Nationalismus in Kurdistan (1993)
Unter den vielen Turkmenenstämmen, die nach 1071 Anatolien in Besitz nahmen, war auch jener, dessen Führer später die Dynastie der Osmanen begründen sollten. Allerdings war ihr Beitrag zur politischen Geschichte Anatoliens vor 1300 so geringfügig, daß zeitgenössische Chronisten sie keiner Notiz würdigten.[1] Auch Anfang des 14. Jahrhunderts gehörte das beylik der Osmanen zu den kleineren unter den etwa sechszehn turkmenisch-nomadischen Herrschaften, die aus den Trümmern des Rum-Seldschukischen Reiches hervorgegangen waren[2] aber es kam durch permanente Kriegszüge bald zu beachtlicher Größe – auf Kosten seiner muslimischen Nachbarn und des Byzantinischen Reiches.
Obwohl die militärische Macht der Osmanlı[3] anfangs ganz auf vollnomadischen Stammeskriegern beruhte und diese zunächst auch das konstituierende Element des entstehenden Staates darstellten, fand eine Nomadisierung der eroberten Gebiete nicht statt.[4] Es ist wichtig zu sehen, daß die Osmanlı bereits in den ersten Jahrzehnten ihrer Herrschaft einen Bruch mit ihrer nomadischen Herkunft vollzogen.[5] Hierfür gab es gute Gründe: Zum einen war der Boden in ihrem frühesten Herrschaftsgebiet von bester Ackerqualität und gab im Vergleich zur rein nomadisch-viehzüchterischen Nutzung unter seßhafter Kultivierung ein Vielfaches an besteuerbarem Mehrprodukt ab. Zum anderen taugte die leichte Reiterei der Stammeskrieger kaum zur Eroberung der befestigten byzantinischen Städte, dazu brauchte man ein diszipliniertes, in permanentem Training stehendes Berufsheer. An einer Abschaffung des Ackerbaus konnte Sultan Osman und seinen Nachfolgern daher nicht gelegen sein, sie brauchten vielmehr die seßhafte Bauernschaft als zuverlässige Steuerbasis, um ihre Kerntruppe an besoldeten Berufskriegern allmählich ausbauen zu können. Ein [– S.66 –] geregeltes Steuerwesen konnte aber auf Dauer die Konkurrenz, die die Nomaden mit ihren ungezügelten Razzien der staatlichen Ausbeutung machten, nicht hinnehmen.[6] Was daher in den Anfangstagen der Osmanlı noch ein vorsichtiges Lavieren zwischen den Ansprüchen der Nomaden und den Erfordernissen der Herrschaftsfestigung war, schlug um so rascher in eine klare Anti-Nomadenpolitik um, je mehr sich die nomadische Lebensform vom Quell der Staatsmacht zu ihrem größten Hindernis wandelte.
Die Ausformung des spezifisch osmanischen Staatswesens ging so im Laufe des 14. Jahrhunderts einher mit einer fortwährenden Zurückdrängung des nomadisch-tribalen Einflusses[7] durch eine immer effektiver organisierte Zentralmacht, die sich konsequent das Eigentumsrecht an allem Boden sicherte. Die osmanischen Sultane näherten sich damit wieder den Idealen der islamischen Gesellschafttheorie, in der der Souverän als Herr über alle Produktivmittel erscheint, welche er den praktischen Produzenten nur ‚leihweise‘ und gegen Tributzahlung ‚überläßt‘.[8] Richtig entfalten konnte sich diese Konstruktion, daß den Bebauern des Landes wohl der Nutznieß, nicht aber das Eigentum am damals alles entscheidenden Produktionsmittel Boden zukomme, allein auf der Grundlage einer insgesamt schwach entwikelten gesamtgesellschaftlichen Vernetzung. Als Hauptmerkmal der osmanischen Sozialverfassung muß daher die starke Fragmentierung der Gesellschaft in lauter halbautarke Minisysteme – Dorf, Stadtviertel, Handwerksgilde, Nomadenstamm – aufgefaßt werden. Die Zentralgewalt verkehrte immer nur mit dem Oberhaupt des Minisystems, das für Ruhe und Ordnung im Inneren und für Einhaltung der Verpflichtungen nach außen – sprich pünktlicher Ablieferung des Tributs – verantwortlich gemacht wurde. Jedes Gesellschaftsfragment spiegelte seinerseits in Miniatur die Gesamtgesellschaft, d.h. es umfaßte sowohl Herrschende wie Beherrschte, deren Beziehungen zueinander von personalen Abhängigkeiten bestimmt waren.
