Nationalismus in Kurdistan (1993)
Seit den Tagen der Erneuerung des Bagdader Kalifats durch die Seldschuken erlitten die islamischen Kernlande immer neue Zyklen von Reichsgründungen auf der Basis nomadischer Kriegerstämme, zwischenzeitlicher Verstädterung und Konsolidierung der Staatsmacht und anschließenden Zerfalls, begleitet vom Zustrom weiterer Nomaden.[1] Die Seldschuken-Herrscher hatten sich zunächst erfolgreich der voranschreitenden Nomadisierung des iranischen Plateaus entgegengestemmt, denn auch für sie galt, daß eine starke Zentralgewalt auf Dauer seßhafte Steuerzahler braucht und keine eigenmächtigen Nomaden.[2] Ganz wie die späteren Osmanen forcierten die Seldschuken-Sultane den Ausbau einer stammesunabhängigen Militärmacht auf Soldbasis[3] und unterwarfen damit ihre ehemaligen Kampfgefährten, um sie entweder in die Peripherie (nach Anatolien) abzudrängen[4] oder aber zur Seßhaftigkeit zu zwingen.
Mit dem Tod des letzten Seldschuken-Sultans (1157) erlosch jedoch für gut einhundert Jahre jede Kraft, die die Landnahme der weiterhin aus der zentralasiatischen Steppe einwandernden turkmenischen Nomaden hätte bremsen können. Der westliche Teil des Reiches zerfiel sogar noch unter der nominellen Hoheit der Seldschuken in einen Flickenteppich rivalisierender lokaler und regionaler Dynastien.[5] Der östliche Teil seinerseits wurde zum Streitapfel vergleichsweise beachtlicher Mächte, die sich jedoch im Gerangel um die Vorherrschaft gegenseitig blockierten. Hier mischte auch das wiederauferstandene Kalifat zu Bagdad mit, das bis zu seiner endgültigen Zerschlagung durch den ersten mongolischen Il-Khan Hülegü (1258) nicht unbeträchtlichen Einfluß ausübte.[6]
Die Verdrängung der Seßhaftigkeit durch die weidesuchenden Turkmenen [– S.72 –] schritt derweil, bei all ihrer Unkoordiniertheit und Planlosigkeit, zäh aber unaufhaltsam voran. Der letzte große Turkmenenschub wurde Mitte des 13. Jahrhunderts seinerseits von den mongolischen Eroberern vor sich hergetrieben. Für Kurdistan bedeutete dieser sogenannte „Mongolensturm“ die Brandschatzung und Ausplünderung aller bedeutenderen Städte wie Diyarbakır, Cizre und Mardin.[7] Nur Mosul blieb durch rechtzeitige Unterwerfung zunächst verschont[8] wurde aber 1261/2 ebenfalls verwüstet und die Einwohnerschaft abgeschlachtet.[9] Die mobileren Bewohner der Berge Kurdistans litten hingegen weniger unter den direkten Folgen der mongolischen Eroberung als unter dem dadurch ausgelösten Zustrom an vertriebenen Turkmenen, die von Aserbaidschan bis Anatolien neue Weidegründe suchten.[10]
Einige Autoren meinen, daß auch die Turkmenenstämme der Ak-Koyunlu (zu deutsch ungefähr: „die mit dem Weißen Hammel“) und der Kara-Koyunlu („die mit dem Schwarzen Hammel“) auf der Flucht vor den Mongolen nach Kurdistan kamen.[11] Dafür spricht, daß diese Namen erst für das 14. Jahrhundert dokumentiert sind.[12] Man kann sich das aber auch so erklären, daß verschiedene Turkmenenstämme, die zum Teil schon seit dem 11. Jahrhundert in der Region präsent waren, andernteils erst auf der Flucht vor den Mongolen dort eintrafen, sich im 14. Jahrhundert zu großen Konföderationen zusammenschlossen, die dann als Ak-Koyunlu und Kara-Koyunlu bekannt wurden.