Nationalismus in Kurdistan (1993)
Anfang des 19. Jahrhunderts schien der endgültige Zusammenbruch des Osmanischen Reiches unmittelbar bevorzustehen. Das Reich war voller rebellischer [– S.146 –] derebeys („Talfürsten“), sich wie unabhängige Herrscher gebärdender Janitscharenkommandanten (besonders entlang der afrikanischen Mittelmeerküste) und selbstherrlicher ayan.[1] Die Unfähigkeit der überkommenen Strukturen, sich gegen den Druck der erstarkten europäischen Großmächte zu behaupten, war durch die Invasion Napoleon Bonapartes in Ägypten (1799-1801) auf krasseste Weise bloßgestellt worden, und die Schmach der Osmanen wurde nicht gerade dadurch gemindert, daß es britische Interventionstruppen waren, die Napoleons Armee zum Rückzug zwangen.[2] Die Eroberung Mekkas (1806) und Medinas (1804) durch die wahhabitischen Saudis mag in diesem Zusammenhang militärisch weniger bedeutsam gewesen sein, für das Prestige der Osmanlı, die seit Selim I. großen Wert darauf legten, „Diener der beiden Heiligtümer“ des Islams zu sein, war es eine schwerwiegende Demütigung.[3]
Das Jahr 1812 brachte dann mit dem nicht allzu ungünstigen Ende des sich seit 1806 hinziehenden Krieges mit Rußland den Anfang einer in einigen Gebieten überraschend effektiven Rezentralisierungskampagne. Ein wichtiges Instrument hierfür waren die während des Krieges eilig aufgestellten, von westlichen Militärberatern gedrillten neuen Infanterietruppen, die anschließend nicht demobilisiert, sondern bevorzugt gefördert wurden und im Bedarfsfall zur Wiederherstellung der sultanlichen Autorität in der Provinz eingesetzt werden konnten. Die unbotmäßigen Provinzherren wurden entweder gegeneinander ausgespielt oder frontal niedergekämpft und so Schritt für Schritt durch loyale beylerbeyis oder valis (wie nunmehr die Gouverneure der Reichsprovinzen häufiger genannt wurden) ersetzt.[4]
Allerdings muß man bedenken, daß von der Säuberungswelle zum einen nur die Spitze des Eisberges betroffen wurde. Die Masse der kleinen, nur lokal bedeutsamen ayan blieb unangetastet, nachdem sie ihre Kooperationsbereitschaft [– S.147 –] mit den neuen valis beteuert hatten.[5] Die Pforte hatte angesichts der vielen Krisen in kürzester Zeit gar nicht die Kraft, ihre Oberhoheit bis auf die lokale Ebene fühlbar zu machen, und kommunizierte weiterhin mit der Masse ihrer Untertanen nur durch die Vermittlung lokaler Patrone, allgemein ağa genannt, die praktisch mit den unteren Rängen der nunmehr kopflosen ayan-Hierarchie identisch waren.[6] Zum anderen gelang die Rezentralisierung im ersten Anlauf nur in den zentral gelegenen Teilen des Reiches, wie Makedonien oder Anatolien. Die weiter entfernten Regionen hingegen entglitten der Pforte zunehmend. Die Donaufürstentümer Moldau und Wallachei etwa gerieten immer stärker unter russische Kontrolle, während die nordafrikanischen Küstenprovinzen nach und nach in die Hände der europäischen Anrainerstaaten fielen. Andere Provinzen wie Serbien unter Miloš Obrenović oder Ägypten unter Muhammed Ali Paşa entwickelten sich ihrerseits schrittweise zu vollständig autonomen ‚Vasallen‘fürstentümern — gerade in der Zeit, da die großen anatolischen ayan untergingen. Und auch in der östlichen Peripherie standen die Zeichen eher auf Loslösung vom Reiche denn auf eine stärkere Einbindung. Noch 1838 schrieb der preußische Militärberater in osmanischen Diensten, Graf von Moltke, über Kurdistan folgendes:
„Das ottomanische Reich umfaßt bekanntlich weite Länderstrecken, in denen die Pforte thatsächlich gar keine Autorität übt, und es ist gewiß, daß der Padischah im Umfang seines eigenen Staats ausgedehnte Eroberungen zu machen hat. Zu diesen gehört das Gebirgsland zwischen der persischen Grenze und dem Tigris [...]“[7]
Die mächtigste Herrscher-Dynastie innerhalb der kurdischen Gesellschaft in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts war wohl die des Emirats Soran [– S.148 –] mit ihrer Hauptstadt Rawanduz.[8] Dort herrschte seit 1814 Muhammed Paşa, wegen eines erblindeten Auges „Mir-i Kora“ („blinder Fürst“) genannt.[9] In den ersten Jahren nach seiner Machtübernahme hatte er alle offenkundigen wie potentiellen Rivalen innerhalb des Herrscherhauses systematisch beseitigt und begonnen, seine persönliche Garde zum Kern einer regulären, stammesunabhängigen Armee auszubauen, für die er modernste Waffentechnik beschaffen und sogar eine Kanonengießerei in Rawanduz errichten ließ.[10] Nachdem durch die Ausschaltung aller alternativen Führungsanwärter das tribale Oppositionspotential gegen Mir-i Koras Alleinherrschaftsanspruch vorerst handlungsunfähig gemacht war, stürzte er sich in die Expansion seines Herrschaftsgebietes auf Kosten der angrenzenden Emirate.
