Nationalismus in Kurdistan (1993)
Der Aufstieg der arabisch-islamischen Herrschaft zur Großmächtigkeit vollzog sich im 7. Jahrhundert, begünstigt durch naturräumliche Gegebenheiten, hauptsächlich durch die Expansionskraft der Beduinenstämme aus den riesigen arabischen Wüsten. Der starke Anteil dieser Nomaden an der ersten islamischen Reichsgründung erzwang bleibende Veränderungen in den eroberten Gebieten und schuf neue gesellschaftlich-politische Beziehungsmuster. Denn auch nach dem Sieg der muslimischen Nomaden, der einherging mit Verwüstungen und Plünderungen unter der seßhaften Bevölkerung, konnte die umfassende Raumbeherrschung nur durch ständige Zufuhr weiterer Nomadenstämme gesichert werden, mußte immer mehr Ackerland durch Vertreibung der Bebauer in Weideland verwandelt werden. Das seßhafte Bauerntum, die Steuerbasis aller vormodernen Staatsapparate, nahm dadurch dauerhaft Schaden.[1]
[– S.58 –]„[...] seine allgemeinen Folgen [sind] überall dieselben. Er [der Prozeß der Nomadisierung G.B.] hat zu beträchtlicher Diskontinuität in der Landnahme geführt: es bildeten sich isolierte Zentren, in denen sich dichte Bevölkerung und intensive Nutzung behaupteten, während dazwischen weite Räume den viel lockereren Wanderungen der Hirten überlassen blieben.“[2]
Drastisch gestaltete sich der Rückgang an Seßhaftigkeit indessen nur im flachen Land, da die arabischen Vollnomaden nicht nur in ihrer militärischen Kraft, sondern auch in der alltäglichen Lebensform von ihrem Haupttransportmittel, dem Dromedar, abhängig waren. Durch dessen Kälteunverträglichkeit verschlossen sich ihnen feuchte, kühle Bergregionen als dauerhafter Lebensraum automatisch.[3] Man begnügte sich dort mit exemplarischen Raubzügen („Razzien“) gegen die städtischen Zentren, um den Lokalfürsten die Vasallität aufzuzwingen – und natürlich zu plündern –, und ließ die Bergbewohner ansonsten weitgehend unbehelligt, sofern sie ihren Tribut anstandslos ablieferten. So erging es auch dem bergreichen Kurdistan: Bezogen auf die Kernlande des Arabischen Reiches war es immer nur indirekt kontrollierte Peripherie; die direkte Provinzialherrschaft endete mit der Ebene von Mosul.
Unabhängig von ihrem spezifisch muslimisch-nomadischen Charakter folgte die arabische Expansion damit einem altem Muster: Die riesigen Bergketten, die das Rückgrat des geographischen Kurdistan bilden, scheinen immer so etwas wie eine natürliche Scheidelinie zwischen den jeweiligen Großreichen gewesen zu sein, einerlei, ob es sich um die Römer und Parther oder um Byzanz und die Sassaniden oder noch später um die Osmanen und Safaviden handelte. Kurdistan fiel durch seine geographische Lage fast unausweichlich der Status der Peripherie zu.[4] Die soziale und politische Entwicklung dieser Region wurde daher unablässig durch die Wechselwirkung mit den Großmachtzentren bzw. deren jeweiligen Aufstieg oder Niedergang geprägt. Dieser Prozeß ist an der Einflußnahme des Arabischen Weltreiches erstmals richtig zu studieren, da eben von den Chronisten der Eroberer die ersten genaueren Aufschlüsse über die Verhältnisse in der Region stammen.
Abgesehen von der Plünderung der Städte und ihres Umlandes wirkte sich die Errichtung der arabischen Oberhoheit über Kurdistan vor allem auf die Form der Herrschaftsausübung und das geistige Leben aus. Allein schon die schiere Existenz eines benachbarten mächtigen Staatsgebildes griff tief in das politische Gefüge seiner Peripherie ein, ohne daß diese dafür vollständig in den Staat eingegliedert werden mußte. Durch ihre Investitur als Vasallen der überlegenen Staatsmacht wandelten sich die bestallten Herren in der Peripherie von [– S.59 –] konsensgebundenen Meinungsführern zu regelrechten Herrschern, wobei sich die Formen der Machtausübung unweigerlich auch in der Peripherie einer staatlichen Organisation näherten.[5] Nicht zuletzt konnte die Großmacht hierfür das entsprechende Know-how in Form von Gelehrten und Verwaltungsbeamten zur Verfügung stellen.
