Nationalismus in Kurdistan (1993)

2. Definitionen

Die „kurdische Gesellschaft“

Die Diskussion des vorigen Abschnitts hat zumindest eines erbracht: „Die Kurden“ und „das kurdische Volk“ sind keine voraussetzungslos gegebenen Begriffe, die man ohne weiteres auf jeden Abschnitt der Geschichte anwenden könnte. Oder anders ausgedrückt: Die damit gemeinte Menschengruppe ist von ganz anderer Art als etwa die Menschenmenge „aller Rothaarigen mit einer Körperlänge über 150 cm“, denn die Frage, wer alles zu „den Kurden“ gehört, ist eben nicht „mit objektiven natur- bzw. kulturwissenschaftlichen Methoden“ verbindlich zu beantworten.

Das ganze Dilemma läßt sich – zumindest für die Zwecke meiner Untersuchung – nur auflösen, indem man aus den eingefahrenen Gleisen herausspringt, die „kurdische Nation“ als heimlichen Bezugsrahmen der Untersuchung aufgibt und sich stattdessen der „kurdischen Gesellschaft“ zuwendet. Dieser Schritt bedarf einiger Erläuterungen. Zunächst einmal ist zu betonen, daß hier nicht etwa der Begriff der „kurdischen Nation“ insgesamt verworfen werden soll, denn die kurdische Nation hat unbestreitbar gesellschaftliche Realität; allerdings ist sie wie alle anderen Nationen des Mittleren und Vorderen Orients ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Ich halte es sogar für notwendig, diese Feststellung dahingehend zu präzisieren, daß der Anfang dieses Jahrhunderts begonnene Bildungsprozeß der kurdischen Nation sich heute in seiner Abschlußphase befindet, daß also die kurdische Nation gegenwärtig noch dabei ist, sich endgültig zu konstituieren.[1] Es wäre unnütz, die Nichtexistenz einer kurdischen Nation [– S.40 –] etwa im 7. oder 18. Jahrhundert dadurch kaschieren zu wollen, daß man für die Zeiten vor dem 20. Jahrhundert statt von einer „kurdischen Nation“ von einem „kurdischen Volk“ spräche, solange der Begriff „Volk“ nach demselben Kriterienkatalog modelliert wird wie die „Nation“.[2] In diesem Sinne sprach ich von einem ‚heimlichen‘ Bezugsrahmen, den man besser aufgeben sollte. Es führt nur in die Irre, wollte man etwa „die Kurden“ des 16. Jahrhunderts im Lichte eines „kurdischen“ Nationenbegriffes interpretieren – dasselbe gilt allerdings ebenso für „die Türken“, „die Perser“ etc.

Nun enthält der von mir vorgeschlagene Begriff der „kurdischen Gesellschaft“ ebenfalls das Prädikat „kurdisch“, was die Frage aufwirft, wie sich das mit den soeben vorgebrachten Kritikpunkten verträgt, zumal der Begriff „Gesellschaft“ dem des „Volkes“ bedenklich nahe zu stehen scheint.[3] Von daher ist es wichtig festzustellen, daß in dieser Arbeit unter „kurdischer Gesellschaft“ nicht eine Gesellschaft kurdisch-nationaler Wesensbestimmung, sondern ein komplexer Zusammenhang sehr heterogener sozialer Gruppen verstanden werden soll, von denen eine unter den Bedingungen eines durch gewaltige Bergketten beherrschten natürlichen Lebensraumes die Hegemonie über die anderen hat gewinnen können. Mit dem Prädikat „kurdisch“ möchte ich also weder ausdrücken, daß diese „Gesellschaft“[4] durchgängig „kurdisch“ im nationalen [– S.41 –] (oder völkischen) Sinne sei, noch daß ein „kurdisch“ zu nennendes Bevölkerungselement die zahlenmäßige Mehrheit darstellte. Vielmehr geht es um eine bestimmte, nämlich halbnomadische Produktions- und Lebensweise, die sich in der Bergwelt gesellschaftlich als prägend durchgesetzt hat, mag sie von kurdischsprachigen Muslimen, turksprachigen Anhängern des Schamanismus oder aramäischsprachigen Ostchristen praktiziert werden. Wenn oben von einer die Hegemonie ausübenden sozialen Gruppe die Rede war, dann also nicht im Sinne einer Gruppe von „Kurden“. Ich betone dies ausdrücklich, um dem falschen Eindruck vorzubeugen, es solle hier – sozusagen durch die Hintertür – doch noch ein möglicherweise materialistisch gewendetes Merkmal für das „Kurde-Sein“ eingeführt werden.

Die in sprachlicher oder nationaler Hinsicht völlig indifferente Assoziation von (halb-)nomadischer Lebensweise mit „kurdisch“ geht auf die frühmittelalterlichen arabischen Geographen und Geschichtsschreiber zurück, die den Begriff „Kurden“ tatsächlich überhaupt erst prägten:

„Die mittelalterlichen arabischen Geographen benutzten den Ausdruck ‚Kurde‘ (in der arabischen Pluralform ‚Akrad‘), um jene nomadischen (oder halbnomadischen) Stämme zu bezeichnen, die weder Araber noch Türken waren. Dies schloß Stämme mit ein, welche heutzutage selbst der allerextremste Vertreter unter den kurdischen Nationalisten nicht zu seiner Nation zählen würde. Vereinzelt wurden selbst arabischsprachige Nomaden als ‚Akrad‘ bezeichnet [...]“[5] (meine Übers.; engl. Original)

„Akrad“ stellte also eine Art Sammelbegriff für jene Nomaden dar, die weder mit dem Dromedar („Araber“), noch mit dem baktrischen Kamel („Türken“) wanderten[6] und zudem soweit in der Peripherie des arabischen Weltreiches gelegen waren, daß eine spezifischere Begriffsbildung nicht lohnend erschien.[7] Die hochaufragenden, schnee- und regenreichen Bergketten des Taurus und Zagros – Herzstück jener Region, die die kurdischen Nationalisten heute für ihr Projekt eines unabhängigen Staates Kurdistan reklamieren – bildeten daher aus der Perspektive der wüstengewohnten arabischen Herren nur einen Teil jener entlegenen Regionen, wo sie „Akrad“ verorteten. Auch kamen sie nicht auf den Gedanken, diese besondere Region „Kurdistan“ zu nennen; der Name [– S.42 –] taucht überhaupt erst gegen Ende der Seldschukenherrschaft auf.[8]