[13] Dies einmal als wahr unterstellt, ergibt sich eine neue Deutungsmöglichkeit der Namen Ak-Koyunlu und Kara-Koyunlu: Vielleicht handelt es sich – statt um zufällige Namensähnlichkeit – um den symbolischen Ausdruck zweier konkurrierender Versuche, die regionale turkmenische Vorherrschaft unter einer Dynastie zusammenzufassen.[14] Im übrigen ist ein Hang zur bi-polaren Segmentierung – ob „Schwarz/Weiß“, „links/rechts“ oder „Ost/West“ – nicht untypisch für das nomadische Sozialdenken[15], bezeichnenderweise setzte sich zum Beispiel die [– S.73 –] Ak-Koyunlu-Konföderation ihrerseits aus einem „linken“ und einem „rechten“ Flügel zusammen.[16]
Beide, Ak-Koyunlu wie auch Kara-Koyunlu, hatten ihr Winterquartier im Flachland westlich von Mosul, ihre Sommerweiden allerdings lagen weiter auseinander, erstere rissen ein Berggebiet im Raume Muş an sich, letztere eines östlich des Van-Sees.[17] Die auf den betroffenen Weidegründen zweifellos vorhandenen Vornutzer sahen sich angesichts der turkmenischen Übermacht vor die Alternative gestellt, entweder andernorts Zuflucht zu suchen oder aber die Viehzucht aufzugeben, da in den Bergen Kurdistans und Armeniens Viehhaltung in nennenswertem Umfang ohne sommerliche Wanderung auf die Bergalmen unmöglich war und ist. Ausharren bedeutete aber zu abhängigen Hintersassen der Turkmenen herabzusinken. Besonders schwer betroffen waren die in Süd-Kurdistan heimischen Stämme: Von Arbil bis zum Südende des Urmia-Sees okkupierten mongolisch/turkmenische Nomadenstämme die vorhandenen Weidegründe. Sie stellten auch die Militärmacht der mongolischen Emire dar, die Arbil, Cizre, Diyarbakır, Çölemerik und Mardin im Namen der Il-Khane beherrschten.[18] Umgekehrt eröffneten die nach Armenien ausgreifenden Eroberungszüge der Mongolen den vertriebenen und weidesuchenden Stämmen neue Freiräume, indem sie die dortige zumeist christliche, seßhafte Einwohnerschaft dezimierten.[19] Das Weide- und Wandergebiet des tribalen Sektors der kurdischen Gesellschaft verlagerte sich so bis Ende des 14. Jahrhundert weiter nach Norden und Westen, d.h. nach Armenien hinein.[20] [– S.74 –]
Das Reich der Il-Khane indessen erreichte nie das Maß an staatlicher Machtfülle, welches die verstädterte Seldschukenelite befähigt hatte, sich des nomadischen Unruhepotentials zu entledigen. Zum einen kam ihre Expansion – und damit die für den Etat nomadischer Reiche so wichtige Aneignung von Kriegsbeute – schon 2 1/2 Jahre nach der Einnahme Bagdads zum Erliegen.[21] Zum anderen hatte das radikale Vorgehen der Eroberer gegen die seßhafte Bevölkerung der Region deren ökonomische Basis – nämlich den Ackerbau – in verheerendem Maße beschädigt.[22] Vor allem unternahm man nichts, um den fortschreitenden Verfall der verzweigten Bewässerungskanäle aufzuhalten, weil sie die Wanderung der Viehherden der neuen Herren behinderten. Da die Besteuerung der mobilen und militärisch potenten Nomaden schwierig und wenig erfolgversprechend war, blieb die Bauernschaft, selbst in ihrem dezimierten Zustand, auch für die Il-Khane letztlich die einzig zuverlässige Revenuequelle – mit dem Resultat, daß ihre Gesamteinkünfte gegenüber den Steuereinnahmen der Vorgänger auf etwa ein Fünftel zusammenschrumpften.[23]