Der damit zugleich importierte Islam traf bei der Bevölkerung der Berge, die den verschiedensten Religionen anhing[6] keineswegs auf spontane Gegenliebe.[7] Militärisch durchgesetzte Zwangsbekehrungen endeten in Aufständen und massenhaftem Abfall von der ungeliebten Religion.[8] Auf Dauer jedoch setzte sich der Islam (in seiner sunnitisch-schafiitischen Schule) durch, so daß die Region, bis auf versprengte heterodoxe Inseln, spätestens im 12. Jahrhundert voll in die den gesamten Orient umspannende islamische Tradition eingebunden war.
Mit aller Entschiedenheit möchte ich hier einer nationalistisch deformierten Sichtweise entgegentreten, die die Annahme des Islams für ein „fremdnationales“ [– S.60 –] Zwangsdiktat und den Islam selbst für einen „Fremdkörper“ in der „kurdischen Kultur“ erklärt.[9] In völliger Unfähigkeit, die Geschichtlichkeit des eigenen Welterklärungsmodells beim Herangehen an weit zurückliegende Zeiten mitzudenken, wird auf die Menschen des 7. Jahrhunderts der heutige, national geprägte Denkhorizont projiziert, so daß auch ihnen der Islam als „schwere[r] Anschlag auf ihre nationale Unabhängigkeit“[10] erschienen sein soll. Im Kern liegt diesem Anachronismus die Auffassung zugrunde, bestimmte Konfessionen seien ihrem Wesen nach national, also die orthodoxe Mehrheitsströmung des Islam, die Sunna, sei „arabisch“, während die schiitische Strömung „persisch“ sei. Da der Islam nicht in Kurdistan geoffenbart und nicht in Kurdisch verkündet wurde, wird unterstellt, daß er „den Kurden“ im Wesen „fremd“ sein mußte.[11] Dieser Kurzschluß ignoriert u.a. die damals herrschende Vorstellung von einer „Wahrheitssprache“.[12] Arabisch galt nicht als Sprache einer Nation, etwa der „Araber“, sondern als die Sprache schlechthin, in der allein Wahrheit über die Welt insgesamt erfahren werden konnte.[13] Religion war tendenziell [– S.61 –] immer weltumspannend, jenseits von (damals noch gar nicht existierenden) nationalen Grenzziehungen.[14] Tatsächlich kann der Siegeszug des Islam bei den nomadischen Bergbewohnern nur damit erklärt werden, daß er existierende Denkmuster und Normen erfolgreich ansprach, zumal er – im Spannungsfeld zwischen Städter- und Nomadentum entstanden – viel vom spezifisch nomadischen Ehrbegriff in sich aufgenommen hat.[15]
Nach diesem notwendigen Exkurs über die Religion soll nun am Beispiel des Aufstiegs und Falls der Dynastie der Marwaniden (herrschte ca. 990-1085 über das Gebiet von Diyarbakır bis zum Van-See) stellvertretend für eine Vielzahl ähnlicher Herrschaften nachgezeichnet werden, wie die Lage im Schnittpunkt der Einflußsphären von jeweils mindestens zwei, in diesem Fall sogar drei Großmächten lokalen Herrschern die Möglichkeit eröffnete, sich durch Schaukelpolitik ein großes Maß an Autonomie zu sichern, gleichzeitig aber auch, wie stark Kurdistan von den Wechselbädern der politischen ‚Großwetterlage‘ beeinflußt wurde – ein Zustand, an dem sich bis heute nichts geändert hat.