In diesem Punkt hatte sich nämlich seit den frühen Tagen der Osmanlı oder Schah Ismails nichts geändert: Die Festigung einer Führungsstellung in einem vorwiegend tribalen Milieu war immer noch am leichtesten durch erfolgreiche Expansion zu erreichen, denn dem Eroberer fremden Reichtums unterwarfen sich auch die widerspenstigsten Stämme willig, um an der Plünderung und der Vergabe der eroberten Pfründe teilzuhaben — ohne dadurch allerdings schon in ihrer Selbständigkeit gebrochen zu sein. Diese rein taktische Unterordnung unter die Führung des Emirs vermochte jedoch auch in direktere Formen der Beherrschung umzuschlagen, wenn die Expansion nur lang genug erfolgreich verlief. In seiner Rolle als unersetzlicher Motor und Organisator der Einverleibung fremder Revenuen konnte ihm bei einigem Glück die notwendige Macht zuwachsen, um die Bedingungen für die Teilhabe an der Neuverteilung der Pfründe diktieren zu können. Durch die Gunst äußerer Umstände scheint dies im Falle Mir-i Koras eingetreten zu sein.
Das südliche Nachbaremirat Baban war durch eine unauflösbare Fehde innerhalb des Herrscherhauses so heruntergekommen und in so desolatem Zustand, daß es zu ernstlichem Widerstand gegen die Einverleibung Koisanjaks, Harirs, [– S.149 –] Raniyas, Arbils und Altın Köprüs in Mir-i Koras Reich nicht fähig war.[11] Im nördlichen Nachbaremirat Badinan war es hingegen ein tribaler Konflikt zwischen sunnitischen und yezidischen Stammeschefs, der dafür sorgte, daß Soran von der sunnitischen Streitpartei regelrecht zur Invasion aufgefordert wurde. Mit Hilfe dieser Verbündeten richteten die Truppen Mir-i Koras 1831 unter den yezidischen Stämmen ein furchtbares Blutbad an[12], um sich gleich darauf des ganzen Emirats zu bemächtigen. Mir-i Kora versuchte anschließend auch einen Angriff auf das nächstgrößere Herrscherhaus, Botan, der aber nach Anfangserfolgen ohne bleibenden Gewinn abgebrochen wurde.[13]
Natürlich waren die internen Krisen der unmittelbaren Nachbarn allein nicht hinreichend für Mir-i Koras Eroberungszüge. Ein weiteres Stimulans war die gleichzeitige, langanhaltende Schwäche der osmanischen Zentralmacht, die in besseren Zeiten einer solch dramatischen Veränderung der Machtbalance in ihrer Peripherie keinesfalls tatenlos zugesehen hätte.[14] Der wichtigste externe Faktor war jedoch die Schwäche der paşas von Mosul und Bagdad, denn in der Praxis unterstanden die Emirate des südlichen Kurdistans zunächst und zuallererst diesen bis zu Beginn der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts weitgehend autonomen Provinzherrn.[15] Naturkatastrophen sowie der gleichzeitige Ausbruch [– S.150 –] einer Pestepidemie verheerten Bagdad dann im Jahre 1831 in so gewaltigem Maße, daß es als Machtfaktor für etliche Zeit ausfiel — zumal die Pest in den folgenden Jahren mehrfach wiederkehrte.[16] Ähnlich stand es um Mosul: Die Macht des letzten Herrschers aus der Jalili-Dynastie, Yahyah Paşa, war so geschwächt, daß Mir-i Kora es sogar wagen konnte, Lösegeld von den Einwohnern Mosuls zu erpressen, indem er mit einer kleinen Streitmacht einen Angriff auf die Stadt androhte.[17]
Begünstigt durch diese äußeren Umstände konnte Mir-i Kora sich offenbar als Führer der Expansion über die jahrhundertealte Kräftezersplitterung innerhalb der Emirate erheben und sich zum effektiven Herrscher aufschwingen. Besonders deutlich zeigte sich dies in der in allen Berichten übereinstimmend hervorgehobenen ‚Sicherheit und Ordnung‘-Politik, die er mit eiserner Hand verfolgte.[18] Seine Kompetenz erschöpfte sich eben nicht mehr darin, solche Streitfälle zu regeln, die ihm von schlichtungswilligen Konfliktparteien aus freien Stücken angetragen wurden[19], sondern der Emir ging dazu über, von ihm selbst dekretierte Normen mit unvergleichlicher Härte durchzusetzen.[20] Ob es ihm allerdings tatsächlich gelungen war, die segmentäre Autonomie der Stammesstruktur vollkommen unter Kontrolle zu bringen, hätte allein eine längere Dauer dieses Staatsgebildes erweisen können. Soran wurde jedoch schon 1836 durch eine osmanische Strafexpedition unterworfen, Mir-i Kora exiliert und wenig später ermordet.[21]
Insgesamt betrachtet handelte es sich um einen klassischen islamischen [– S.151 –] Reichsgründungsversuch, der mit einem Streben nach einer ‚Einigung Kurdistans‘ nichts zu schaffen hatte, aber auch als reine Verteidigung bestehender Autonomie nicht hinreichend beschrieben ist.[22] Das Konzept „Kurdistan“ als ein vorab gegebener, fester Rahmen, den es nun zu einigen gälte, spielte für Mir-i Kora keine relevante Rolle, vielmehr gedachte er, prinzipiell alles, was anderen zu entreißen war, unter seine Herrschaft bringen, d.h. den Herrschaftsbereich der Dynastie Soran universell auszudehnen. Sein „Kurdistan“ war ein überdimensionales Soran.[23]