Die Erben Hülegüs bekamen dieses strukturelle Defizit nie in den Griff[24], und nach dem Tode seines letzten Nachfolgers (1335) zerfiel das Il-Khanreich im Thronfolgekampf der Mongolengeneräle.[25] Ostanatolien, Armenien sowie ein [– S.75 –] Teil Kurdistans entglitten als erste der Kontrolle: Hier tat sich bis zum Ende des Jahrhunderts ein Machtvakuum auf, das aufstrebende warlords förmlich anzog. Die Ak-Koyunlu waren mit von der Partie, anfangs als militärische Verstärkung verschiedener Prätendenten, später auch auf eigene Faust. Ende der 80er Jahre des 14. Jahrhunderts hatten sie mit den Orten Palu, Kiği und Ergani die feste Kontrolle über ihre Sommerwanderungsroute ins armenische Hochland gewonnen.[26]
Bagdad, und damit auch Mosul samt Teilen Kurdistans, war um 1340 in die Hände eines mongolischen Großen gefallen, der sich auf die Kraft des mongolischen Nomadenstammes der „Jalair“ stützen konnte.[27] Ebensowenig jedoch wie diese Jalair verhindern konnten, daß sich in einigen Städten Kurdistans lokale Dynastien etablierten[28] konnten sie auf Dauer die Expansion ihrer turkmenischen Vasallen, der Kara-Koyunlu, unterbinden.[29] Nach vielen vergeblichen Anstürmen fiel Mosul 1375 endgültig in deren Hände, und als die Mongolenheere Timur-Lengs 1386 ihren ersten Einfall nach West-Persien unternahmen, beherrschten die Kara-Koyunlu schon die ganze Region bis Erzurum.[30] Obwohl die Kara-Koyunlu also bereits eine beachtliche regionale Macht darstellten, half ihnen gegen einen Timur-Leng nur die Flucht in die Berge.[31]
Der Vormarsch seiner Armeen hinterließ eine Schneise der Vernichtung und des Todes.[32] Hatten schon die Mongolen Hülegüs bei ihren Eroberungen wenig Rücksicht auf die seßhafte Einwohnerschaft genommen, übertrafen Timurs Leute alles: Sie kannten nur die Revenuebeschaffung durch Tötung der Besitzer des erstrebten Reichtums. Wenn es heißt, Muş wurde 1386 „von Timur heimgesucht“[33] Diyarbakır und Mardin 1394 „eingenommen“[34] dann bedeutete das praktisch die Vernichtung dieser Städte. 1395 starben die Einwohner von [– S.76 –] Nisibin[35], geschont wurde allein Mosul, wahrscheinlich aus einer spontanen Anwandlung von Religiosität des Feldherrn.[36] Ein Versuch zur Errichtung einer regelmässigen Steuereintreibung wurde gar nicht erst unternommen: Timur ließ bloß allen greifbaren, beweglichen Reichtum aus dem gerade eroberten Abschnitt ins Zentrum seines Reiches transferieren und teilte das Land anschließend einem Mitglied seines Klans zur weiteren Plünderung zu.[37]
Daß Timurs „Reich“ nach seinem Tode (1405) auseinanderfiel, kann angesichts seiner losen Struktur kaum verwundern, bemerkenswert ist schon eher, daß es einem der Söhne Timurs, Schah-Rukh, gelang, den Mittel- und Ostteil des Reiches unter seiner Hoheit nicht nur politisch wieder zu vereinigen, sondern dort auch den seßhaften Ackerbau wieder etwas zu stabilisieren.