Der Wegbereiter der Marwaniden-Dynastie, bekannt unter dem Namen „Bad“ (gest. 990), war vermutlich Chef des Nomadenstammes der „Humaidi“.[16] Die Humaidi beherrschten die Region um die kleine Stadt Erçis nördlich des Van-See und sahen sich von drei Großmächten umgeben: In Urfa herrschten Gouverneure des Byzantinischen Reiches, in Damaskus residierte ein Statthalter des Fatimidenkalifen zu Kairo, während Aleppo und Mosul von der Regentendynastie der „Hamdaniden“ im Auftrage des Kalifen von Bagdad gehalten wurden.
Eine längere Krise der Bagdader Zentralgewalt erlaubte es Bad, seinen Herrschaftsbereich auf Kosten der Hamdaniden zu vergrößern. Er entriß ihnen die Städte Silvan, Diyarbakır, Nisibin und Mosul und ließ seine Stammeskrieger sogar gegen Bagdad marschieren.[17] In einer gemeinsamen Gegenoffensive trieben die vereinigten Kräfte des angegriffenen Vasallen und seines Bagdader [– S.62 –] Oberherrn Bads Armeen bis nach Cizre zurück. Bei diesem Stand arrangierte man sich gütlich. Bad wurde die Herrschaft über Kurdistan vom Van-See bis Diyarbakır und Cizre zugestanden, wofür er im Gegenzug die Oberhoheit Bagdads via Mosul akzeptierte.[18]
Der Vorstoß nach Bagdad zeigt, trotz seines Scheiterns, nur zu deutlich den Charakter der marwanidischen Herrschaft: Es war ein islamisches Reich klassischen Stils; keine nationale Bindung an irgendeinen „heiligen Boden des Vaterlandes“ hemmte die Expansion, tendenziell strebte es nach Weltherrschaft. Es wäre daher ein Irrtum, das Staatswesen Bads und seiner Nachfolger als einen „kurdischen“ Staat zu verstehen.[19] Am Hofe der Marwaniden selbst wurde Arabisch und Persisch gesprochen[20] wie auch das ‚gemeine Volk‘ im marwanidischen Einzugsbereich die verschiedensten Sprachen sprach, unterschiedlichen Religionen angehörte[21] und weit davon entfernt war, eine homogene Bevölkerung von „Kurden“ abzugeben.[22]
Nach 1010 erlebte die Marwaniden-Herrschaft ihre Blütezeit: Es gelang dem dritten Nachfolger Bads, Nasr al-Dawla, gleichzeitig Beziehungen zu Bagdad, Kairo und Byzanz zu etablieren, und von allen drei Mächten mit Titeln belehnt zu werden.[23] Dadurch errang das Fürstentum fast vollständige Autonomie für mehrere Jahrzehnte und vermochte sich zeitweilig bis Urfa auszudehnen.[24] Diese Selbständigkeit hatte ein Ende, als die Zentralautorität in Bagdad unter den neuen seldschukischen Sultanen mächtiger denn je wiederhergestellt wurde. Bereits um 1050 mußten die Marwaniden die Seldschuken als alleinige Herren anerkennen.[25] Allerdings bekamen die Marwaniden den Einbruch der Turkmenen (unter welchen sich eben auch die Seldschuken befanden) in den Mittleren und Nahen Osten schon etliche Zeit vor ihrer Unterwerfung unter Sultan Toğrul zu spüren: in Form plündernder Oghuzen, die sich selbst auf der Flucht befanden und zwischen 1041 und 1042 nicht nur die Region von Diyarbakır [– S.63 –] unsicher machten.[26] Nach der Schlacht von Manzikert (1071) gingen die Gebiete nördlich des Van-See mit der Stadt Ahlat an seldschukische Statthalter verloren[27] und 1084/5 löschte der Sultan auch die verbliebene Restautonomie seines Vasallen aus und unterstellte die Region direkt einem seldschukischen Verwalter.[28]
Wie man jedoch an weiteren Beispielen noch sehen wird, erschöpfte sich das Verhältnis zwischen Vasallen vom Format Nasr al-Dawlas und den jeweiligen Großmächten nicht im reinen Kräftemessen, es war vielmehr ein komplexes Gefüge von wechselseitigem Nutzen und Abhängigkeiten. Auch der Vasall zog – so er die Überlegenheit des Gegenüber einmal hatte anerkennen müssen – aus der Verbindung mit dem mächtigeren Oberherren Nutzen.[29] Durch seine Investitur erhob er sich über alle früheren Kräfteverhältnisse in seinem Bereich. Als Verlängerung der Großmacht konnte er, notfalls von seinem Lehnsherrn militärisch unterstützt, ohne Rücksichten auf ältere Vorrechte alle inneren Gegner beiseite räumen. Die Großmacht umgekehrt erhielt Autorität über ein Gebiet, das sie sonst nur mittels militärischer Besetzung niederhalten, aber nicht regieren konnte. Nahm jedoch die Macht des Oberherrn ab, sank auch der Nutzen für den Vasallen, welcher vernünftigerweise auf Distanz ging und seinen Verpflichtungen weniger bereitwillig nachkam. Zeigte sich die Großmacht auf Dauer unfähig, diese Unbotmäßigkeit zu bestrafen, konnte der Vasall seine stabilisierte Binnenposition ausnutzen und seine Selbständigkeit ausbauen.
