Nationalismus in Kurdistan (1993)

Vorgeschichte, Entstehungsbedingungen
und erste Manifestationen bis 1925

Günter Max Behrendt

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen
Wer sind die „Kurden“?
Die „kurdische Gesellschaft“

3. Die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft bis zum 19. Jahrhundert
Die kurdische Gesellschaft als Teil der islamischen Welt
Die arabische Eroberung
Das Osmanische Reich
Turkmenen, Mongolen und Safaviden
Exkurs über „Fremdherrschaft“ und „legitime“ Herrschaft
Der Aufstieg des Safaviden-Reiches
Kurdistan unter den Osmanen
Der Zusammenbruch der klassisch-osmanischen Gesellschaftsordnung
Die Auswirkungen auf Kurdistan

4. Das 19. Jahrhundert
Das Aufkommen der ersten Nationalismen im Osmanischen Reich
Die Rezentralisierung des osmanischen Staatsapparats und ihre Auswirkung auf die kurdische Gesellschaft
Emir Bedir Khan von Botan und seine Revolte
Der Aufstieg der sheikhs in der kurdischen Gesellschaft
Der Krimkrieg und seine Folgen
Das Landgesetz von 1858
Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung
Die Auswirkungen des Krieges von 1877/78
Der Berliner Kongreß und die „armenische Frage
Der Aufstand des Sheikh Ubeydullah – Erster Höhepunkt der neugewonnenen gesellschaftlichen Führungsstellung der sheikh
Ausbruch und Scheitern des Aufstands (Oktober – November 1880)
Die gesellschaftliche Lage gegen Ende des 19. Jahrhunderts
Hunchak, Dashnaksutiun und Hamidiyya
Die Massaker an den osmanischen Christen in den östlichen Provinzen (1894-1896)

5. Das 20. Jahrhundert
Die „jungtürkische“ Bewegung
Der Putsch von 1908 und der kurze Frühling des osmanischen Liberalismus
Politik als aristokratisches Spiel: Die ersten explizit „kurdischen“ Organisationen
Die Reaktion des tribalen Sektors der kurdischen Gesellschaft auf die jungtürkischen Umwälzung
Der Erste Weltkrieg – Wendepunkt in der Entwicklung der kurdischen Gesellschaft
Das Ende des Osmanischen Reiches
Die „kemalistische Bewegung“ und die Kürdistan Teali Cemiyeti
Die Machtübernahme des „Repräsentativkomitees“ Mustafa Kemals
Das ‚coming-out‘ des Kemalismus
Bedeutung und Struktur der Azadi
Der Sheikh Sait-Aufstand (1925)

6. Schlußkapitel

7. Anhang
Literaturverzeichnis
Längere fremdsprachige Zitate im Original
Glossar
Anmerkung zur Schreibweise
Index rerum

Index autorum (ist in der Onlinefassung Teil des Literaturverzeichnis)

weiter zum Abschnitt „1. Einleitung“

Navigation Zurück aufwärts Weiter

Weiterweiter zum nächsten Kapitel
Zurückzurück zum vorigen Kapitel
aufwärtsaufwärts zum Inhaltsverzeichnis

Hinweis des Autors
Dieses Buch stellte ursprünglich meine Dissertation (Universität Hannover 1992) dar. Die vorliegende Onlinefassung ist identisch mit der Printfassung von 1993. Seinerzeit ist das Buch in der Schriftenreihe „Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des Vorderen Orients“ des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg (ISBN 3-89173-029-2) erschienen. Seither ist das Verlagsrecht wieder an mich zurückgefallen. Ich habe nur Tippfehler bereinigt und auch die 1993 gültige Rechtschreibung beibehalten.

Abstract
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, wichtige Aspekte der Entwicklung der kurdischen Gesellschaft von ‚nationalisierenden‘ Projektionen freizulegen, damit eine Rekonstruktion jener Umbrüche möglich wird, die die Entstehung einer kurdisch-nationalistischen Bewegung überhaupt denkbar machten. Dabei soll versucht werden nachzuweisen, daß die Wurzeln des kurdischen Nationalismus nicht in den Abgründen der Geschichte zu suchen sind, sondern an der Wende zum vorigen Jahrhundert. Gleichzeitig wird argumentiert, daß die Kategorie „Nation“ ein untaugliches Mittel ist, um die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft bis zum 20. Jahrhundert zu begreifen. Es geht daher zunächst darum, die vornationale Verfaßheit der kurdischen Gesellschaft in der Zeit vor 1900 gegen die übliche, ex post nationalisierende Perspektive herauszuarbeiten. In dieser Arbeit spielen folglich Kategorien wie Glaube, Nomadismus, Tribalismus, Prestige, Vasallität und Patronage nicht nur die Rolle von Störfaktoren, die die Entwicklung eines „nationalen Bewußtseins“ behinderten, sondern sie sind die eigentlichen Schlüsselbegriffe.

Da Anfang der 1990er Jahre die Literatur zum Thema hinsichtlich des Umgangs mit historischen Fakten ein erhebliches Defizit an solider Forschung aufwies, ist zumindest ein Teil der Arbeit der Etablierung gesicherter Fakten durch Abgleich mit Standardwerken relevanter Nachbarwissenschaften wie Ethnologie, Turkologie, Iranistik etc. gewidmet. Die Diskussion der Entstehungsgeschichte der ersten kurdisch-nationalistischen Organisationen erfolgt im Kontext einer allgemeinen Analyse der politisch-gesellschaftlichen Umbrüche im Osmanischen Reich, da die Ausdifferenzierung in unterschiedliche Nationalismen innerhalb der muslimischen Bevölkerung erst nach 1908 einsetzte. Speziell der türkische und der kurdische Nationalismus werden deshalb gemeinsam diskutiert.

Gemeinsamkeiten zeigen sich vor allem im elitären Charakter der frühen Organisationen beider Spielarten, gepaart mit einer stark ademokratischen Grundtendenz, die sowohl auf die gehobene soziale Herkunft ihrer Exponenten zurückgeht wie auch auf die manifeste Unmöglichkeit einer unmittelbaren Massenwirksamkeit nationalistischer Ideen innerhalb des muslimischen Sektors der osmanischen Gesellschaft. Anders als im christlichen Sektor der osmanische Gesellschaft blieb Nationalismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts für die muslimische Mehrheitsbevölkerung weiterhin ein Fremdkörper, der nur eine kleine Elite von gebildeten Oberschichtlern ansprechen konnte.