Ironischerweise wurde Mir-i Kora gerade der Machtkampf zwischen dem Sultan und dessen ägyptischem ‚Vasallen‘ zum Verhängnis, welcher ihn vier Jahre zuvor so begünstigt hatte: Nachdem eine gemeinsame französisch-britische Intervention Muhammed Ali und Mahmud II. zu einer Verhandlungslösung gezwungen hatte, zogen sich die ägyptischen Truppen 1833 aus Anatolien nach Syrien zurück.[24] Schon im folgenden Jahr mobilisierte der Sultan seine Armee, um Syrien durch Waffengewalt zurückzuerobern, wurde aber durch erneutes Eingreifen der europäischen Großmächte gestoppt. Diesmal zogen Rußland und England an einem Strang, um eine Veränderung des status quo zu verhindern.[25] Dadurch entstand eine für Ägypten wie für das Osmanische Reich gleichermaßen unerträgliche Pattsituation, waren doch beide nun gezwungen, an den Grenzen ihrer Herrschaftsbereiche riesige Armeen in permanenter Kriegsbereitschaft zu halten.
Angesichts der völlig unzulänglichen Transportwege war die osmanischen Armee genötigt, sich ihren Nachschub aus dem regionalen Umfeld ihres Standortes selbst zu holen. Die Unterwerfung Kurdistans war daher sozusagen ein [– S.152 –] ‚Abfallprodukt‘ der fünfjährigen Dauerpräsenz von gut 50 000 Soldaten in der an Ressourcen nicht gerade überreichen östlichen Peripherie des Reiches, die nur mit Waffengewalt zur Versorgung der auf der Stelle tretenden Syrienexpedition gezwungen werden konnte.[26]
Konfrontiert mit der Hauptstreitmacht des Reiches mußte sich ein Emirat nach dem anderen ergeben.[27] Nachdem die großen — Soran, Botan[28] und Badinan — gefallen waren, zogen es die kleineren Regionalpotentaten, wie z.B. Khan Mahmud und sein Bruder Khan Abdal, die sich über einhundert Dörfer in der Gegend südlich des Van-Sees untertan gemacht hatten, vor, eine friedliche Übereinkunft mit der Pforte zu suchen, bevor sie mit Waffengewalt dazu gezwungen wurden.[29] Ziel dieser Feldzüge war nicht die Vernichtung der regionalen Dynastien, sondern die Erzwingung ihrer Botmäßigkeit, vor allem aber ging es um die Durchführung von Truppenaushebungen zur Erhaltung der unter [– S.153 –] ungeheurer Sterblichkeit leidenden Armee.[30] Der Emir von Botan, Bedir Khan, 1836 nach monatelangen Kämpfen zur Unterwerfung gezwungen[31], durfte, nachdem ein Versuch, an seiner Statt einen osmanischen paşa in Cizre zu installieren, gescheitert war, wieder in sein Amt zurückkehren.[32] Auch Soran blieb in der Hand der alten Dynastie — ein Bruder Mir-i Koras folgte auf den Thron.[33] Nur die Dynastie von Badinan wurde gewaltsam an einer Rückkehr in ihre Hauptstadt Amadiya gehindert, stattdessen installierte sich dort ein vom Sultan direkt bestellter Statthalter.[34] Die wiederholte Verwüstung Badinans durch Mir-i [– S.154 –] Koras Okkupation und der deshalb geschwächte Widerstand dürften für diese unterschiedliche Behandlung ausschlaggebend gewesen sein.[35]
Emir Bedir Khan jedenfalls scheint die Strafexpedition weitgehend unbeschadet, wenn auch um den Preis einiger Konzessionen, überstanden zu haben. Als der Feldzug der osmanischen Armee gegen das ägyptische Heer 1839 endlich in seine heiße Phase trat, stellte er nämlich regulär ein Kontingent von ca. 750 Soldaten und führte es persönlich — ganz loyaler Vasall — in die Schlacht.[36] Zehn Jahre zuvor, während des Krieges mit Rußland 1828/29, hatte er den gleichen Dienst noch ungestraft verweigern können.[37]
Solche Auf- und Abbewegungen waren in den wechselhaften Beziehungen zwischen den Potentaten von Bitlis, Cizre oder Sulaymaniya und ihrem Oberherrn in Istanbul nichts Besonderes. Im Jahre 1655 beispielsweise ließ Sultan Mehmet IV. den seiner Meinung nach zu selbständigen Emir von Bitlis durch eine Strafexpedition verjagen und installierte dessen Sohn auf dem Thron.[38] Nur wenig später eroberte der vertriebene Emir die Hauptstadt zurück, und letztlich war alles so, als hätte der Angriff nie stattgefunden.[39] So erschienen die Verhältnisse in Kurdistan im Jahre 1839, oberflächlich betrachtet, gegenüber früheren Jahrhunderten kaum verändert, außer daß das Kräfteverhältnis aktuell etwas mehr zur Seite der Zentralgewalt ausschlug, da die Pforte sich in einem Gewaltakt wieder Respekt verschafft hatte.