Kam das Zentrum jedoch erneut zu Kräften, etwa nach einer Erneuerung auf Grundlage einer ganz anderen Trägergruppe (z.B. Bagdad unter den Seldschuken), sanken die zwischenzeitlich autonom gewordenen Herrschaften der Randzonen bald auf ihren früheren Vasallenstatus zurück, zumal es der Zentralmacht oft gelang, interne Rivalen des mißliebigen Herrschers durch Versprechen der Belehnung auf ihre Seite zu ziehen.[30] Insgesamt scheint das Prosperieren autonomer Herrschaften in der Peripherie ehedem mächtiger, orientalischer Großreiche mehr vom Niedergang des Zentrums als von inneren Entwicklungen [– S.64 –] der Peripherie selbst abzuhängen.[31] Die Art und Weise des Untergangs der Marwanidendynastie durch die Renaissance Bagdads zumindest fügt sich gut zu dieser Annahme.
Allerdings gewann der Großmachteinfluß auf Kurdistan mit dem Einbruch der turkmenischen Nomaden und der Errichtung des Großseldschukischen Reiches im 11. Jahrhundert eine neue Qualität. Gegenüber der eher indirekten Wirkungsweise der arabischen Herrschaft wurde das Auftauchen der neuen Herren in Form der turkmenischen Durchdringung ganz Vorderasiens viel drastischer spürbar.
Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert spülten die gewaltigen Umschichtungsbewegungen in Zentralasien immer neue Wellen turkmenischer Nomaden in den Mittleren Osten und weiter nach Kleinasien. Anatolien wurde in den ersten hundert Jahren nach der Schlacht von Manzikert (1071) von etwa einer Million Nomaden in Besitz genommen.[32] Im Gegensatz zu den Beduinen verfügten diese Neuzuwanderer mit dem baktrischen Kamel über ein Transporttier, das ihnen den Zugang zum Hochland und zu den Bergen öffnete.[33] Als ehemalige Bewohner kalter Steppen suchten sie sogar die kühlen Hochlagen bevorzugt als Dauerlebensraum.[34] Die neuen Herren konnten ihre unmittelbare Herrschaft weit gleichmäßiger ausbreiten[35], zumal sie noch im 11. Jahrhundert die Zuchttechnik der Kreuzung von Dromedar und Kamel so perfektionierten, daß sie überall heimisch werden konnten: im Tiefland ebenso wie im Hochgebirge.[36] Die Ausdehnung der mehr oder weniger unabhängigen Emirate in den Bergen Kurdistans wurde dadurch beschnitten; die seldschukischen atabegs von Diyarbakır, Arbil und vor allem Mosul[37] erweiterten ihre Kontrolle tief nach Kurdistan hinein.[38] Gleichzeitig nahm der Druck zur vollständigen Nomadisierung rapide zu, denn oft bot nur noch die Übernahme der vollnomadischen Lebensweise den Einwohnern einen Ausweg, um den Razzien der allzeit präsenten [– S.65 –] Aggressoren zu entgehen. Erst die turkmenische Durchdringung führte auf diese Weise den Vollnomadismus in Kurdistan ein.[39]
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Fußnoten: