Nationalismus in Kurdistan (1993)
Im Sommer 1500 rief Sheikh Ismail, Ordensmeister der Safaviden, seine Anhänger, die kızılbaş, zu den Fahnen. Mit anfänglich nur 7 000 turkmenischen Nomadenkriegern[1] stürzte er sich in den Kampf gegen die letzten Ak-Koyunlu-Potentaten und machte sich im Laufe einer zehn Jahre fast ununterbrochen anwährenden Expansion nacheinander Aserbaidschan, Westpersien und Kurdistan untertan.[2] Zeitlich parallel – allerdings ohne direkte Verbindung – erhoben sich die Anhänger Ismails in Westanatolien zu großen Aufständen.[3] Sie unterminierten den Herrschaftsanspruch der Osmanlı nicht nur durch erhebliche militärische Schlagkraft, sondern forderten sie zusätzlich auch ideologisch heraus, indem sie Ismail als mahdi ausriefen. Das heißt, sie akzeptierten ihn als einen mit göttlicher Mission gesegneten Führer, der die durch schlechte Herrscher (sprich: die Osmanlı) in Unordnung geratene muslimische Welt durch Errichtung seiner Herrschaft ins Lot zu bringen hatte.[4]
Ismails Erfolge hatten ihren ganz irdischen Hintergrund in der Anti-Nomadenpolitik der Osmanen.[5] Nicht zufällig hatten die Nomaden in Westanatolien und auf dem Balkan im 15./16. Jahrhundert die ehrenhafte Bezeichnung [– S.95 –] „Turkmenen“, in der ein Beigeschmack von „edel, vornehm“ steckte, verloren. Sie wurden stattdessen in osmanischen Gesetzestexten wie auch im Volksmund yürük („Wanderer“) in Abgrenzung zur Normalität der Seßhaftigkeit genannt.[6] Die Nachstellungen seitens der Staatsmacht und der wachsende Widerstand der Seßhaften gegen die Wanderungen der Nomaden drängten diese immer weiter nach Ostanatolien ab.[7] Da jedoch gleichzeitig der effektive Wirkungsradius des Staatsapparats ebenfalls nach Osten ausgedehnt wurde, gab es für die Turkmenenstämme keine Ruhe.[8] Die 1501 eingeführte Sondersteuer (avarız), die auch bei den Nomaden, die bisher auf Grund ihrer Militärdienste kaum Abgaben gezahlt hatten, erbarmungslos eingefordert wurde, verschärfte den Konflikt weiter.[9] Der charismatische Sheikh Ismail vermochte der rebellischen Stimmungslage unter den verprellten Nomaden um so leichter einen religiösen Ausdruck zu verschaffen, als die osmanische Dynastie sich ganz mit dem hochintellektuellen und rationalen Islam der orthodoxen (hanefitischen) ulema identifizierte.[10] So waren denn von den acht kampfeswilligen Stämmen, die im Jahre 1500 Ismails Ruf zu den Fahnen folgten, sieben Turkmenenstämme aus Anatolien.[11]
Nach dem endgültigen Scheitern der kızılbaş-Revolten in Anatolien ließ Sultan Selim 1513 eine systematische Vernichtung der verbliebenen kızılbaş durchführen, wobei es sich weniger um eine religiös motivierte Ketzerverfolgung als um die konsequente Liquidierung der anti-osmanischen Nomadenopposition handelte.[12] Die großen Turkmenen-Konföderationen wichen im Laufe des [– S.96 –] 16. Jahrhunderts entweder nach Aserbaidschan und Persien aus (sofern sie den Safaviden nahestanden) oder zerstreuten sich in kleine Gruppen, die allmählich wieder in das zentralanatolische Hochland einsickerten.[13] Ein langfristiger Nebeneffekt dieser Radikaloperation war für die Bergnomaden Kurdistans die Beseitigung ihrer turkmenischen Konkurrenz, weil der anhaltende staatliche Druck sich hauptsächlich gegen die turkmenischen Nomadenkonföderationen richtete, da der größte Teil des tribalen Sektors der kurdischen Gesellschaft auf Grund des Sonderstatus der akrad beyliğis[14] weitgehend unbehelligt bleiben mußte.
Behält man diesen Hintergrund im Auge, so hatte die sich unausweichlich anbahnende Konfrontation zwischen Osmanen und Safaviden absolut nichts mit einem nationalen Konflikt zwischen „Türken“ und „Persern“ zu tun[15], und selbst die religiösen Differenzen zwischen den Osmanen als Bewahrern der sunnitischen Orthodoxie und den Safaviden als Vorkämpfern der Schia waren nicht der eigentliche Kern.[16] Im wesentlichen stießen hier zwei unvereinbare Modelle gesellschaftlicher Organisation aufeinander, nämlich das seßhaft-bürokratische der Osmanen und das nomadisch-tribale der Safaviden.
„Die politische Organisation der Safaviden war unverhüllt tribal [...] Diese tribale Organisation trat eindeutig in Konkurrenz zur seßhaften Struktur des osmanischen [...] Unternehmens [...] sie orientierte sich nicht an den persisch beeinflußten Bürokratien des klassischen Islams, sondern an der politischen Tradition der Mongolen, welche in Anatolien von den Konföderationen der Kara-Koyunlu und der Ak-Koyunlu fortgeführt worden war. [...] Die Safaviden gaben den Nomaden die passende Alternative, und die Nomaden ergriffen sie.“[17] (meine Übersetzung; engl. Original)
Erst als das mit schwerer Artillerie ausgerüstete osmanische Reichsheer 1514 bei Çaldıran der safavidischen Reiterstreitmacht eine vernichtende Niederlage beibrachte und so den Mythos der Unbesiegbarkeit des ‚gottgleichen‘ Schah [– S.97 –] Ismails zerstörte[18], war es um die nomadische Alternative – zumindest für Anatolien – endgültig geschehen.