Den Zustand der gesellschaftlichen Fragmentierung schrieben die Osmanen nach mehreren Richtungen hin fest: in räumlicher Hinsicht mit der Verhinderung der Freizügigkeit vor allem für die Bauern im Rahmen des timar-Systems und in kultureller Hinsicht mit der Segregationspolitik durch Bildung der millets. Diese – sogleich noch zu erläuternde – Neuordnung des gesellschaftlichen Kosmos ging einher mit der Einsetzung einer Vielzahl von Sub-Herrschern, die Legitimität allein aus ihrer Verbindung zum osmanischen Großherrn ziehen konnten. Nach der Eroberung von Byzanz sorgte der Sultan beispielsweise für die Neuwahl eines orthodoxen Patriarchen und machte ihn zum [– S.67 –] Sub-Herrscher über seine christlichen Untertanen. Als Vasall des Sultans erlangte der Patriarch Vollmachten über das neugeschaffene millet, wie er sie früher aus eigener Kraft nicht besessen hatte.[9] Denn obwohl die (Zwangs-)Zugehörigkeit nach Religion bestimmt wurde, war das osmanische millet weit mehr als eine bloße Religionsgemeinschaft[10] umfaßte seine Zuständigkeit doch so wichtige wirtschaftliche und soziale Sphären wie Ehe, Erbe, Bildung, Sozialfürsorge, weite Bereiche der Rechtsprechung, teilweise auch Steuererhebung.[11] Das millet-Modell wurde auf alle Religionsgruppen (einschließlich der Muslime)[12] ausgedehnt und sorgte für eine wechselseitige Abschottung der Kulturen.
Die Institution des zuvor schon genannten timars diente der Versorgung jeweils eines militärdienstpflichtigen Staatsfunktionärs, dem sipahi. Im Gegensatz zu seinen europäisch-feudalen Kollegen hatte der sipahi über die ihm unterstellten Dörfler keine Verfügungsgewalt, vor allem durfte er nicht über sie Recht sprechen.[13] Die Rechtssprechung oblag einem anderen Funktionärstyp, dem kadı („Richter“), der nebenbei sozusagen als „Auge und Ohr“ des Sultans auch das Amtsgebahren der sipahi in seinem kaza („Gerichtsbezirk“) überwachte.[14] Der sipahi übernahm nur die Einforderung des Tributs und hatte ansonsten Abwanderung oder andere Formen der Arbeitsverweigerung der Bauern zu verhindern. Neben seinem militärischen Dienst bestand seine wesentliche Aufgabe also darin, eine kontinuierliche Bewirtschaftung des Bodens zu garantieren; in der Praxis kam dies für die Bauern einer Fesselung an die Scholle gleich.[15] Die kleinbäuerliche Dorfgemeinschaft blieb so auf Jahrhunderte die prägende Sozialeinheit auf dem Lande. Die Städte ihrerseits wurden nicht anders organisiert: Jeder Gilde wurde ein kethüda vorgestellt, jedes millet hatte ein separates Quartier mit eigenem Vorstand. Die Städte waren folglich eher lose Zusammenballungen von in sich abgeschlossenen sozialen Verbänden, sie bildeten nur begrenzt ein soziales Ganzes.[16] [– S.68 –] Die osmanischen Städte darf man sich d aher nicht – wie in Europa – als Heimstatt politisch autonomer Bürger-Produzenten vorstellen, sie waren zuallererst Macht- und Organisationszentren im Rahmen des Tributverwaltungssystems. Die Handwerkergilden blieben unter der straffen Aufsicht der Staatsgewalt, sie wurden nicht anders behandelt als die bäuerlichen Dorfgemeinschaften[17] und bildeten letztlich nur ein weiteres Fragment des allgemeinen Gesellschafts„mosaiks“.[18] Auch das Handels- und Marktwesen versuchten die Osmanen auf den einen Zweck auszurichten: die Zuleitung der Tributströme auf die Hauptstadt, auf die Schatztruhen der Pforte.[19] Ein minutiös reglementiertes System von Lizenzen, Zwangsverpflichtungen, Festpreisen und Konzessionsabgaben hielt die Akkumulationsmöglichkeiten der kleinen Händler, die die lokale Vermittlung von ländlichen Agrarprodukten gegen städtische Handwerkserzeugnisse übernahmen, in engen Grenzen.[20] Ebenso erging es dem Handwerk, das durch die Gildenorganisation so kontrolliert wurde, daß eine Kapitalakkumulation unmöglich blieb.[21]
Anders stand es allein um die großen internationalen Handelsmakler, die praktisch unbegrenzt Reichtum anhäufen durften. Da die erlesene Gruppe der Fernhandelslizenzhalter jedoch selbst zum Dunstkreis der Palastbürokratie gehörte[22] und es schon aufgrund der Personaleinheit keinen ernstlichen Interessengegensatz zwischen Zentralmacht und städtischen Kapitalfraktionen gab, spielten die Honoratioren der osmanischen Städte lange Zeit keine politisch selbständige Rolle. Erst Ende des 17. Jahrhunderts nahm ihre Macht in Folge eines Patts im Kampf zwischen Zentralgewalt und Provinzgouverneuren so zu, daß sie [– S.69 –] während des 18. Jahrhunderts unter der Bezeichnung ayan entscheidenden Einfluß gewinnen konnten.