[38] Allerdings brauchte Schah-Rukh für die Festigung seines Rumpfreiches fast fünfzehn Jahre; als er sich anschließend der Wiedereingliederung des Westteils widmen konnte, hatten die Turkmenen dort längst vollendete Tatsachen geschaffen. Timurs Eroberungszüge von Aserbaidschan bis Anatolien sowie von Georgien bis Syrien hatten dort nämlich vor allem eines bewirkt: Die Zerschlagung jeglicher Macht, die groß genug gewesen wäre, um Timurs Hegemonie zu bedrohen. Mit dem Kollaps seines Reiches gab es daher in der Region niemanden mehr, der es an Kampfstärke mit den aus den Bergen zurückkehrenden Turkmenen hätte aufnehmen können. Insbesondere die Ak-Koyunlu konnten bei Timurs Tod von einer festen Machtbasis aus in den anstehenden Verteilungskampf ziehen, hatten sie sich ihm doch 1399 unterworfen[39] und für ihre Dienste im Syrienfeldzug die Provinz Diyarbakır (die damals Urfa und Mardin einschloß) als Lehen erhalten.[40] Die Kara-Koyunlu hingegen mußten – nach zweimaligem Aufbegehren gnadenlos verfolgt – zu Lebzeiten Timurs das tun, was im Englischen so schön “to keep a low profile” heißt. Nach 1405 aber waren auch sie wieder mit neuen Kräften zur Stelle. In blutigen Kämpfen bildete sich alsbald eine Aufteilung der Interessensphären heraus: Die Ak-Koyunlu expandierten vorrangig nach Anatolien und Syrien, die Kara-Koyunlu nach [– S.77 –] Aserbaidschan und dem Irak. Eine stabile Vorherrschaft über Armenien und Kurdistan konnte hingegen keine der beiden Konföderationen erringen.[41]
Die auf Minorsky zurückgehende Darstellung[42] es sei vor allem der radikal schiitische Glaubenseifer der Kara-Koyunlu gewesen, der sie zur Konfrontation mit den sunnitischen Ak-Koyunlu getrieben habe, ist heute so nicht mehr haltbar.[43] Die Unterschiede zwischen den sunnitischen und schiitischen Glaubensfraktionen waren damals keineswegs so klar wie in früheren oder späteren Jahrhunderten, vielmehr waren sie eher fließend.[44] ‚Schiitische‘ Ansichten waren mit der gewöhnlichen sunnitischen Volksfrömmigkeit durchaus vereinbar. Zudem neigten die Turkmenen insgesamt stark den sufi-Bruderschaften zu, die keiner der beiden Schulen eindeutig zuzuordnen waren.
Überhaupt darf man sich Kara-Koyunlu und Ak-Koyunlu nicht als zwei scharf von einander abgegrenzte, kohärente Blöcke vorstellen, wie es insgesamt unsinnig ist, Nomadenstämme allein in den statischen Begriffen von Blutsverwandtschaft zu sehen. Stämme sind – wie bereits erörtert – primär politische Interessengemeinschaften und von daher ‚flüssige‘ Sozialgebilde.[45] Daher konnten Stämme, die gestern noch den Kara-Koyunlu zugetan waren, heute durchaus auf der Seite der Ak-Koyunlu kämpfen und umgekehrt.[46]
Die von ihnen gegründeten Herrschaften litten zudem unter einem gemeinsamen Grundübel: Je mehr Gebiete im Zuge der Reichsgründung erobert wurden, desto mehr Statthalter mußte der siegreiche Führer benennen, die seine [– S.78 –] Sache vor Ort vertreten sollten. Die hierzu notwendige militärische Schlagkraft brachten die Statthalter entweder selbst auf (wenn es sich um Führer einzelner Teilstämme der Konföderation handelte) oder aber der Herrscher mußte ihnen das Kommando über Teile des Reichheeres erteilen. So oder so: Nach der unvermeidlichen Heimkehr der Hauptstreitmacht zu ihrem Stammsitz verblieb vor Ort alle Gewalt in Händen des Statthalters, der sie jederzeit dazu nutzen konnte, sich selbständig zu machen oder einen anderen Oberherrn anzunehmen.[47] So entstand kein einheitlicher Staat, sondern mehr ein loser Haufen von tributpflichtigen Teilstaaten.