Das Osmanische Reich von 1839 war jedoch nicht mehr dasselbe wie Mitte des 17. oder des 18. Jahrhunderts. Die großmächtigen ayan waren verschwunden, der ultrakonservative Block aus Janitscharen-ağas und ulemas war [– S.155 –] zerschlagen, die Militärreform, als Vorbedingung und Ausfluß aller Bemühungen um eine weitere Rezentralisierung der Staatsgewalt, war in vollem Gange — wie allein schon die Anwesenheit Moltkes als Mitglied einer offiziellen preußischen Militärmission zeigt. Die letzten noch existierenden timars waren 1831 eingezogen und in Steuerpachten (iltizam) verwandelt worden, im selben Jahr erschien die erste offizielle Zeitung, Takvim-i Vekayi („Kalender der Ereignisse“), ein nicht zu unterschätzendes Instrument zur Meinungssteuerung und -vereinheitlichung innerhalb des Beamtenapparats, der praktisch die gesamte Leserschaft ausmachte.[40] U.a. um eine zuverlässige Auslieferung dieser Zeitung in die Regionalzentren zu bewerkstelligen, wurde 1832 ein staatlicher Postdienst eingerichtet, ein weiterer Schritt zur verstärkten Anbindung der Provinzen an die Hauptstadt.[41]
„Der Staat begann wieder, eine direkte Verwaltung einzuführen [...] Die Sancaks bekamen die Funktion ziviler Regierungsbezirke, die alten Gerichtssprengel (Kaza) wurden administrative Landkreise, mit der Unterteilung in Amtsbezirke (Nahiye). Diese räumlichen Einheiten hatten zwar schon lange existiert, jedoch mit anderen Funktionen, bzw. die letzten zwei Jahrhunderte praktisch ohne Funktion. Jetzt ging der Staat daran, nicht nur einzelne Städte als Stützpunkte staatlicher Macht zu halten, sondern das Land wieder flächenhaft zu kontrollieren.“[42]
Zum erstenmal seit über zweihundert Jahren wurde auch wieder eine Volkszählung durchgeführt, allerdings zeigten dessen Resultate nur zu deutlich die Grenzen der effektiven Verwaltungsreichweite. Während auf dem Balkan und in großen Teilen Westanatoliens die Zählungsergebnisse teilweise bis herunter zur Ebene einzelner Dörfer aufgefächert werden konnten, reichte es in Mittel- und Südanatolien schon auf der Ebene der kazas nur noch für grobe Schätzungen — Syrien, Kurdistan und Armenien wurden gar nicht erst erfaßt.[43]
Die schwerwiegendsten Veränderungen aber betrafen die Ökonomie des Reiches, die sich einer durch die wachsende Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt erzwungenen Umstrukturierung ausgesetzt sah. Mit als erstes war das osmanische Textilhandwerk betroffen, das unter einer zunehmend existenzbedrohenden Konkurrenz durch den Import billiger, weil industriell gefertigter europäischer Massenprodukte litt. Maschinell gesponnenes britisches Baumwollgarn machte den Anfang, bereits in den 30er Jahren war ein drastischer Rückgang der einheimischen Spinnereiproduktion zu beobachten, gleichzeitig [– S.156 –] versechsfachte sich der Import britischen Garns zwischen 1825 und 1835.[44] Britisches Tuch hatte im selben Zeitraum bereits die edlen indischen Importe aus dem höherwertigen Marktsegment auf den großen Umschlagplätzen Istanbul, Izmir, Bursa, Aleppo und Dasmaskus verdrängt; nach 1840 wurden die britischen Importe sogar so preiswert, daß sie auch den Bekleidungsmarkt für die breite Masse der Bevölkerung erobern konnten, den bis dahin die lokale Heimindustrie gedeckt hatte: In der zweiten Hälfte der 40er Jahre reichten allein die britischen Tuchimporte aus, um (rein rechnerisch) jeden Einwohner des Osmanischen Reiches jährlich mit über drei Metern Tuch zu versorgen![45] Hinzu kamen die nicht unbeträchtlichen Importe aus Frankreich (das allerdings seine einstige Vorreiterposition durch die Folgen der Napoleonischen Kriege eingebüßt hatte), Österreich-Ungarn und anderen europäischen Ländern. Daß solch eine Flut von Niedrigpreisimporten für das einheimische Spinner-, Färber- und Weberhandwerk existenzbedrohende Folgen haben mußte, versteht sich von selbst.[46]