Mein Konzept der „kurdischen Gesellschaft“ steht diesem recht unspezifischen Gebrauch des Prädikats „kurdisch“ in gewisser Weise nahe, denn jene besondere Symbiose von Bergnomadismus und Halbnomadismus – oder besser: Yaylabauerntum[9] –, die meiner Meinung nach mit ihr wichtigstes Strukturmerkmal darstellt, wird in den Tälern und Schluchten an den Flanken von Taurus und Zagros zumindest seit dem 1. Jahrtausend v.u.Z. von den verschiedensten Bewohnern praktiziert.[10] Für diese Kontinuität gibt es gute Gründe. Die Menschen in den Bergen können aus ökologischen wie ökonomischen Gründen auf Viehwirtschaft nicht verzichten, bedeutet sie doch eine absolut notwendige Ergänzung des nur dürftigste Erträge bietenden Ackerbaus.[11] Damit ist [– S.43 –] zumindest in gewissem Maße ein Zwang zum Nomadismus gegeben, denn unter den Bedingungen enormer Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede zwischen Winter- und Sommerklima ist Viehhaltung in nennenswertem Umfang nur bei saisonalem Weidewechsel möglich.[12] Wanderweidenwirtschaft ist unter diesen naturräumlichen Gegebenheiten selbst im 20. Jahrhundert keine Frage von ‚Rückständigkeit‘, sondern eine objektive Notwendigkeit.[13] Zugleich zwingt die extreme Unwegsamkeit des natürlichen Umfeldes die Bergbewohner aber auch dazu, nach Autarkie zu streben. Noch auf den kargsten Flächen muß versucht werden, die notwendigen Nahrungs- und Verbrauchsmittel selbst anzubauen.[14] Die folgende Feststellung Braudels trifft sicher nicht nur auf die Bergwelt des Mittelmeerraumes zu

„Dennoch, ob winziger Weiler oder wichtiges Dorf, die Bergbevölkerung ist im allgemeinen verloren in einem unwegsamen, übergroßen Raum, darin ein wenig jenen ersten Siedlungszentren in der Neuen Welt gleich, die ebenfalls versanken in einem Übermaß an Raum, welcher zum großen Teil unfruchtbar oder lebensfeindlich war. [...] Die Bergwelt ist gezwungen, sich im wesentlichen selbst zu ernähren, alles selbst zu erzeugen – koste es, was es wolle –, Weinreben, Getreide und Ölbäume anzupflanzen, selbst wenn Boden oder Klima sich hierfür nur schlecht eignen.“[15] ((meine Übers.; franz. Original)

[– S.44 –] Eine ausschließlich aus Wanderviehzüchtern zusammengesetzte Gesellschaft könnte in den Bergen nicht überleben, ortsfester Ackerbau muß die mobile Wirtschaftsform ergänzen – allerdings nicht notwendig auf dem Niveau der einzelnen Wirtschaftseinheit. Das System würde auch funktionieren, wenn Viehzüchter und Bauern ihre separat erwirtschafteten Produkte regelmäßig untereinander austauschten (vor allem Fleisch und Käse gegen Getreide). Realistischer – zumindest in historischer Perspektive – ist es jedoch anzunehmen, daß eine der beiden Gruppen aufgrund überlegener Stärke sich die Produkte der anderen aneignet, und in der Tat war es dem nomadische Gesellschaftsteil vor dem Eindringen effektiver staatlicher Kontrolle in die Berge regelmäßig möglich, den Seßhaften die ‚Tausch‘-Bedingungen zu diktieren.[16]

Es bedarf nun noch einer weiteren, ebenfalls sehr wichtigen Komponente, um meinen Arbeitsbegriff „kurdische Gesellschaft“ vorläufig abzurunden, nämlich das Vorherrschen der tribalen Organisationsform bei der gesellschaftlich hegemonialen sozialen Schicht.[17] Diese Schicht war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein geprägt durch ein regelrecht ständisches Bewußtsein ihrer Überlegenheit über die nicht-tribalen Gesellschaftsteile.[18] Vielleicht erwuchs aus der Einigkeit [– S.45 –] darüber, wer im allgemeinen berechtigt war zu herrschen und wer nicht – nämlich die abhängige Bauernschaft, die reaya –, sogar ein diffuses Zusammengehörigkeitsgefühl, weitergehende Verbindlichkeit untereinander war daraus jedoch nicht abzuleiten. Etliche Stämme konnte nämlich ihre tribale Organisation auch nicht davor retten, von anderen Standesgenossen unterworfen und ihrer Unabhängigkeit beraubt zu werden. Wenn es der Sicherung ihrer eigenen lokalen Vormachtstellung diente, scheute keine Stammesgruppe den Angriff auf die benachbarten Rivalen, selbst wenn dadurch Bande der Blutsverwandtschaft verletzt wurden. Umgekehrt war man jederzeit bereit, ad hoc-Bündnisse mit wem auch immer einzugehen, solange von dort nur wirksame Unterstützung in der momentanen Konfliktsituation erwartet werden konnte.[19]

„Selbst auf der Ebene des Stammes kann sich die Einigkeit gegenüber der Außenwelt allein im Reich der Ideologie abspielen. [...] Im Falle eines Konflikts zwischen zwei Stämmen kann es vorkommen, daß eine Untergruppe des einen Stammes gemeinsame Sache mit der anderen Seite macht – entweder auf Grund einer internen (Blut)Fehde, die als sehr schwerwiegend betrachtet wird, oder (was noch häufiger vorkommt) weil der Chef der Untergruppe persönliche Streitigkeiten mit dem obersten Stammesführer auszutragen hat. [...] es gab ständige Kämpfe um die Führerschaft des Stammes. Jeder der Rivalen versuchte, das sozio-politische Umfeld so zu beeinflußen, daß er den Sieg über die anderen davontragen konnte. Für Menschen dieser Art war die maßgebliche Einteilung nicht ‚mein Stamm‘ vs. ‚die anderen Stämme‘, sondern ‚die Machtquellen, die meine Rivalen anzapfen‘ vs. ‚die Machtquellen, die ich anzapfen könnte‘. [...] Die Einflußnahme auf die Zentralgewalt, um in einem lokalen Stammeskonflikt zu obsiegen, ist in der kurdischen Geschichte ein immer wiederkehrendes Thema.“[20] (meine Übers.; engl. Original)

Leider ist das Konzept „Stamm“ kaum weniger schwammig als „Volk“ oder „Nation“, so daß seine unspezifizierte Verwendung nur mehr Unklarheiten schaffen als beseitigen würde. Über eines allerdings herrscht in der neueren anthropologischen und ethnologischen Forschung Einigkeit, nämlich daß „Stammeszugehörigkeiten“ und damit „Stämme“ von Menschen „gemacht werden“.[21] Das heißt, daß man sich von der Vorstellung verabschieden muß, Stämme seien allein auf Blutsbanden aufgebaut und deshalb – angesichts so und nicht anders gegebener Verwandtschaftsverhältnisse – im wesentlichen statische Gebilde. Dies trifft allenfalls noch auf die „Sippe“ zu, die als – weit gefaßte – Gemeinschaft der leiblich Verwandten als ein unmittelbares und ursprüngliches [– S.46 –] Kollektiv gelten mag, das keiner Vermittlung über einen politischen Führer bedarf, um als handlungsfähige Einheit zu existieren.[22] Die Zugehörigkeit zu einem Stamm hingegen sollte man – zumindest für den Kontext der „kurdischen Gesellschaft“ – als Funktion einer durchaus aufkündbaren, politischen Gefolgschaft zu einer Führungspersönlichkeit sehen.[23]