Diese strukturelle Schwäche beider Turkmenenreiche drückte sich auch in der Institution des suyurghal aus, einer Art ‚Lehens‘form, die zuerst im 14. Jahrhundert unter den Nachfolgern der Il-Khane aufgetaucht war. Mit einem suyurghal trat der Herrscher einen bestimmten Teil seiner Herrschaft an einen seiner Gefolgsleute ab. Das suyurghal erlaubte seinem Inhaber nicht nur die dortigen Steuererträge zu verzehren, sondern verlieh ihm darüberhinaus Steuerbefreiung und rechtliche Immunität, so daß er unumschränkter Herr auf seinem Besitz war.[48] Mit jeder Gewährung eines suyurghal verkleinerte der Herrscher folglich sein Reich, verringerte sich die ihm zur Verfügung stehende Revenuenmenge – um so mehr als der Titel in aller Regel erblich war.[49] Letztlich stellten auch die prinzlichen Gouverneurstitel, die der Herrscher an seine Familienmitglieder oder andere hohen Stammesführer austeilte, einfach gigantische suyurghal dar.[50]
Da zudem der seßhafte Sektor der Bevölkerung durch die endlosen Invasionen ausgeblutet war, hingegen der jeder zentralstaatlichen Entwicklung abholde nomadische Sektor durch einen dauerhaften Rückstrom von Turkmenen aus dem [– S.79 –] für sie ungastlich gewordenen osmanischen Anatolien immer weiter gestärkt wurde[51], kann es nicht verwundern, daß auch das zur Mitte des 15. Jahrhunderts von beiden wesentlich mächtigere Staatswesen des Kara-Koyunlu-Schahs außerstande war, sich zur einer Zentralgewalt nach Art der Osmanen zu festigen.[52]
Gegenüber den sehr selbständigen Vasallen in Kurdistan und Armenien erlaubte der rudimentäre Staatsapparat kaum mehr als periodische Erpressung von Tributzahlungen, selbst wenn seine Einflußsphäre sich nominell bis Bitlis, Siirt und Hasankeyf (alle süd-westlich des Van-Sees) erstreckte.[53] Zwar konnten die Kara-Koyunlu aufgrund ihrer überlegenen Militärmacht empfindliche Schläge austeilen[54] aber sie konnten die Region nicht dauerhaft unterwerfen und selbständig ausbeuten. Insbesondere der Emir von Bitlis scheint lange Zeit eher ein gleichwertiger Bündnispartner denn ein Vasall gewesen zu sein.[55] In größerem Maßstab wiederholte sich dieses Problem im Verhältnis zwischen Kara-Koyunlu und dem Timurnachfolger Schah-Rukh: Trotz vieler gewonnener Schlachten konnte letzterer die Kara-Koyunlu nicht dauerhaft beiseite drängen. Schah-Rukh beschied sich daher letztlich damit, ambitionierte Kara-Koyunlu-Prinzen beim Sturz des unbotmäßigen Schahs zu unterstützen, um so den Gegner zu spalten und etwas kompromißbereitere Vasallen zu erhalten. Auf diese Weise kam Cihan Schah 1439 – zunächst nur in Täbris – an die Macht.[56] In den fast 30 Jahren seiner Herrschaft dehnte sich das Reich der Kara-Koyunlu erheblich aus. 1445 okkupierte Cihan Schah Bagdad, wo Schah-Rukh 1435 einen anderen Zweig des Kara-Koyunlu-Klans eingesetzt hatte, und gewann so die Kontrolle über den Irak. Im Chaos der Thronfolgekämpfe, die nach Schah-Rukhs Tod (1447) entbrannten, konnte er sich darüber hinaus ganz Westpersien aneignen.[57] Gleichzeitig ging Cihan Schah daran, die aufkommende innere Opposition des Safaviden-Ordens zu unterdrücken. Da dieser Orden die Keimzelle des später nach ihm benannten Reiches in Persien darstellt, soll hier kurz auf seine Geschichte eingegangen werden.