Um die Frage, ob die Gesellschaftsformation des Osmanischen Reiches einen Spezialfall von „Feudalismus“ darstellt oder besser mit dem Begriff „Asiatische Produktionsweise“ (APW) beschrieben werden sollte, ist eine ausufernde und unergiebige Debatte entbrannt.[23] Manchen Autoren scheint es in ihrer Behandlung des Osmanischen Reiches ausschließlich um die Verteidigung des einen oder anderen Konzeptes zu gehen.[24] Obwohl die Argumente der Vertreter der APW mehr überzeugen, fehlt auch hier ein entscheidendes Moment, das mir für die Beschreibung der inneren Dynamik des Osmanischen Reiches unverzichtbar erscheint, nämlich die Notwendigkeit der permanenten Einverleibung neuer Revenuequellen durch Krieg, um das System stabil zu erhalten. Soweit ich das Konzept der APW verstanden habe, soll es bedeuten, daß das Mehrprodukt grundsätzlich subsistenzorientierter Produzenten zentral angeeignet und über zentrale Direktiven innerhalb einer Klasse von Staatsfunktionären umverteilt und verzehrt wird. Diese Balance von autonomer Produktion und rigider Distributionskontrolle durch gleichmäßige Unterordnung aller Produzenten und Staatsagenten unter die Zwecke der Zentralgewalt bildete jedoch nur einen Strang der osmanischen Staatslogik.
Das Mehrprodukt, das die Subsistenzwirtschaft abzuwerfen vermochte, war zur Aufrechterhaltung eines Weltreiches allein zu zerbrechlich; jede Mißernte, jede kleine Empörung, jede Epidemie vernichtete das regionale Surplus und saugte möglicherweise noch zusätzlich Surplus aus anderen Regionen ab, denn um seinen Herrschaftsanspruch zu behaupten, mußte der Sultan Hilfe entsenden – sei es als Militärexpedition, um den bedrängten Provinzgouverneur zu unterstützen, sei es als Nahrungsmittellieferung, um die Rolle als väterlicher Beschützer seiner Untertanen zu wahren. Neben der staatlichen Abschöpfung der Subsistenzproduktion muß daher die militärische Revenuebeschaffung im Eroberungskrieg als das zweite Standbein des Osmanischen Reiches angesehen werden. Nicht zufällig war militärische Expansion von Anfang an Grundbestandteil des osmanischen Staatswesens.[25] Nur die permanente Zuführung [– S.70 –] fremden Mehrproduktes hielt das System bis zur großen Krise zwischen 1598 und 1610 in Gang.[26]
Zudem erhielt der Erfolg der Expansion die Einheit innerhalb der herrschenden Militärklasse. Die Kooperation der vielen regionalen und lokalen Staatsfunktionäre – vom beylerbeyi („Provinzstatthalter“, häufig auch: vali) bis zum kleinen sipahi – mit der großherrlichen Zentrale war gebunden an die Macht des Sultans, Revenuen zu verteilen und gegebenenfalls Veruntreuungen zu bestrafen. Solange der Erfolg der zentral gesteuerten Militärmaschine anhielt, konnte der einzelne Funktionär nur in ihrem Kielwasser seinen Bereicherungs- und Machtinteressen nachgehen. Bis zum sogenannten ‚15jährigen Krieg‘ (1593-1606)[27] gegen Österreich zeichnete sich daher das osmanische System durch einen rigiden und mehr oder weniger effektiven Zentralismus aus. Man muß sich allerdings immer vor Augen halten, daß noch der desolateste bürgerliche Staat des 20. Jahrhunderts einen unvergleichlich direkteren und effektiveren Zugriff auf seine einzelnen Untertanen hat als das Osmanische Reich selbst auf dem Höhepunkt der sultanlichen Machtvollkommenheit. Die scheinbare ‚Stärke‘ der osmanischen zentralen Staatsgewalt darf nicht darüber wegtäuschen, daß sich der größte Teil aller gesellschaftlichen Verrichtungen gänzlich dem Zugriff des Staates entzog.[28]
Nachdem so das osmanische Modell einer seßhaften Staatsbürokratie kurz umrissen wurde, muß nun
die östliche Alternative erörtert werden. Ich werde dabei vor allem die nomadischen Reichsgründungen der Kara-Koyunlu und der
Ak-Koyunlu in den Vordergrund stellen, da sich bei diesen die Dynamik tribaler Politik hervorragend studieren läßt. Zudem sind die
Safaviden, als die späteren eigentlichen Antagonisten der Osmanen, letztlich nur als Erben der Ak-Koyunlu richtig zu verstehen. Um die
Ursprünge der Macht sowohl der Kara-Koyunlu als auch ihrer Rivalen, der Ak-Koyunlu, zu begreifen, bedarf es zunächst einer zeitlichen
Rückblende um mehrere Jahrhunderte.
[– S.71 –]
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