Nationalismus in Kurdistan (1993)
Die Entwicklung des kurdischen Nationalismus gestaltete sich im umfassenden Kontext der orientalisch-islamischen Gesellschaft. Diese Tatsache zu übergehen, hieße erhebliche Fehlinterpretationen in Kauf zu nehmen. Wesentliche Kategorien der europäischen Gesellschaftsentwicklung wie etwa Feudalismus, Aufklärung, Kapitalismus, Bürgertum oder Industrialisierung lassen sich nicht bruchlos auf die islamische Welt übertragen, da diese in entscheidenden Punkten anders strukturiert war und teilweise noch ist. Mehr jedoch als den – fraglos vorhandenen – Mentalitätsunterschieden zwischen Orient und Abendland nachzuspüren, wird es mir darum gehen, die starke Fragmentierung der orientalischen Gesellschaft in ein Mosaik halbautarker Mini-Systeme als eins ihrer zentralen Merkmale herauszustellen und die hierfür prägende Rolle des Nomadentums aufzuweisen.[1]
Es ist hier allerdings nicht der Ort, die Entwicklung der islamischen Gesellschaft schlechthin zu diskutieren. Für meine Fragestellung sind – neben der kurdischen selbst – zwei konkrete islamische Gesellschaften wesentlich: die des Osmanischen und die des Persischen Reiches. In diese beiden, durchaus unterschiedlichen Großreiche waren jene Emirate, die die politische Gestalt der kurdischen Gesellschaft wesentlich geprägt haben, über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich eingebettet. Ohne Kenntnis der Struktur dieser beiden übergeordneten Gebilde läßt sich daher auch die Ausgangssituation für den kurdischen Nationalismus nicht bestimmen.
Dabei kommt dem Osmanischen Reich als der für Jahrhunderte überragenden Führungsmacht im gesamten islamischen Raum eine besondere Stellung zu. Nicht nur territorial erstreckte sich die Oberhoheit des Sultans über den größeren Teil jenes Raumes, in welchem ich die kurdische Gesellschaft verortet habe, sondern auch die kulturelle wie politische Ausstrahlungskraft des Osmanischen Reiches überwog die des Persischen bei weitem. Das Reich des Schah-in-Schah kam im Vergleich zur osmanischen Weltmacht, die drei Kontinente umspannte, nie über den Status einer Regionalmacht hinaus. Der Schwerpunkt der nachfolgenden Darstellung wird daher auf der Entwicklung der kurdischen [– S.54 –] Gesellschaft im osmanischen Kontext liegen, während die Verhältnisse in der persischen Einflußsphäre vorrangig zum Vergleich oder zur Kontrastierung herangezogen werden.
Es erscheint mir allerdings geboten, zunächst eine historische Betrachtung, beginnend mit der Errichtung des Arabischen Weltreiches im 7. Jahrhundert, voranzustellen. Dieser Abschnitt ist notwendig, um herauszuarbeiten, in welch unterschiedlichen Traditionslinien der islamischen Gesellschaftsentwicklung das Persische und das Osmanische Reich standen. Die in Kurdistan gelegenen Emirate sahen sich nämlich Anfang des 16. Jahrhunderts eingekeilt zwischen einem aufsteigenden Nomadenreich im Osten, gegründet auf der Macht beute- und weidesuchender Turkmenenstämme, zusammengehalten von einem charismatischen Eroberer, dessen Staatskonzept wesentlich einer tribalen Logik gehorchte, und einer orientalischen Despotie im Westen, deren Stärke – politisch wie militärisch – auf einer Klasse seßhafter Staatsfunktionäre beruhte. Dabei schöpfte das Osmanische Reich aus der langen arabisch-persischen Tradition seßhafter Staatskunst, die zuletzt im Rum-Seldschukischen Reich von Konya zu einem glänzenden Höhepunkt gekommen war, während das Persische Reich der Safaviden eher in einer Linie mit den frühen Großseldschuken, den mongolischen Il-Khanen und den Turkmenenherrschaften der Kara-Koyunlu und Ak-Koyunlu zu sehen ist.
Höchst erklärungsbedürftig ist vor diesem Hintergrund die Tatsache, daß sich die prinzlichen Führungsgestalten der politisch in viele unabhängige Emirate aufgesplitterten kurdischen Gesellschaft – als eine Parteinahme im Konflikt zwischen den Großen unausweichlich wurde – fast alle für eine Anlehnung an die Osmanen entschieden, obwohl die interne gesellschaftliche Verfaßtheit ihrer jeweiligen Herrschaftsgebilde viel stärker dem safavidisch-nomadischen Modell entsprach. Die in der einschlägigen Literatur schon fast stereotyp vorgebrachte Behauptung von einer religionsbedingten Affinität zwischen „Osmanen“ und „Kurden“ ist dabei – wie zu zeigen sein wird – wenig hilfreich.[2] Stattdessen soll im folgenden Abschnitt anhand einer Diskussion der sozio-historischen [– S.55 –] Hintergründe versucht werden zu erweisen, daß hier eine höchst zweckmäßige Vernunftehe zwischen zwei, wenn auch ungleichen, Partnern zustande gekommen ist: dem osmanischen Großherrn und den Lokalfürsten der unzugänglichen Bergwelt Kurdistans.