Rondot berichtet z.B. vom Aufstieg des Mela Mistefa, Sohn des Etman Ağa, letzterer Chef einer nach ihm benannten Stammesgruppe, der „Etmankan“. Mela Mistefa geriet in Streit mit seinem Vater und mußte zu einem benachbarten Führer, Mehm-dki Ağa, flüchten, dessen Vertrauen er erwarb. Obgleich ein Fremder unter den „Mehm-dkan“, konnte Mela Mistefa aufgrund außergewöhnlicher persönlicher Qualitäten die Nachfolge Mehm-dki Ağas übernehmen. Mit Hilfe der neuen Gefolgschaft besiegte er seinen Vater und führte dadurch letztlich die Etmankan und Mehm-dkan zu einem neuen Stamm zusammen, der zu Rondots Zeiten, also gut hundert Jahre nach diesen Vorfällen, als „Omêran“ bekannt war.[24]

Umgekehrt scheiden oft ganze Untergruppen aus einem Stamm aus, um sich einem anderen, erfolgreicheren anzuschließen oder eine eigenständige Einheit zu bilden.[25] Das bedeutet, daß Stämme je nach Fortune des jeweiligen Führers wachsen, schrumpfen oder sich in anderen auflösen können. Im Falle eines Zusammenschlusses (Neugründung oder Anschluß) verschmelzen die Ahnenreihen der zusammengehenden Gruppen alsbald, so daß sie dann den Eindruck erwecken, ‚immer schon‘ zusammengehört zu haben.[26] Von daher ist „Stamm“ ein höchst flexibles und geradezu flüssiges Sozialgebilde, das auf einem Geflecht [– S.47 –] dynamischer, ständig wechselnder Beziehungen beruht.[27] Langfristig passen sich die Genealogien den politischen Erfordernissen an – nicht umgekehrt.[28] Schon Max Weber ging davon aus, daß gerade in früheren Zeiten kollektives Handeln, aus welchen Gründe es auch immer zustandegekommen sei, selbst unter bis dahin unverbundenen Menschen regelmäßig Abstammungsverwandtschaftsüberzeugung hervorbringe.

„Unter Bedingungen geringer Verbreitung rational versachlichten Gesellschafthandelns attrahiert fast jede, auch eine rein rational geschaffene, Vergesellschaftung ein übergreifendes Gemeinschaftsbewußtsein in Form einer persönlichen Verbrüderung auf der Basis ‚ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglaubens.“[29]

Man vergleiche hierzu Lindners Bemerkung: „Blutsverwandtschaft, als eine Ausdrucksweise verstanden, betont und verstärkt die Einigkeit des Stammes, indem fiktive Blutsbande den gemeinsamen Interessen beigefügt werden.“[30]

Es ist wichtig, sich den politischen Charakter des hier verwendeten Stammesbegriffes vor Augen zu führen. „Stämme“, wie ich sie in Anlehnung an Gellner[31] auffasse, sind keine harmonisch zusammengewachsenen Familien- oder Generationenverbände, sondern klar auf Herrschaft über natürliche und menschliche Ressourcen orientierte Koalitionen von waffentragenden Freien.[32] Dem [– S.48 –] entspricht auch die Tatsache, daß die Nachfolge eines ausscheidenden Stammeschefs keineswegs notwendig auf den ältesten männlichen Verwandten übergeht. Es kann auch ein jüngerer Bruder oder ein entfernter Onkel, ja selbst ein gänzlich Fremder wie Mela Mistefa Nachfolger werden, denn Befähigung und Einfluß zählen weit mehr als Nähe der leiblichen Verwandtschaft.[33] Weiterhin ist zu betonen, daß die Tendenz zur Organisation in Stämmen zwar bei Nomaden außerordentlich groß ist, die nomadische Lebensweise aber im zur Debatte stehenden Zusammenhang keine notwendige Voraussetzung hierfür ist.[34] Seßhafte Lebensweise und tribaler Status schließen sich gegenseitig nicht aus, auch Bauern und selbst Städter können tribal organisiert sein.[35] Zudem ist die Stammesverfassung weder eine Erfindung noch ein Privileg der Muslime, für das 19. Jahrhundert sind gut organisierte christliche Stämme belegt[36], und es spricht nichts dagegen anzunehmen, daß sie auch lange zuvor schon existierten.

Weder tribale Organisation noch Wanderweidenwirtschaft sind also in dem Sinne spezifisch „kurdisch“, als daß sie Kennzeichen einer einzigen homogenen Bevölkerungsgruppe („Volk“, „Ethnie“ etc.) seien, sondern es handelt sich um Lebens- und Wirtschaftsweisen, die sich in einem bestimmten naturräumlichen und historischen Umfeld als so erfolgreich erwiesen haben, daß Menschen der verschiedensten Religionen, Sprachen und Herkunft sie annahmen. Auch wenn das, was ich „kurdische Gesellschaft“ nennen möchte, im Ganzen von diesen [– S.49 –] Lebensweisen nachdrücklichst geprägt wurde, blieb es doch die längste Zeit der Geschichte ein soziales Universum nach Art eines ‚Flickenteppichs‘, das erst durch die gewalttätigen und überaus blutigen Umwälzungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert so weit vereinheitlicht wurde, daß das Prädikat „kurdisch“ einen nationalen Gehalt erhalten konnte.

Was aber macht dann den Zusammenhang einer so heterogenen Gesellschaft vor dem 20. Jahrhundert aus? Mir scheint, daß der extreme Lebensraum des Hochgebirges den eigentlichen ‚Kitt‘ des Begriffs „kurdische Gesellschaft“ ausmacht, d.h. ohne die Verbindung zu einem spezifischen Naturraum macht er keinen Sinn.[37] Man muß sich die enorme Unwegsamkeit und Kargheit dieser Gebirgslandschaft klarmachen, in welcher sich die menschlichen Ansiedlungen verlieren, in der massiver Schneefall in jedem Winter alle Außenkontakte abschneidet und in die hinein die Einflüsse der auf große städtische Zentren gegründeten, umliegenden Reiche nur mühsam vordringen.[38] Unter diesen Bedingungen nur ansatzweiser Präsenz einer regulierenden Zentralmacht bietet das tribale halbnomadische Lebensmodell die besten Chancen, sich den Zugriff auf alle lebensnotwendigen Ressourcen zu sichern. Die Lebensweise der nicht-tribalen und ortsgebundenen Feldbau treibenden Bewohner des nämlichen Naturraumes verstehe ich von daher nicht als einen Gegenentwurf zum tribalen Modell, sondern als Ausdruck ihrer Niederlage im permanenten Konkurrenzkampf[39] , denn die Verlierer werden regelmäßig ihres Viehs und ihrer Weiderechte beraubt und – sofern die Unterwerfung längerfristig wirksam bleibt – auf den Status politischer Unmündigkeit reduziert. Aber die reaya von heute können durchaus die aşiret von morgen sein und umgekehrt, denn der tribale Status hängt nicht an der ‚Gnade‘ einer ‚höheren‘ Geburt, sondern ist eine Frage faktischer Macht, und die Machtverhältnisse – zumindest in der sich selbst überlassenen Bergwelt – bleiben ständig im Fluß.

Die bislang genannten Faktoren – geringe staatliche Penetration infolge [– S.50 –] extremer Unwegsamkeit, Streusiedlung bei insgesamt sehr geringer Bevölkerungsdichte verbunden mit dem Zwang zur Wanderweidenwirtschaft aufgrund der nur kärglichen Erträge, die die Umwelt selbst bei hohem Arbeitseinsatz hergibt – haben allerdings den Mangel, daß sie ausschließlich auf der Form des Erdreliefs beruhen, sich meine theoretisch konstruierte „kurdische Gesellschaft“ somit in fast jeder Hochgebirgslandschaft befinden könnte, und an hohen Gebirgszügen ist Vorderasien wahrhaftig nicht arm. Neben die ökologisch bedingten Aspekte müssen zur Eingrenzung des Gegenstands also noch historische treten. Die „kurdische Gesellschaft“ suche ich im wesentlichen dort, wo sich die spezifische Form des „kleinen“ Bergnomadismus, die als Wanderungstiere vor allem den Esel und den Ochsen benötigt[40] , langfristig als dominantes sozioökonomisches Muster gegen den Langstreckennomadismus, der auf dem Kamel oder Dromedar beruht und von außen, aus den Wüsten und Steppen an das Gebirge herangetragen wurde, behauptet hat.

Es versteht sich von selbst, daß ein auf diese Art begrenztes Sozialgebilde eine mit den Jahrhunderten sehr wechselhafte Ausdehnung hat und zu den ‚Rändern‘ hin ins völlig Unbestimmbare verläuft. Ich glaube nicht, daß es Sinn hätte, eine Karte hiervon zeichnen zu wollen. Etwas anders steht es mit dem geographischen Begriff „Kurdistan“, der sich – ohne jemals irgendwo festgelegt worden zu sein[41] – für die Bergketten des östlichen Taurus und nördlichen Zagros eingebürgert hat.[42] Soweit ich ihn in dieser Arbeit verwende, ist er im [– S.51 –] strikt geographischen Sinne zu verstehen: Er bezeichnet einen Abschnitt der Erdoberfläche, den man aus Bequemlichkeitsgründen nicht mit seinen Koordinaten von Breiten- und Längengraden angibt, sondern mit einem Namen behaftet hat. Als solcher ist er austauschbar und begründet keinerlei Rückschlüsse auf die dort lebende Bevölkerung. Genauso sagt die Tatsache, daß eine bestimmte Weltregion seit dem Mittelalter in der abendländischen Terminologie „Türkei“ geheißen wird, nichts darüber, daß dort schon immer „Türken“ gelebt hätten – so sehr die Staatsdoktrin der heutigen Türkischen Republik dies auch möchte.[43]

Schließen möchte ich mit dem Hinweis, daß ich wenig davon halte, Angaben über die Gesamtzahl aller Kurden zu machen. Die in der vorhandenen Literatur gebotenen Zahlen beruhen allesamt auf Annahmen, Schätzungen oder Hochrechnungen noch älterer Schätzungen[44], wobei das Ergebnis je nach politischem Standpunkt mal höher mal niedriger ausfällt: zwischen Null und 30 Millionen wurde so ziemlich jede Zahl schon einmal genannt.[45] Da sämtliche AutorInnen darin übereinstimmen, daß es in keinem der infrage kommenden Staaten zuverlässig nach „Kurden“ und „Nicht-Kurden“ aufgeschlüsselte Bevölkerungsstatistiken gibt, und angesichts der Schwierigkeiten, die die Wissenschaft selbst mit dieser Aufschlüsselung hat, muß jede Zahlenangabe zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendig Spekulation bleiben.[46]

[– S.52 –] Man kann allenfalls feststellen, daß nach allen bekannten Berichten die Zahl der Menschen, für die die Kategorie „Kurde“ eine wesentliche Bedeutung in ihrem Leben hat, sei es, weil sie sich selbst als „Kurden“ wahrnehmen und als solche verhalten, sei es, weil sie sich einer spezifischen, meist repressiven Behandlung durch den Staat ausgesetzt sehen, da sie von dieser Seite – offen oder insgeheim – als „Kurden“ kategorisiert werden, nicht nach Tausenden, sondern nach Millionen gezählt werden muß. Für jede weitere Präzisierung wäre zunächst eine völlige Umkehrung der offiziellen Politik aller betreffenden Staaten vonnöten, denn gegenwärtig wäre ein Versuch, dieser Aufgabe vor Ort nachzugehen, mit akuter Gefahr für Leib und Leben aller Beteiligten – BefragerInnen und Befragter – verbunden. Nach dem blutigen Scheitern des mit dem Antritt der Regierung Demirel eingeleiteten, kurzen kurdisch-türkischen ‚Frühlings‘ und den unverhohlenen Drohungen des irakischen Baath-Regimes, der prekären Autonomie der „Nord-Zone“ so bald als möglich ein militärisches Ende zu setzen – steht aber eine ernsthafte Wende weiter in der Ferne denn je.