Verstärkte Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt bedeutete aber auch ein weiteres Ansteigen der Exporte an unveredelten Rohstoffen, hauptsächlich aus der Landwirtschaft, da der osmanische Bergbau unbedeutend war. Betrachtet man den britisch-osmanischen Handelsvertrag von 1838, der häufiger wegen seiner Bestimmungen über den Import britischer Waren als „Todesurteil für die osmanische Wirtschaft“ oder als „offene Kapitulation vor England“ gebrandmarkt wird[47], so fällt ins Auge, daß offenbar die Durchsetzung ungehinderter (Rohstoff-)Exporte für die britische Seite einen mindestens ebenso hohen Stellenwert gehabt haben muß wie die Förderung britischer Importe: Den Fragen des Exports osmanischer Waren durch britische Händler sowie den Garantien für den reibungslosen Abtransport der von ihnen erworbenen Güter zu den Verschiffungshäfen wird nämlich ebenso viel Platz gewidmet (Artikel II und IV)[48] [– S.157 –] wie jenen Reglungen über die Beseitigung von Binnenhandelshemmnissen für britische Importwaren (Zusatzartikel I und II), denen üblicherweise in der Literatur allein die Aufmerksamkeit gilt.[49]
Neu an diesem Vertrag war nicht etwa die Gewährung von Handelsfreiheit schlechthin, denn die existierte schon längst. Britische Händler durften bereits seit 1580 im Osmanischen Reich verkaufen, was immer ihnen beliebte, nur der Ankauf und Export bestimmter, militärisch relevanter Güter unterlag gelegentlichen Einschränkungen. In der „Kapitulation“ von 1675 hieß es etwa:
„[Es ist Unser großherrlicher Befehl und Wille] XXIII. Daß die englische Nation und alle Schiffe, deren Heimathäfen selbiger Nation untertan sind, in Unserem geheiligten Herrschaftsgebiet eine jegliche Art von Waren kaufen, verkaufen und handeln und (abgesehen von Waffen, Schießpulver und anderen verbotenen Gütern) verladen und in ihren Schiffen transportieren sollen und dürfen, ganz wie es ihnen beliebt, ohne dabei das geringste Hindernis oder Hemmnis durch wen auch immer zu erleiden.“[50]
Neu an dem Vertrag von 1838 war die Aufhebung aller inländischen [– S.158 –] Vermarktungsmonopole sowie die Bündelung der Kompetenz, Zölle oder Gebühren auf Außenhandelswaren zu erheben, in den Ausfuhr- bzw. Einfuhrhäfen. Beides lag durchaus im (kurzfristigen) Interesse der Pforte, da zum einen vom System der Marktmonopole hauptsächlich ihre Machtrivalen in der Provinzen profitiert hatten (vor allem Muhammed Ali von Ägypten), und zum anderen waren die Zollerträge der wenigen für den Außenhandel relevanten Seehäfen weitaus besser zentral zu kontrollieren und abzuschöpfen als die Einnahmen der zahlreichen inländischen Relaisstationen.[51] Deshalb war es die Pforte selbst, die darauf drang, daß die Handelsverträge aller anderen Länder auf dieser Grundlage revidiert wurden.[52]
Langfristig trug diese Vereinfachung und Vereinheitlichung des Außenhandels allerdings dazu bei, daß Preiswettbewerb erstmals zu einem maßgeblichen Faktor auf osmanischen Märkten wurde. Dank ihrer überlegenen Produktivität konnten die europäischen Industrien immer häufiger durch ihre Rohstoffaufkäufer vor Ort die lokalen oder regionalen Binnenabnehmer mit höheren Geboten ausstechen[53] und trotz allem ihre Fertigprodukte immer noch zu geringeren Preisen als die der entsprechenden Erzeugnisse einheimischer Handwerksbetriebe anbieten. Die zusätzlichen Wettbewerbsverzerrungen, die die europäischen Großmächte für ihre Industrien mit den Mitteln der „Kanonenbootpolitik“ erzwangen, waren dagegen nur noch das Tüpfelchen auf dem „i“.[54] Das eigentliche Problem lag in der Tatsache, daß überhaupt ein offener Markt entstand und es damit zu einer Konkurrenz der Produktivität kam. Dazu hatten die internen Brüche und Wandlungen der osmanischen Ökonomie längst die Weichen gestellt, die europäische Einmischung zwang letztlich nur Konsequenzen herbei, die bis dahin durch außerökonomische Machtausübung unterbunden worden waren.