Wie verhielten sich nun die fürstlichen Herrscher der vielen kleinen Emirate in den Bergen Kurdistans und Armeniens gegenüber den neuen, aus Aserbaidschan herandrängenden nomadischen Eroberern? Erste Zusammenstöße gab es schon 1505/6[19], der entscheidende Durchbruch aber gelang den kızılbaş-Streitern erst 1507 und gipfelte in der Unterwerfung der turkmenischen Dynastie von Dulgadir, die sich als Vasallen der Mamluken[20] zwischenzeitlich zu Herren über weite Teile Kurdistans aufgeworfen hatten.[21] Als sich daraufhin auch der turkmenische Potentat von Diyarbakır ergab, war jedem klar, daß man sich mit Schah Ismail arrangieren mußte. Um 1510 eilten sechszehn Emire aus Kurdistan und Armenien zur Winterresidenz Ismails nach Khoi[22], um in einer gemeinsamen Audienz ihre Unterwerfung anzubieten. Gegenüber dieser neuen Großmacht versagten jedoch die traditionellen Politikmuster: Statt huldvoll ihre Titel zu bestätigen, ließ Ismail vierzehn von ihnen ins Gefängnis werfen, die anderen beiden wurden mit Statthaltertiteln fernab von ihrer lokalen Machtbasis abgespeist.[23] Anschließend erhielten loyale kızılbaş-Stämme die Lizenz, die Ländereien der düpierten Emire in Besitz zu nehmen, was allerdings nicht ohne schwere Kämpfe abging. Die Stadt Cizre etwa wurde binnen kurzem zweimal abgebrannt.[24]
Man darf sich fragen, was Ismail dazu führte, die Fehler der Ak-Koyunlu [– S.98 –] wiederholen zu wollen. Vielleicht lag es am Landhunger der aus Westanatolien geflohenen Turkmenen, die zusätzlich zu der bereits unter den Ak-Koyunlu vorhandenen Nomadenbevölkerung mit geeigneten Sommerweiden versorgt sein wollten, vielleicht lag es auch daran, daß Ismail in grenzenlosem Vertrauen auf seine göttliche Mission an die eigene Unfehlbarkeit glaubte und keinen Gedanken an mögliches Scheitern verschwendete, oder vielleicht betrachtete sich Ismail wirklich als Erben Uzun Hasans und trachtete deshalb danach, Hand auf die alten Kernlande seines Großvaters zu legen.[25] Wie auch immer, die von den Safaviden praktizierte kompromißlose Unterwerfungspolitik zwang die in ihrer lokalen Vormachtstellung bedrohten Stammeschefs dazu, Schutz bei mächtigeren Bündnispartnern zu suchen. Dafür kamen allein die Osmanen infrage, da die andere Großmacht der Zeit, die Mamluken, selbst den Fall ihres Vasallen Dulgadir tatenlos hingenommen hatte. Zudem bot Sultan Selim durch einen in seine Dienste getretenen einheimischen Vermittler außerordentlich günstige Vasallitätsbedingungen an.[26]
Spätestens nach Çaldıran standen die Stämme Kurdistans daher mehrheitlich auf Selims Seite, oder besser gesagt: Sie nutzten die durch die Niederlage bewirkte Schwäche der Safaviden dazu, den status quo ante wiederherzustellen. Insgesamt nicht weniger als fünfundzwanzig tribale Chefs mobilisierten ihre Stämme zum Kampf und verjagten auf eigene Faust die verbliebenen kızılbaş-Verbände aus ihren angestammten Gebieten.[27] Ohne den – aus Eigennutz resultierenden – Aufstand dieser Stämme gegen die Safaviden wäre der triumphale Sieg der Osmanen in der Schlacht von Çaldıran praktisch wirkungslos verpufft, da schon bald nach dem Abzug der osmanischen Hauptstreitmacht erneut safavidische Armeen nach Westen drängten.[28] Es war die alteingesessene Machtelite Kurdistans, die den Safaviden in einem zweijährigen Kleinkrieg – bei dem die Osmanen nur mit einer kleineren Armee teilnahmen – die eigentliche Niederlage zufügten.[29] [– S.99 –]
Wie weiter oben schon angesprochen, spielte der religiöse Faktor bei diesem Kampf eine geringe Rolle[30], es mag sogar mancher Lokalfürst der unzugänglichen Bergwelt Kurdistans eher Ismails inbrünstiger, noch ganz unakademischer Form des Islams[31] denn der rational-kalten Hochtheologie der Osmanen zuneigt gewesen sein. Man kann sich durchaus auch vorstellen, daß etliche vor Çaldıran nichts dagegen gehabt hätten, Vasallen eines so ruhmreichen Herrschers wie Schah Ismail zu werden – sofern dieser sie anstandslos in ihren erworbenen Rechten bestätigt hätte. Sultan Selims Vorteil bestand letztlich darin, daß er die Machtverhältnisse in der Region realistisch genug einschätzte, um sich mit der nominellen Hoheit zu begnügen.[32] Allein dieses Zugeständnis machte das Bündnis zwischen der herrschenden tribalen Elite Kurdistans und dem zentralistischen Staatsapparat der Osmanen möglich und sinnvoll.
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