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Fußnoten

1
Voraussetzung dafür ist allerdings, daß es in den Staaten Irak, Iran, Türkei und Syrien, in welchen der Prozeß sich vollzieht, nicht zu einer physischen Auslöschung dieser Menschen kommt. Tatsächlich haben all' diese Staaten in der Vergangenheit immer wieder in mehr oder weniger großem Umfang versucht, die sogenannte „kurdische Frage“ durch wahllose Erschießungen bis hin zum Massenmord durch Giftgas, durch Deportationen und Verhungernlassen, durch Vernichtung der Lebensgrundlage mittels gezielter Verseuchung und Zerstörung der Umwelt etc. zu ‚lösen‘. Die erst jetzt allmählich ans Tageslicht kommenden Details der sog. „Anfal-Kampagne“ etwa, die 1988 wahrscheinlich weit mehr als hunderttausend Kurden im Irak das Leben kostete, geben ein grausiges Beispiel hierfür. Siehe: Corsten/al-Kahlil „Die Vernichtung der irakischen Kurden (Interview)“
2
Man lese nur folgende Ausführung Nebez': „Und wie ist es mit dem Begriff ‚Volk‘? Gemäß der o.g. Anschauung [gemeint ist die von Nebez mitbegründete „Kurdische Schule der Sozialismus“, G.B.] ist ein ‚Volk‘ eine große Gruppe, die bestimmte Merkmale auf sich vereinigt, nämlich: das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals, gemeinsame Sprache, eine (reale oder vorgestellte) gemeinsame Vergangenheit und ein gemeinsames Territorium. Ein ‚Volk‘ hat Recht auf ein gemeinsames nationales Leben, d.h. das Recht auf die Errichtung einer unabhängigen Verwaltung für das entsprechende Territorium.“ (Nebez Die kurdische Zeitschrift „Nischtiman“ S.51) Ich erinnere im übrigen an die oben zitierte Aussage Schefflers (siehe Seite 36).
3
„In den Geschichts- und Kulturwissenschaften wird mit V[olk] meist derselbe Sachverhalt bezeichnet, der uns in den Gesellschaftswissenschaften als ‚Gesellschaft‘ [...] entgegentritt [...]“ (Francis „Stichwort: Volk“ Sp.283)
4
Ich übernehme Simmels sehr elegante Definition von „Gesellschaft“: „Ich gehe [...] von der weitesten, den Streit um Definition möglichst vermeidenden Vorstellung der Gesellschaft aus: daß sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten. Diese Wechselwirkung entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. [...] Triebe, Zwecke [...] bewirken es, daß der Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinander-Handeln, in eine Korrelation der Zustände mit anderen tritt, d.h. Wirkungen auf sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfängt. Diese Wechselwirkungen bedeuten, daß aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine ‚Gesellschaft‘ wird. Denn Einheit im empirischen Sinn ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen [...]“ (Simmel Soziologie S.4)
5
van Bruinessen Agha, Shaikh and State S.124 (dt.: S.141) Ganz ähnlich Bosworth: “Probably by the time of the expansion of the Muslim Arabs, the term ‘Kurd’ was being applied to a congeries of Iranian or Iranized tribes that may well have contained also Semitic and Armenian elements.” (Bosworth „Stichwort: Kurds“ S.310)
6
Zur Unterscheidung des arabischen und turkmenischen Nomadentums anhand ihrer jeweilen Wanderungstiere siehe: de Planhol Kulturgeographische Grundlagen S.46-48
7
«Il paraît que de très bonne heure le nom des Kurdes était devenu le synonyme de ‹nomades›.» (Minorsky „Les origines des Kurdes“ S.144) Wo hingegen eine genauere Auseinandersetzung notwendig wurde, ließen die arabischen und später die mamelukischen Autoren jeweils eine ausführliche Liste namentlich genannter Stämme folgen, die sie unter diesem Oberbegriff klassifiziert wissen wollten. Siehe: Minorsky „Stichwort: Kurden“ S.1214f und S.1222
8
„Da der Ausdruck Kurdistan vor der Seldjukenzeit unbekannt war, wird das Material über die Kurden von den Arabern gewöhnlich unter Zawzan, Khilat, Arminiya, Adharbaidjan, Djibal, Fars usw. angeführt.“ (ebenda S.1214) „Historisch betrachtet scheint der Name ‚Kurdistan‘ von den Seldjuken geprägt zu sein zur Bezeichnung der Provinz, welche die zwischen Adharbaidjan und Luristan gelegenen Gebiete [...] sowie einige angrenzende Gebiete westlich des Zagros [...] umfasst.“ (Minorsky „Stichwort: Kurdistān“ S.1237) Übrigens existiert noch heute eine entsprechende iranische Provinz „Kordistan“ mit der Hauptstadt Sanandaj. Siehe dazu: Minorsky „Stichwort: Senna“ S.240
9
Der Begriff „Bergnomadismus“ weist zunächst nur darauf hin, daß im Rahmen der Wanderviehzucht „die jahreszeitlich optimalen Weiden durch Wechsel der Höhenzone erreicht“ (Hütteroth Bergnomaden und Yaylabauern S.39) werden, d.h.: „Winterweiden mit Zelten im wintermilden Gebirgsvorland, Frühjahrswanderung über Zwischenstationen [...] zu den Hochweiden“. (Hütteroth „Zum Kenntnisstand ...“ S.148) „Halbnomaden“ hingegen „verbinden die Wanderviehzucht regelmäßig mit saisonalem Ackerbau [...] Ihre Viehhaltung beschränkt sich oft nur auf Kleinvieh (Schafe und Ziegen) und das wenige für den Feldbau benötigte Zugvieh, Transporttiere sind oft nur Esel [...] Auch bei den Halbnomaden wandert die ganze Familie oder soziale Gruppe, man lebt aber nur im Sommer im Zelt [...] im Winter werden feste Häuser mit Wirtschaftsteil bezogen.“ (Rathjens „Fragen des Wanderhirtentums“ S.143) Das „Yaylabauerntum“ ist nun eine stärker zur Seßhaftigkeit hin orientierte Kombination von Wanderviehwirtschaft und Ackerbau in den Bergen, bei der die Viehwirtschaft eindeutig den Erfordernissen des Ackerbaus untergeordnet ist, d.h. hier wird die maximal mögliche Entfernung der Sommerweide vom Winterdorf diktiert von der Notwendigkeit, die Felder für kurze Arbeitseinsätze binnen eines Tagesmarsches erreichen zu können. Siehe hierzu: Hütteroth „Zum Kenntnisstand ...“ S.150