Die Wahl des 7. Jahrhunderts als Einstiegsdatum liegt zunächst darin begründet, daß die Zeit zwischen dem 7. und dem 16. Jahrhundert in der Kurdistan-Literatur häufig zu kurz kommt[3] oder aber über diese, für die Formierung der kurdischen Gesellschaft nicht unwesentliche Periode glatter Unfug behauptet worden ist. Hier einige Kostproben:
„Auf den Sturz der Ayyubiden folgte eine der dunkelsten Epochen der kurdischen Geschichte. Die Mongolenhorde überflutete Kurdistan. [...] Zweieinhalb Jahrhunderte lang (1260-1502) widerstanden die Kurden ununterbrochen der Macht der Mongolen der Il-Khane und der Timur-Lengs sowie seiner Nachfolger. [...] Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, bauten die ursprünglichen Einwohner ihre Ruinen wieder auf und innerhalb weniger Jahre waren ihre gewerblichen und kommerziellen Beziehungen wiederhergestellt.“[4] (meine Übers.; engl. Original)
„Nach dem Zerfall des Seldschukenreiches war Kurdistan bis Anfang des 16. Jahrhunderts sich selbst überlassen.“[5]
„So marschierten z.B. die Aqqoyunlu (1378-1502) und Qaraqoyunlu (1404-1447) in Kurdistan ein. Sie plünderten das Volk aus und versuchten es auszurotten.“[6]
„Vom XI. bis zum XVI. Jahrhundert konnten sich die türkischen Fürstentümer gegenüber den Angriffen der kurdischen Stämme nicht lange am Leben halten [...] Türkische Fürstentümer wie Akkoyunlar, Karakoyunlar, Artukogullar sind Beispiele für solche Fürstentümer.“[7]
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, da für viele Autoren diese Epoche nur sozusagen als Vorgeschichte der ‚eigentlichen‘, ‚nationalen‘ Geschichte der Kurden zu existieren scheint, die sie daher im Eiltempo abhaken. In aller Regel entledigt man sich dieser Pflichtübung, die vor der Kür „kurdische Nationalbewegung“ kommt, durch ein mehr oder weniger verstümmeltes Kurzreferat des [– S.56 –] „Kurden“-Artikels aus der Enzyklopaedie des Islam[8] was auch die Gleichförmigkeit all dieser Geschichts‚abrisse‘ erklärt.[9]
Ein weiterer Grund dafür, dieses Kapitel im 7. Jahrhundert beginnen zu lassen, ist die Tatsache, daß die zuverlässig dokumentierte Geschichte Kurdistans überhaupt erst mit der arabischen Geschichtsschreibung, d.h. mit der arabisch-islamischen Eroberung des Mittleren und Nahen Ostens, einsetzt.[10] Versuche, die Geschichte „der Kurden“ in den vor diesem Datum liegenden Zeiten zu ergründen, endeten bislang regelmäßig in unergiebigen Spekulationen[11] da man hier auf kein anderes Material zurückgreifen kann als auf die bloßen Namen für die Völker der Region, wie sie in einigen wenigen frühen Schriftdokumenten festgehalten sind. Zur Klärung etwa der Frage, ob die Namen „Guti“, „Kar-du“, „Cyrtii“ oder „Karduchen“ ein und dasselbe Volk bezeichneten und ob dieses eventuell mit „den Kurden“ identisch ist, gibt es keine andere Entscheidungsgrundlage als die Exegese der Schriftzeichen selbst, in denen diese Namen notiert wurden.[12]
Als wissenschaftliche Verzweiflungstat muß es einem da erscheinen, wenn etwa der britische Altphilologe Godfrey Rolles Driver nach seitenlanger Beweisführung einen linguistischen Zusammenhang zwischen den Worten „Kurde“ und „Kar-du“ für unhaltbar erklären muß, dann jedoch behauptet, die „Kar-du“ seien trotz allem die direkten Vorfahren der Kurden, da sie – laut [– S.57 –] sumerischen Tontafeln – vor über 4.000 Jahren in derselben Region halbnomadische Almwirtschaft betrieben hätten wie die Kurden heute.[13] Ich kann Limbert nur zustimmen, wenn er sagt:
„[...] die Frühgeschichte der Kurden kann nicht verläßlich rekonstruiert werden. Unglücklicherweise führte der Mangel an Fakten sowie die Romantisierung der Kurden durch Amerikaner und Europäer [...] zu einem Erguß an pseudo-gelehrtem Unsinn, voller wilder, niemals schlüssig zu widerlegender Theorien.“[14] (meine Übers.; engl. Original)
Beim gegenwärtigen Stand der Kenntnisse hat daher die vorgeblich ‚wissenschaftliche‘ Beschäftigung mit der „Herkunft der Kurden“ ihren Platz im wesentlichen im Rahmen politisch motivierter Rechtfertigungsrethorik.[15] Daß vor allem türkische Wissenschaftler sich selbst in diesem Zusammenhang zu Liebdienern einer nationalistisch deformierten Staatsdoktrin herabwürdigen, ist ein deprimierendes Schauspiel.[16]
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Fußnoten