Neuordnung des Landbesitzes, das die Neuregistrierung des gesamten Landes vorschrieb und darauf abzielte, das urbare Land der Verfügungsgewalt der sheikhs, Stammes-ağas, ehemaligen Steuerpächter, ayan und aller anderen selbsternannten Grundherren zu entziehen und es jenen als staatlich garantierten Besitz zuzuweisen, die es nachweislich bearbeiteten.1[104]
„Wesentlichster Punkt war die Einführung des ›Tapu‹, eines Rechtstitels [...] der Bauer [hatte] lediglich zur Kreisbehörde zu gehen, anzugeben, welches Land in seinem unbestrittenen Besitz war, und eine bestimmte Gebühr zu bezahlen. Sein Land wurde damit ›Tapulu Arazi‹, ›Land mit Besitztitel‹, für das er zwar Steuern zahlen mußte, das er aber auch jetzt verkaufen, vererben und beleihen konnte. Der Titel entsprach also nahezu dem des Eigentums, lediglich die Bedingung permanenter Bebauung war an die Übertragung geknüpft.“[105]
Insbesondere jene Passage des Gesetzes, welche ausdrücklich verbot, ganze Dorfeinheiten auf eine Person einzutragen oder Land als Kollektivbesitz anzuerkennen, zeigt deutlich die ursprüngliche Intention der Gesetzesmacher.[106]
Offenbar glaubte man durch eine erzwungene Individualisierung des Landbesitzes mit einem Schlag die Machtbasis der großgrundbesitzenden städtischen Notabeln sowie der Stammeschefs brechen zu können.[107] Die Umsetzung des Gesetzes verlief jedoch mehr als schleppend — angesichts der gigantischen Aufgabe und der zur Verfügung stehenden Ressourcen kein Wunder —, und wo es durchgeführt wurde, erzeugte es ganz andere Ergebnisse als geplant. Die alte Kooperation der unteren Ebenen der Staatsmacht mit den lokalen Patronen funktionierte nämlich auch bei der Durchführung dieses Gesetzes ungebrochen. Und da die osmanischen Beamten auf diese Weise in der Regel keinen Kontakt zu den einzelnen Bauern hatten, sondern nur mit deren Patronen, seien es städtische Notabeln, seien es sheikhs oder Stammeschefs, verhandelten, konnten diese häufig ganze Landstriche und Dörfer auf ihren Namen eintragen lassen, ohne daß die wirklichen Bearbeiter des Landes überhaupt je von ihren Rechten Kenntnis erhalten hätten.[108] Die passenden Zeugen oder ‚Dokumente‘ fanden sich allemal.[109]
Tatsächlich stärkte die Staatsmacht mit dieser verunglückten ‚Reform‘ die Macht der ağas und sheikhs, deren vormaligen Gewohnheitsrechte (oder durch nackte Gewalt erzwungenen ‚Anrechte‘) auf das Mehrprodukt der direkten Produzenten sich nun in staatlich garantierte Besitztitel verwandelten.[110] Langfristig hatte dies auch Folgen für die traditionellen Stammesstrukturen: Aus vormals freien Stammesleuten wurden nach der Seßhaftwerdung oftmals rechtlose Habenichtse auf dem Grundbesitz des Stammeschefs, da dieser, dank seines Monopols auf alle Behördenkontakte, in der Lage gewesen war, das ursprünglich kollektiv besessene Weideland unter der Hand auf seinen Namen registrieren zu lassen.[111]
Vorläufig allerdings entstanden daraus nicht überall praktische Konsequenzen: Hoch oben in den Bergen, wo das Stammeswesen unverändert stark verankert war, konnte der ağa es nicht wagen, aufgrund seiner neuen Besitzrechte die Abgaben zu erhöhen oder anderweitig gegen den Willen der Nutzer über das Land zu verfügen. In den Ebenen und im Bergvorland hingegen, wo die nicht-tribale Bauernschaft überwog und der staatliche Einfluß stärker war, kam es in der Regel schneller zu Veränderungen.[112] Die Auswirkungen der Landregistrierung zeigten sich in ihrem ganzen Ausmaß jedoch erst mit der Mechanisierung der Landwirtschaft in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts, denn vor der massenhaften Einführung von Traktoren und Erntemaschinen war Arbeitskräftemangel das eigentliche Problem der Landwirtschaft.[113] „Bauernlegen“ machte wenig Sinn, solange der ağa keine Lohnknechte finden konnte, die das ‚freigewordene‘ Land für ihn bearbeitet hätten. Die theoretische Macht der neuen Landbesitzer, auf Grund ihrer formalen Rechte die Bauern von deren angestammtem Boden zu vertreiben, blieb daher eher eine vage Drohung.[114]
Die mangelnde Effektivität des osmanischen Staatsapparats bei der Durchsetzung seiner eigenen Gesetze in so entlegenen Regionen wie Kurdistan trug ihrerseits dazu bei, die Verhältnisse lange Zeit in der Schwebe zu halten. Gerade in den Bergen wurde die auf dem Papier vollzogene Besitzveränderung vielerorts ignoriert, und die alteingespielten Beziehungen wurden unbeirrt fortgeführt, d.h. der ‚legale‘ Landbesitzer verpachtete den Bauern ihr Land einfach zu den alten Tributbedingungen.[115] Wenn auch erheblich langsamer als im Einzugsbereich der größeren Provinzstädte, in denen die nunmehr legalisierten Großgrundbesitzer dank ihres wachsenden Reichtums endgültig zur einflußreichsten Machtfraktion aufstiegen, vergrößerte sich die Polarisierung zwischen Arm und Reich allmählich auch im tribalen Milieu. Zugleich entwickelten sich neue Patronagebeziehungen zwischen den Eliten von Stadt und Land; meistens dergestalt, daß die tribalen Chefs des Umlandes Klienten einflußreicher städtischer Patrone wurden, um von deren guten Kontakten zur osmanischen Staatsbürokratie zu profitieren.[116]
Die Einführung westlich-kapitalistisch inspirierter Rechtsformen des Landbesitzes hatte also letztlich recht zwiespältige Ergebnisse: einerseits wurden dadurch in manchen Regionen (beispielsweise im Raume Arbil) überkommene Herrschaftsverhältnisse ihres paternalistischen und personalen Scheins entkleidet, indem viele Bauern ihrer angestammten Landnutzungsrechte verlustig gingen und zu landlosen Pächtern rentenziehender Großgrundbesitzer in der Provinzhauptstadt herabsanken, andererseits stabilisierte die Landregistrierung à la ottomane aber auch traditionelle Formen personaler Abhängigkeiten. So konnten etliche ağas und sheikhs, die bis dahin hauptsächlich kraft ihrer tribalen Gefolgschaft und ihrer traditionellen Legitimität aus erprobter Macht über dieses oder jenes Dorf geboten hatten, nun den neuen osmanischen Rechtstitel verstärkend hinzufügen. Umgekehrt wurde der Kauf zusätzlicher Landrechte ein Mittel zum Ausbau der eigenen Machtposition im tribalen System. Sheikh Ubeydullah, der wohl berühmteste Vertreter aus der sheikh-Dynastie der Şamdinan, kaufte beispielsweise gegen Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts etliche Dörfer beiderseits der osmanischen Grenze zu Persien, um die Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs in diese Region vorzubereiten.[117]
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Fußnoten