Wenn man schließlich feststellt, daß das Außenhandelsprofil des Osmanischen Reiches sich im 19. Jahrhundert immer mehr dem einer Kolonie näherte, [– S.159 –] daß also unverarbeitete Rohstoffe die bei weitem wichtigsten osmanischen Exportgüter wurden, während Fertigprodukte europäischer Herkunft den Löwenanteil der Importe ausmachten,[55] dann darf man dabei zweierlei nicht außer acht lassen. Erstens begann dieser Prozeß der Einbindung in den Weltmarkt bzw. der Zurichtung auf die Rolle eines abhängigen Rohstofflieferanten und Abnehmers europäischer Industriewaren in den einzelnen Regionen des Reiches zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Großräume Istanbul und Izmir sowie die balkanischen Provinzen im Grenzbereich zu Österreich-Ungarn waren bereits im 18. Jahrhundert betroffen. Der Export an Rohbaumwolle aus der Region Izmir beispielsweise erreichte schon um 1780 ein all time high, das selbst bei der weltweiten Baumwollknappheit während des nordamerikanischen Bürgerkrieges nicht übertroffen wurde.[56] Die Häfen der östlichen Mittelmeerküste (Beirut, Jaffa, Gaza) hingegen wurden erst nach 1830 regelmäßig von europäischen Handelsschiffen angesteuert.[57] Die irakischen Provinzen kamen noch später ins Blickfeld der Europäer, nämlich nach der Einrichtung einer dampfbetriebenen Handelsschiffahrt auf Tigris und Euphrat (ab 1861).[58] Inneranatolien wurde sogar erst nach 1890 mit dem Bau der Anatolischen Eisenbahn verkehrstechnisch soweit erschlossen, daß der Export von Massengütern lohnend wurde. Nach Kurdistan schließlich drangen die durch die Gesetzmäßigkeiten des Weltmarktes diktierten neuen ökonomischen Beziehungen selbst bis zur Jahrhundertwende nicht in nennenswertem Maße vor.[59] Im Jahre 1838 mußte es daher selbst [– S.160 –] einem so eifrigen Förderer des britischen Exporthandels wie dem britischen Konsul zu Erzurum[60] unvorstellbar erscheinen, daß britische Waren auf einem Markt wie dem von Bitlis jemals konkurrenzfähig werden könnten:
„In Handelssachen ist Bitlis von allen Orten, die ich besuchte, der bedeutenste, und dennoch sind die dortigen Handelsumsätze alles andere als umfänglich. Der Verbrauch an Importartikeln ist mengenmäßig gering und begrenzt auf eine kleine Produktpalette. [...] Der Verkauf an ungebleichtem britischen Kaliko ist mäßig und der unserer Schals noch mäßiger: neben diesen Waren werden einige Wollstoffe umgesetzt, bedruckte Kalikos, Seiden- und Satinstoffe mit kräftigen Farben und etwas Zuckerraffinade. Mit dieser Aufzählung, glaube ich, ist die Liste der Importwaren ziemlich komplett. Der Hauptbedarf wird mit den Manufakturprodukten aus Damaskus, Aleppo und Diyarbakır gedeckt und mit den groben Baumwolltuchen, die hier massenhaft gefertigt werden. [...] Der Kaliko wird billig verkauft; und ich habe Zweifel, ob die britische Ware demgegenüber je wird konkurrenzfähig sein können, aufgrund [...] der enormen Kosten für den Überlandtransport bei einem Artikel, der so sperrig und zudem von so relativ geringem Wert ist.“[61]
Ähnliches berichtete er aus Van; das Textilhandwerk in den kleineren Städten nördlich von Bitlis sei, so der Konsul, sogar noch völlig unberührt von europäischer Konkurrenz.[62]
Zweitens sank das Osmanische Reich bei all seiner Schwäche politisch nicht auf den Status einer regelrechten Kolonie herab, auch geriet es nie vollständig in Abhängigkeit von einer einzigen Großmacht, sondern behielt bis zu seinem Ende einen — wie auch immer geringen — Spielraum für selbständige staatliche Entscheidungen. Zwar war dies wesentlich der Rivalität der europäischen Großmächte geschuldet, die untereinander zu zerstritten waren, um sich auf eine einvernehmliche Aufteilung des Osmanischen Reiches einigen zu können, während gleichzeitig keine von ihnen allein stark genug gewesen wäre, um eine [– S.161 –] Lösung zu ihren Bedingungen erzwingen; trotzdem blieb die Pforte und ihr staatsbürokratischer Apparat ein Faktor von erheblichem Einfluß, den keine wirtschaftliche Macht einfach ignorieren konnte.[63] Eine Folge davon war, daß die exportorientierte Landwirtschaft bis auf zwei Sparten (Tabak und Seide) nicht in die Kontrolle ausländischen Kapitals geriet und ihre Produktpalette erstaunlich breit gefächert blieb. Nach einer Überprüfung des osmanischen Außenhandels mit den Industriestaaten zwischen 1820 und 1913 kommt Pamuk zu folgenden Ergebnissen:
„[...] innerhalb des Untersuchungszeitraums lag der jährliche Anteil pro einzelner Produktart in keinem Fall höher als 15% der gesamten Exporterlössumme. Es hat auch den Anschein, daß der Anteil der acht wichtigsten Produktarten zusammengenommen selten, wenn überhaupt, 60% der gesamten Exporterlössumme erreichte. Daraus folgt, daß die terms of trade im osmanischen Außenhandel nicht von den Wechselfällen einiger weniger Produkte auf den Weltmärkten abhingen. Dies hatte vor allem damit zu tun, daß sich die Anbauformen im Osmanischen Reich während des 19. Jahrhunderts nie ernstlich in Richtung Monokulturen entwickelten. [...] Die Zentralgewalt wehrte während des gesamten Jahrhunderts alle Versuche des ausländischen Kapitals, sie ihrer Steuerbasis, des Kleinbauerntums, zu berauben, ab. Dies hatte zur Folge, daß die Bemühungen ausländischer Kapitaleigner, die Produktionsverhältnisse im Agrarbereich umzuwälzen durch Errichtung landwirtschaftlicher Großbetriebe, die mit Lohnarbeitern für den Weltmarkt produzieren, im Sande verliefen.“[64]
Tatsache ist aber auch, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben Textilien Artikel aus nahezu allen Bereichen des täglichen Bedarfs, selbst Mehl und Petroleum, importiert werden mußten.[65] Nur sollte man bei der Beschreibung dieses Zustandes nicht mit Schlagworten wie „Halbkolonie“ verdecken, daß das gesellschaftliche bzw. ökonomische Geschehen im Osmanischen Reich sich zu einem sehr großen Teil nach seiner eigenen Logik entfaltete und veränderte.[66]
Das groß angelegte staatliche Industrialisierungsprojekt der 40er Jahre etwa paßt überhaupt nicht zu dem Bild von einem hoffnungslos in den Fängen des Imperialismus zappelnden Marionettenregime. Ausgangspunkt war das als bedrohlich empfundene Anwachsen der Abhängigkeit des administrativen und militärischen Apparates von Importen aus potentiellem Feindesland. Nach einigen erfolglosen Versuchen, Endfertigungsanlagen für Uniformen, Waffen [– S.162 –] und Papier zu etablieren, entschloß sich die Pforte zu einem Gesamtentwicklungskonzept, das von der Rohstofferschließung über den Ausbau der Transportwege bis zur Technikerausbildung in eigenen Schulen alles mit einbezog.[67] Unter der Regie eines zentralen Staatsmanagements entstand zunächst in der Nähe der Hauptstadt eine Art Industrierevier inklusive eigener Arbeitersiedlungen; weitere Industrieanlagen rund um das Marmarameer folgten, in denen von Dampfschiffen und Kanonen über Porzellan und Seidentapeten bis zu Uniformen und Lederstiefeln so ziemlich alles herzustellen versucht wurde, was Militär und Palast gebrauchen konnten.[68] Obwohl gewaltige Summen investiert wurden und die Pforte alle erdenkliche Unterstützung gab, endete das Projekt nach einem Jahrzehnt in einem Fiasko.[69] Von mehreren Dutzend Fabriken überlebten nur vier die Aufbauphase, diese vier allerdings produzierten erfolgreich sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein.[70]
Da das Industrialisierungsprojekt allein auf Erlangung der Selbstversorgungsfähigkeit im Staatsapparat ausgerichtet war, hat sein Scheitern wenig mit der europäischen Konkurrenz oder den ungünstigen Handelsverträgen zu tun[71], vielmehr hatte sich das krisengeschüttelte Reich mit diesem gewaltigen “crash program” übernommen.[72] Es verfügte einfach nicht über die Reserven, um die lange Durststrecke bei der staatsdirigistischen Schaffung einer eigenen Infrastruktur finanziell zu überstehen. Der ganze Ansatz aber zeigt, daß der osmanische Herrschaftsapparat — zumindest bis zum Ausbruch des Krimkrieges — sehr wohl in der Lage war, der europäischen Penetration mit Gegenstrategien und eigenen Initiativen zu begegnen.
Zu diesen Gegenstrategien gehörte auch das berühmte „Hatt-ı Şerif von [– S.163 –] Gülhane“[73], das 1839 jene Ära westlich inspirierter Staatsreformen einleitete, die in der offiziellen osmanischen Geschichtsschreibung Tanzimat-ı Hayriye („heilsame Neuordnung“) oder kurz tanzimat genannt wird. Hauptadressat dieser Reformproklamation war natürlich der Westen, dem bewiesen werden sollte, daß das Reich zur inneren Erneuerung aus eigenen Kräften fähig war, in der Hoffnung, daß den Großmächten damit ein wichtiger Vorwand zur Einmischung genommen würde. Das Hatt-ı Şerif garantierte Sicherheit des Lebens und Eigentums vor (staatlicher) Willkür, Einführung einer öffentlichen Rechtsprechung, Neuordnung des Steuerwesens, Abschaffung der Steuerpacht, ein gerechtes Rekrutierungssystem für die Armee sowie Beschränkung der Dienstzeit auf höchstens fünf Jahre statt der bis dato praktisch lebenslänglichen Verpflichtung.[74] Der entscheidende Schritt lag aber in der Erklärung, wer alles von diesen Neuerungen profitieren solle:
„Indem sich diese großherrliche Gnadenacte auf alle Unsere Unterthanen bezieht, welcher Religion oder Secte sie auch angehören mögen, so sollen alle gleichmäßig daran Theil haben. Es ist also den Bewohnern des Reichs sammt und sonders, im Einklang mit dem göttlichen Gesetz, für Leben, Ehre und Eigenthum von Uns vollkommene Sicherheit gewährleistet worden.“[75]
Damit war das Prinzip der allgemeinen und gleichen Staatsbürgerschaft für alle Untertanen der Pforte ohne Unterschied nach Religionszugehörigkeit eingeführt, was trotz der rituellen Beschwörung der „göttlichen Gesetze“ einen Bruch mit den elementarsten Prinzipien der şeriat darstellte. Diese Umwälzung aller traditionellen Staatsauffassung stand trotz allem im Dienst der unveränderten ultima ratio osmanischer Politik: Machtsicherung und Reichserhalt. Denn seit der europäischen Militärintervention zugunsten des peloponnesischen Aufstands war klargeworden, daß das Reich ohne Beistand einer ‚Schutzmacht‘ nicht mehr in der Lage war, im ‚Konzert der Großmächte‘ mitzuhalten, eine Lehre, die [– S.164 –] in der langanhaltenden Konfrontation mit dem rebellischen Statthalter von Ägypten nur zu häufig Bestätigung fand. Mit der tanzimat, den neuen Handelsverträgen und dem Industrialisierungsprojekt trat die Pforte daher die Flucht nach vorn an.
Eine solche Initiative war auch bitter nötig, da die Niederlage in der Schlacht bei Nisib (1839) zu einem vollständigen Zusammenbruch der osmanischen Armee geführt hatte und die in jahrelangen Kämpfen mühsam errungene Kontrolle über den Ostteil des Reiches über Nacht wieder verloren gegangen war.[76] Beides hing direkt damit zusammen, daß fast alle osmanischen Soldaten gewaltsam zum Dienst gepreßt worden waren.[77] Moltke schätzte, daß die Hälfte der bei Nisib zum Kampf angetretenen Armee aus den gerade erst unterworfenen Emiraten Kurdistans gezogen worden war, und meinte, es sei kein Wunder, daß „diesen Leuten der Tag einer verlorenen Schlacht als der erste Tag ihrer Befreiung erscheinen mußte.“[78] Zu Tausenden strömten die Deserteure zurück in ihre Heimatorte und verbreiteten die Kunde, daß die große osmanische Armee untergegangen war und der Sultan nun vor den Heeren Muhammeds zittern mußte.
Der entthronte Badinan-Emir Ismail war mit einer der ersten, der aus dieser Schwäche Nutzen zu ziehen und seine alte Autonomie wiederzuerlangen suchte, wobei ihm jedoch nur vorübergehend Erfolg beschieden war.[79] Auch Emir Bedir Khan von Botan schüttelte die Fesseln unmittelbarer zentralstaatlicher Kontrolle ab — ohne sich allerdings deswegen vom Sultan loszusagen —, bemühte sich [– S.165 –] aber nach Kräften, das von den geschlagenen Osmanen hinterlassene Machtvakuum durch Expansion der eigenen Herrschaft auszufüllen. Von Mosul bis zum Van-See und von Diyarbakır bis zur persischen Grenze versuchte er, sich sämtliche Lokalherrscher untertan zu machen.[80] Etliche Autoren sehen in ihm den ersten wahrhaft nationalen Führer, denn anders als Mir-i Kora habe er seine Nachbarn nicht überfallen und unterworfen, sondern sich mit ihnen „verbündet“ und eine große „Konföderation“ auf freiwilliger Basis geschaffen.[81] Wie van Bruinessen anmerkt, hat hier die verklärende ‚Hofgeschichtsschreibung‘ der Nachfahren Bedir Khans, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die wohl aktivsten Propagandisten des kurdischen Nationalismus waren, ihre Wirkung hinterlassen.[82] Eine kurze Betrachtung des Aufstiegs Bedir Khans zum zeitweilig mächtigsten Herrn in ganz Kurdistan wird zeigen, daß in den entscheidenden Punkten kein Unterschied zwischen Bedir Khan und Mir-i Kora bestand.
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