„[...] zu den Anfängen der nomadischen und halbnomadischen Bergweidewirtschaft in diesem Gebiet vorstoßen zu wollen, hieße bei der Lage des Taurus am Rande Mesopotamiens wohl, die Frage der Entstehung der Herdenviehzucht überhaupt aufzurollen. Die Existenz nomadischer oder seminomadischer Wanderviehzucht steht im Taurus also für lange historische Zeiträume außer Zweifel, und die Kurden, gleichgültig wann und unter welchem Namen sie hier auftauchten, fanden sie bereits vor. Die örtlichen Nutzungsarten sind also sicher trotz aller ethnischen Verschiebungen weitgehend die gleichen geblieben, die Naturverhältnisse des Hochgebirges zwangen oder reizten alle neuen Bevölkerungsgruppen zu ähnlichen Wirtschaftsformen.“ (Hütteroth „Beobachtungen zur Sozialstruktur kurdischer Stämme“ S.41f) Siehe auch: de Planhol Kulturgeographische Grundlagen S.231
Die folgenden Bemerkungen Barth' zum Verhältnis des erforderlichen Arbeitsaufwands bei Feldbau und Viehzucht unterstützen das Argument: “A long day is spent by the farmer in food producing activities, in part because of primitive techniques [...] The yield is low, and a large area pr. capita must be brought under plow. [...] The plow itself is made of wood, with a conical iron cover over the point. It has a very low level of efficiency [...] The outcome of this is that the Kurdish farmer spends a very great amount of time plowing, but w[...]ith rather meagre results. Average return in wheat and barley seems to be c. 8/1 in an openly seeded field. [...] Herding involves much less work, and the supervision of the flocks can easily be delegated. [...] Morning and evening milking is not too time consuming [...] so thus very few man-hours are expended.” (Barth Principles of Social Organization S.18-20)
„Das heiße und trockene Sommerklima bringt schon im Juni den üppigen Pflanzenwuchs der Vorlandebene zum Verwelken und zwingt die Herdennomaden dazu, mit ihrem Vieh in die Berge hinauf zu wandern. [...] Dies bezeichnet man als ‚auf die Yayla gehen‘. [...] das Wort Yayla [hat] eine sehr weite Bedeutung. Im allgemeinen bedeutet es einen Aufenthaltsort mit frischer Luft, gutem Wasser und saftigen Weiden.“ (Frödin „Neuere kulturgeographische Wandlungen“ S.10f)
„Die Forschung ist heute nahezu einhellig der Meinung, daß für viele extensive Weidegebiete die Nutzung durch Wanderhirten die optimale und mitunter sogar die einzig mögliche darstellt. Das gilt besonders für die Bergweidegebiete vieler asiatischer Hochgebirge. Es wäre daher ein wirtschaftlicher Verlust, wenn der Gebirgsnomadismus seine Lebensgrundlagen verlöre oder von den beteiligten Staaten völlig unterdrückt würde.“ (Rathjens „Fragen des Wanderhirtentums“ S.144f)
Bobek („Forschungen im zentralkurdischen Hochgebirge“ S.220) stellte z.B. im Raum Hakkâri Felder noch in 2.450 m Höhe fest.
Braudel La Méditerranée et le monde méditerranéen Bd.1 S.29 Man vergleiche die Beobachtungen von Rondot: «[...] dans la montagne originielle, les hommes vivent par petits groupes, dans les vallées, sur les emplacements exigus qui permettent l'existence [...] ils produisent, tant bien que mal, tout ce qui est nécessaire . leur existence, ils sèment quelque céréales, ils ont quelques troupeaux, et ils exercent un artisanat élémentaire: fabrication des vètements, des chaussures, des outils et des armes.» (Rondot „Les tribus montagnardes de l'Asie antérieure“ S.3) Ähnlich Soane und Moltke: “[...] the country produces practically everything necessary for life, including homespuns and shoes [...]”. (Soane „The Southern Kurd“ S.46) „Alle Ortschaften sind unter sich durch die halsbrechendsten Fußpfade verbunden, welche selbst auf Maulthieren nicht ohne Gefahr zu passiren sind und dem ungewohnten Reiter Entsetzen einflößen. Jede Gemeinde genügt sich selbst, sie braucht und will keinen Verkehr mit den übrigen.“ (von Moltke „Das Land und Volk der Kurden“ S.293) Wie enorm gering die Siedlungsdichte auch in den 50er Jahren noch war, berichtet Barth (Principles of Social Organization S.11).
Die folgenden Bemerkung Gellners über die mit dem Hirtendasein notwendig verbundene kriegerische Qualifizierung gibt einen Hinweis auf mögliche Gründe für die nomadische Überlegenheit: “[...] a shepherd is primarily a guardian of flocks, against wild animals and, most of all, other shepherds. His defensive vigilance develops skills which are just as usable in aggressive as in defensive violence, and he will of course, given the opportunity, use them in order to raid, as much as to ward off being raided.” (Gellner „The Tribal Society and Its Enemies“ S.441) Ähnlich urteilt auch Hütteroth: „Die Militanz der Nomaden ist [...] Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der nomadischen Lebensform.“ (Hütteroth Türkei S.203)
«[...] le fond mème de la vie sociale, les conceptions qui la réglementent se basent chez les Kurdes sur le principe tribal [...] Chez les Kurdes, le centre de gravité est dans la tribu. Un chef kurde tire toute son importance et toute sa raison d'être de sa tribu.» (Nikitine „La féodalité kurde“ S.1)
Da dies von erheblicher Bedeutung ist, möchte ich mehrere Zitate anführen, um die große Übereinstimmung in der Literatur zu diesem Punkt zu dokumentieren: „Ist ein Theil eines Stammes Rajah, der andere Kötscher [„umherziehend“, also nomadisch, G.B.], so besteht zwischen beiden fernerhin keine Gemeinschaft. Die sesshaften werden von den nomadisirenden Brüdern verachtet und selbst verfolgt [...]“ (Blau „Die Stämme des nordöstlichen Kurdistan“ S.589) «Un fait ethnographique peu connu, c'est celui de la division des Kurdes en deux catégories ou classes bien distinctes: les nobles qui dédaignent la charrue et portent les armes, et les laboureurs. La première est généralement semi-nomade, et n'a pour demeure que ses tentes, au moins pendant l'été, et vit de ses troupeaux ou du butin que lui fournissent ses expéditions ou un service mercenaire en Turquie et en Perse. La seconde est à peu près sédentaire et demeure dans les villages. La classe supérieure est connue sous le nom de Kermani ou Assireta, et celle des agriculteures ou paysans sous celui de Gouran ou Raia.» (Chantre „Les Kurdes“ S.192) “The tribesmen, usually nomadic or semi-nomadic, constituted in fact a military ‘caste’ that dominated a lower stratum of cultivators and artisans: non-tribal Kurds, Christians, Jews.” (van Bruinessen „Kurdish Tribes and the State of Iran“ S.368) „Bedeutungsvoll ist [...] auch noch heute [...] die soziale Schichtung innerhalb der kurdischen Bevölkerung selbst, unter der man einmal als angesehenste die ‚aşir‘, d.h. die ‚Stammesleute‘, – eine Art Hirtenadel – gegenüber den einfachen, nicht selbständig stammesmäßig organisierten ‚Kermanci‘ unterscheidet, die zu den ersteren fast in dem gleichen Hörigkeitsverhältnis stehen wie früher die christlichen Bauern.“ (Hütteroth Bergnomaden und Yaylabauern S.110f) Siehe auch: Minorsky „Stichwort: Kurden“ S.1231f
Siehe hierzu auch: van Bruinessen Origins and Development of Kurdish Nationalism S.5
van Bruinessen Agha, Shaikh and State S.71f (dt.: S.92)
Siehe z.B.: Eickelman The Middle East. An Anthropological Approach S.87
Ich stütze mich für den Begriff des „Politischen“ auf Webers Definition. Demnach liegen „politische“ Verhältnisse dann vor, wenn die Beherrschung des sozialen Verbandes und dessen Lebensraums durch eine ausschließlich hierfür konstituierte Spezialistengruppe wahrgenommen wird und nicht mehr bloßes Nebenprodukt einer alles umfassenden sozio-ökonomischen wie ontologischen Eingebundenheit in die „Sippe“ ist. Siehe: Weber Wirtschaft und Gesellschaft S.514f
Ich greife hier auf eine Formulierung Lois Becks zurück: “Tribal membership is defined primarily by political affiliation to leaders.” (Beck „Revolutionary Iran and Its Tribal Peoples“ S.14)
Siehe: Rondot „Les tribus montagnardes de l'Asie antérieure“ S.18-19
So beobachtete Blau beispielsweise, daß zur Zeit seiner Erkundungen (1857) eine neue Seitenlinie des Stammes der „Sivkanli“ im Entstehen begriffen war, weil ein gewisser „Ali Tagori“, der sich im Krimkrieg einen Namen als mutiger Kämpfer gemacht hatte, sich anschließend vom Hauptstamm abspaltete und eine eigene Fraktion gründete. „Abenteurer und Unzufriedene aller Art schaarten sich bald um ihn, und im vergangenen Sommer zählte er bereits 250 Zelte.“ (Blau „Die Stämme des nordöstlichen Kurdistan“ S.594)
„Ein Zeitlang macht man noch einen Unterschied in ‚echte‘ und ‚unechte‘ Halelan, Izdinan usw., aber die wechselvolle Lokalgeschichte scheint die Unterschiede recht bald zu verwischen.“ (Hütteroth „Beobachtungen zur Sozialstruktur kurdischer Stämme“ S.29) „Organisatorische Veränderungen im Stamm werden nach zwei bis drei Generationen (50-75 Jahren) in den Genealogien nachvollzogen. Die Genealogien sind als flexibler Rahmen eines theoretischen Überbaus anzusehen, innerhalb dessen die politische Einheit ‚Stamm‘ strukturell gegliedert ist.“ (Franz Kurden und Kurdentum S.177)
Genau diese Eigenschaften frustrieren Ethnologen und Anthropologen bei ihrem Bemühen, die Kategorie Stamm auch empirisch exakt festzunageln: “Actually, most so-called tribes seem at close range to be curious melanges rather than homogeneous units.” (Fried „On the Concepts of ‘Tribe’ and ‘Tribal Society’“ S.13)
“As a tribe grew, so also grew a need to justify and express tribal unity in some symbolic form easily understandable by all the tribespeople. This need was filled through the use of the idiom of kinship as the explanation of comradeship. In fact, comradeship may have determined the structure and content of genealogies, as mobility allowed the swift alteration of political choices and the sudden putting into effect of newly chosen loyalties. Common interest became expressed on the ground in action and coalition; in the mind, it was understood in kinship terms.” (Lindner „What Was a Nomadic Tribe?“ S.700)
Weber Wirtschaft und Gesellschaft S.237; den Begriff „ethnisch“ definiert Weber dergestalt, daß ihm jede Menschenmenge, in welcher die Überzeugung vorherrscht, von gemeinsamer Abstammung zu sein, als eine „ethnische Gruppe“ gilt – gleichgültig ob dieser Glaube auf fiktiver oder realer Grundlage beruht. Er betont dabei, daß solche „ethnische Gemeinsamkeit“ vollkommen unverbindlich bleiben könne und deshalb nichts über zukünftiges Kollektivhandeln aussage. (ebenda)
Im Original: “Kinship as idiom emphasizes and reinforces the unity of the tribe by adding fictional blood ties onto shared interests.” (Lindner „What Was a Nomadic Tribe?“ S.697; meine Übersetzung)
“A tribe is a local mutual-aid association, whose members jointly help maintain order internally and defend the unit externally. [...] These units may but need not be defined in terms of kinship. [...] they invariably possess devices for incorporating individuals and groups without the benefit of the appropriate ancestry [...]” (Gellner „The Tribal Society and Its Enemies“ S.438f)
Mit natürlichen Ressourcen sind in erster Linie Bodennutzungsrechte gemeint. Hütteroth bemerkt in diesem Zusammenhang, daß „[...] der Viehreichtum der Dörfer, basierend auf dem mehr oder weniger großen Besitz an Yayla-Land, auf die Machtverhältnisse der einzelnen Stämme zurückzuführen ist. Viele Yaylas haben häufig den Besitzer resp. Nutzer gewechselt, noch heute ist dieser mehr oder weniger illegale Besitzerwechsel ein Anlaß ständiger, oft blutiger Zwischenfälle. [...] Mit einer Art von Gesetzmäßigkeit wird dabei der jeweils unterlegene einzelne oder Stamm in stärkerem Maße auf den Landbau verwiesen. [...] Wer unterliegt oder verarmt, verliert als erstes Vieh und Yaylarechte.“ (Hütteroth „Beobachtungen zur Sozialstruktur kurdischer Stämme“ S.28)

“Leadership of the lineage or the tribe is generally inherited within the same family, but there is no fixed rule of sucession. In some tribes the eldest son is thought to be the best successor (but then the rule is still applied quite flexibly), in others it is the elders of lineage or tribe who – in theory at least – choose the brother or son or nephew they consider most fit to succeed to the position. [...] In practice often sheer power, even brutal violence, and shrewd manipulation are involved.” (van Bruinessen Agha, Shaikh and State S.80 (dt.: S.100)) Siehe auch: Hütteroth „Beobachtungen zur Sozialstruktur kurdischer Stämme“ S.33
“It is overwhelmingly tempting to say that the ecological basis of this form of tribalism is pastoralism, though it would be rash and probably wrong to say that extensive pastoralism necessarily imposes this form of organisation.” (Gellner „The Tribal Society and its Enemies“ S.441)
“Not all tribesmen, it should be stressed, were pastoral nomads or transhumants. There were also sedentary tribesmen, who were free cultivators or had become townsmen.” (van Bruinessen „The Ethnic I dentity of the Kurds“ S.618) Der oben erwähnte Stamm der Omêran beispielsweise setzte sich laut Rondot aus Weinbau betreibenden Bauern zusammen: «une tribu de vignerons [...] qui, comme tel, méprisent les pasteurs». (Rondot „Les tribus montagnardes de l'Asie antérieure“ S.16)
«[...] les tribus assyriennes, lorsqu'elles vivaient, avant guerre, dans leur habitat primitif des montagnes de l'Hakîarî, ne présentaient aucun trait essentiel qui les distinguât des tribus kurdes voisines. Leur organisation intérieure, leur vie sociale étaient analogues.» (Rondot „Les tribus montagnardes de l'Asie“ S.6) Siehe auch: Chevalier Les montagnards chrétiens du Hakkari S.212f
Ich nehme mir die Freiheit, die folgende Stelle bei Nikitine in diesem Sinne zu interpretieren: «[...] la notion de kuestân (montagne, pays montagneux) remplace pour le Kurde l'idée de la patrie, car pour lui tout ce qui est decht (plaine) ne peut être habité que par les étrangers [...]». (Nikitine „La féodalité kurde“ S.4) Der Autor selbst allerdings wollte die Verbundenheit mit den Bergen höchstwahrscheinlich als ein nationales Merkmal der Kurden verstanden wissen.
Die weiter oben schon einmal zitierten Überlegungen Braudels zur mediterranen Bergwelt waren auch in diesem Punkt anregend. «Indéniablement, la vie des bas pays et des ville pénètre mal ces mondes d'en haut. Elle s'y infiltre au compte-goutte. [...] On le vérifierait partout o- l'insuffisance du matériel humain, sa faible épaisseur, sa dispersion ont interdit la mise en place de l'état [...]» (Braudel La Méditerranée et le monde méditerranéen Bd.1 S.34) Bzgl. der Entlegenheit der Dörfer und Schneefall siehe auch: Bobek „Forschungen im zentralkurdischen Hochgebirge“ S.220 und S.223
Für diese Annahme kann ich mich auf Hütteroth („Beobachtungen zur Sozialstruktur kurdischer Stämme“ S.39f) und mit gewissen Einschränkungen auf Barth (Principles of Social Organization S.132) stützen.
Über die Sommerwanderung der „Mela“ im Jahre 1857 berichtet beispielsweise Blau: „Der Trupp bestand aus etwa 200 Lastochsen, welche die Zelte und das Hausgeräth trugen.“ (Blau „Die Stämme des nordöstlichen Kurdistan“ S.588) Auch in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts hatte sich daran wenig geändert: „Maultiere, seltener auch Pferde, finden als Packtiere Verwendung, wofür aber auch Ochsen herangezogen werden.“ (Bobek „Forschungen im zentralkurdischen Hochgebirge“ S.220) Und in den 50er Jahren: “Cattle are kept more for their use as work animals in plowing and threshing than for their products. Donkeys are used for all transportation, no wheeled vehicles are seen. The horse is primarily a prestige symbol, and has little economic use.” (Barth Principles of Social Organization S.18)
Banse hat 1911, also bevor seine Verwendung ein Politikum ersten Ranges wurde, eine Kritik des Begriffs aus geographischer Sicht versucht. „Einer der schwankendsten geographischen Begriffe ist Kurdistân [...]“, heißt es einleitend und um dies zu illustrieren, listet er knapp zehn Beispiele seiner fachspezifischen Verwendung auf. Anschließend entfaltet er seine eigene These anhand einer Kartenskizze „Die tektonische Bedingtheit der Kurdensitze“: „Es ist [...] unverkennbar, daß ihre Verbreitung sich an das Vorkommen von Gebirgen hält, Ebenen aber tunlichst meidet [...] Das Kärtchen zeigt deutlich, daß den Kern des kurdischen Wohngebiets die Systeme des Armenischen Taurus [...] und des nördlichen oder (wie man deshalb auch sagen kann) kurdischen Zagros bilden.“ Banse endet mit der Empfehlung, den Begriff nur „in der zweiten Linie“ zu verwenden, denn ein „Landindividuum Kurdistân [...] gibt es nicht [...]“. (Banse „Kurdistân - ein länderkundlicher Begriff?“ S.286 und S.288, Karte S.287)
Bobek schlug sogar vor, diese Gebirgszüge „Kurdischer“ Taurus bzw. Zagros zu nennen: „Ich möchte – unbeschadet besserer Vorschläge – die gesamten südlichen Randgebirge des neuen Ostanatolien unter dem Namen ‚Kurdischer Taurus‘ zusammenfassen, woran sich gegen SO der ‚Kurdische Zagros‘ anschließt.“ (Bobek „Forschungen im zentralkurdischen Hochgebirge“ S.152) Befremdlich wirkt allerdings, daß Bobek (ebenda Anm.3) „bessere Vorschläge“ ausgerechnet aus Ankara erwartete – das zu einer Zeit, als die bloße Nennung des Wortes „Kurde“ in der Türkischen Republik als Staatsverbrechen behandelt wurde.
Das Wort „Türkei“ war im übrigen im Osmanischen Reich nicht nur unüblich, sondern gänzlich unbekannt – es handelt sich um einen rein westlichen Begriff: “In Ottoman writings up to the middle of the 19th century, and in many of them much later, the word ‘Turkey’ is not used. It was a Western term, used by Westerners to describe a country, which the Turks themselves usually called ‘the lands of Islam,’ ‘the imperial realm,’ ‘the divinely guarded realm,’ ‘the Ottoman dominions,’ and similar expressions – and these were of course understood to include the whole of the Empire and not simply the area inhabited by the Turkish nation, the very existence of which was concealed.” (Lewis „History-writing and National Revival in Turkey“ S.220)
Qazzaz hat dies schon vor knapp 20 Jahren festgestellt, und es hat sich daran bis heute leider wenig geändert. “The existing data on Kurdish population therefore reflects little more than an inconclusive battle of assertions and must therefore be considered as only a consensus of guesses.” (Qazzaz Nationalism and Cultural Pluralism S.15)
Ich verzichte auf Beispiele, da es mittlerweile genügend Veröffentlichungen gibt, in denen eine bunte Sammlung solcher Zahlen aufgelistet zu finden ist. Für ältere Zahlen siehe: Jwaideh The Kurdish Nationalist Movement Kap. “Population” S.13-19; neuere Zahlen finden sich z.B. bei: Bollermann „Die Kurden – ein geteiltes Volk“ Anm.5 S.78; Moradi Ein Jahr autonome Regierung in Kurdistan S.10-23
Heinrich sieht das offenbar ähnlich: „Genaue Ergebnisse sind nicht zu erbringen, da die Zahl derer, die sich bei einem nach ausschließlich wissenschaftlichen statt politischen Kriterien durchgeführten Zensus offiziell als Kurden definieren würden, entsprechend der politischen und sozialen Situation schwanken würde.“ (Heinrich Die kurdische Nationalbewegung in der Türkei S.5) Siehe auch: Gürgenarazili „Zwischen Anerkennung und Verbot“ S.209