Die in ihrer Frühzeit sunnitisch-orthodoxe und wenig volkstümliche Bruderschaft [– S.80 –] der Safaviden war gegen Ende des 13. Jahrhunderts um die Schule des hochangesehenen Mystikers und Heiligen Safi ad-Din in der Stadt Ardabil entstanden. Zur Unterhaltung des Heiligtums verlieh Timur-Leng den Nachfolgern Safi ad-Dins das Recht auf die Einkünfte ganz Ardabils samt Umland.[58] Die Safaviden-sheikhs stiegen so zu machtvollen weltlichen Herrschern auf.[59] In Täbris allerdings wurde ihr wachsender Einfluß nicht gern gesehen, und so ließ Cihan Schah 1448 den gar zu ehrgeizigen Ordensmeister Cuneid aus Ardabil vertreiben.[60]
In den Jahren seines Exils predigte Cuneid mit wachsendem Erfolg seine heterodoxe Auslegung des Islam bei den Turkmenenstämmen Anatoliens und Syriens.[61] Er starb 1460 bei dem Versuch, mit einem Raubzug gegen die christlichen Tscherkessen jenseits des Kaukasus den cihad (Glaubenskrieg) wieder aufleben zu lassen.[62] Trotz des Scheiterns dieser Expedition festigte sie das militante Ansehen der Safaviden bei ihren turkmenischen Verehrern. Die steppenbrandartige Verbreitung der Bruderschaft über Anatolien, Kurdistan und Aserbaidschan ging einher mit einer Anpassung an die Glaubensbedürfnisse ihrer einfachen, kızılbaş genannten Anhänger, so daß immer mehr Elemente vorislamischen, schamanistischen Volksglaubens Eingang fanden.[63] „Schiitisch“ im Sinne der Hochtheologie kann man die kızılbaş daher kaum nennen[64] es dominierte eher die persönliche Verehrung wundertätiger Heiliger, die teilweise messianische Züge annahm.
Die eigentliche Hochzeit der Safaviden sollte jedoch erst vierzig Jahre später kommen; bei Cuneids Tod stand sein Erzfeind Cihan Schah gerade erst auf dem Höhepunkt der Macht: 1458 hatte der Timuride Abu Said vertraglich dem Verlust Westpersiens zustimmen müssen, wofür Cihan Schah sich fürderhin wieder als dessen Vasall bekannte.[65] Im Westen allerdings waren die Ak-Koyunlu unter Uzun Hasan angetreten, Kurdistan den Kara-Koyunlu streitig zu machen: 1462 [– S.81 –] eroberten sie Hasankeyf[66] ein damals nicht unbedeutendes Handelszentrum, auf halber Strecke zwischen Diyarbakır und Cizre gelegen.
1467 holte Cihan Schah mit einer zahlenmäßigen Übermacht zum Vernichtungsschlag gegen Uzun Hasan aus. Unmittelbar bevor es jedoch zur offenen Schlacht kam, gelang es Uzun Hasan, mit einer Blitzattacke seinen Widersacher vom Troß zu trennen und samt seiner Söhne zu töten. Das plötzlich führerlose Kara-Koyunlu-Heer zerstreute sich daraufhin[67] und etliche Gefolgsleute des unterlegenen Cihan Schah wechselten auf die Seite des Siegers über.[68] Als ein Jahr später die Ak-Koyunlu auch das letzte Aufgebot des Nachfolgers Cihan Schahs schlugen, löste sich die unterlegene Konföderation praktisch in der Ak-Koyunlu-Allianz auf.[69]
Abu Said, nomineller Oberherr des Cihan Schah, wollte das Erstarken seines neuen Gegners im Westen nicht abwarten und nahm begierig den Hilferuf des letzten Sohns Cihan Schahs auf. Im Bemühen, jeder Auffrischung des Ak-Koyunlu-Heeres zuvorzukommen, überstürzte er jedoch die Vorbereitungen seines Feldzuges. Nur so ist zu erklären, daß Uzun Hasans vergleichsweise kleines [– S.82 –] Heer abermals gegen eine militärisch überlegene Macht den Sieg davontrug.[70] Innerhalb von nur zwei Jahren erweiterten die Ak-Koyunlu so ihr provinzielles Nomadenreich zu einem Imperium, das ganz Persien, den Irak, Aserbaidschan und Georgien einschloß.
Damit entstand auch für Kurdistan eine neue Situation: Bislang in der umstrittenen Peripherie zwischen Ak-Koyunlu und Kara-Koyunlu gelegen, bildete es nun eine Insel der Unbotmäßigkeit im Herzen Uzun Hasans Reiches, lag es doch wie ein Sperriegel zwischen dem alten und dem neuen Zentrum des Reiches, also zwischen Diyarbakır und Täbris. Die mit erheblichem Aufwand betriebene Eroberung von Siirt, Bitlis, Çölemerik und Cizre mag daher Uzun Hasan als eine notwendige Maßnahme zur Absicherung seines Reiches erschienen sein.[71] Gewiß spielte auch das Motiv der Bestrafung der dortigen Lokalfürsten für ihre Liaison mit Cihan Schah eine Rolle.[72]
Statt jedoch anschließend fügsamere Kandidaten aus der örtlichen Elite als neue Vasallen einzusetzen, begannen die Ak-Koyunlu damit, unterschiedslos alle Mitglieder der eingesessenen Herrscherklans auszurotten[73], was die militärisch unverändert potente tribale Elite der kurdischen Gesellschaft in entschiedene Gegnerschaft treiben mußte. Da solch eine Politik die – zuvor durchaus noch denkbare – Integration dieser Stämme in die Ak-Koyunlu-Konföderation ausschloß, verurteilte sie die Einverleibung Kurdistans letztlich zum Scheitern.[74] Zwar war keiner der betroffenen Stämme der gesammelten Konföderationsstreitmacht der Ak-Koyunlu gewachsen, aber da es bei der Eroberung Kurdistans nicht um eine nomadische Landnahme ging, sondern lediglich um die Absicherung einer von vielen Provinzen eines riesigen Reiches, konnte das Ak-Koyunlu-Heer nicht ständig in Kurdistan stehen. In der Praxis bestand die Herrschaft der Ak-Koyunlu darin, daß in allen größeren Städte turkmenische Machthaber mit ihren Leibgarden residierten, im Notfalle verstärkt um die Kämpfer jener Konföderierten, deren Weidegründe in der Nähe lagen. Daß dies nicht ausreichte, um die militanten Bergstämme der Region niederzuhalten, beweist [– S.83 –] weist die Häufigkeit, mit der die Entsendung größerer Teile des Reichsheeres zu Strafexpeditionen nach Kurdistan notwendig wurde.
Die von Uzun Hasan in Kurdistan eingeschlagene Politik hätte – um erfolgreich sein zu können – einen ganz anderen Reichsaufbau erfordert. Vor allem hätte es eines großen, stehenden Heeres bedurft, dessen Loyalität zum Herrscher außer Frage stand. An die Aufstellung eines solchen enttribalisierten Heeres konnte Uzun Hasan jedoch ebensowenig denken wie seine Nachfolger[75] da das tribale Organisationsprinzip beim Übergang vom bloß regional bedeutsamen Stammesfürstentum zum großmächtigen Reich nicht wirklich gebrochen werden konnte, wovon das Ausufern der Institution des suyurghals ein deutlicher Ausdruck war. Es trifft daher sicherlich zu, wenn Fragner anmerkt:
„[...] ein jeder Versuch, ein Großreich aufzubauen, mußte sich gegen die großen suyurghal-Eigner richten, erforderte solch ein Versuch doch notwendig die Zentralisierung von Macht und Verwaltung.“[76] (meine Übersetzung, engl. Original)
Man darf allerdings die rechtliche Form nicht als die Ursache des Problems verstehen[77] nicht die Möglichkeiten, die das suyurghal bot, stimulierten die zentrifugalen Kräfte, sondern umgekehrt beweist das Ausufern des suyurghal-Wesens unter den Ak-Koyunlu, daß die zentrifugalen Kräfte der tribalen Führungsclans auch während der imperialen Phase des Herrscherhauses so stark waren, daß sie eine legale Sanktionierung ihrer Machtposition erzwingen konnten. Wie wenig die Herrscher sich selbst aus dem nomadischen Milieu hatten herauslösen können, zeigt sich u.a. darin, daß die alljährliche Verlagerung des imperialen Hofes auf die Sommerweide bis zum Ende der Dynastie beibehalten wurde.[78] Mochte das Reich der Ak-Koyunlu daher auch nach 1469 dem Osmanischen Reich an Fläche und ökonomischen Machtressourcen durchaus ebenbürtig sein, sein Staatsapparat blieb strukturell schwach und erreichte nicht annähernd [– S.84 –] das zentralistische Organisationsniveau des Osmanischen Reiches.[79] Dabei fehlte es durchaus nicht am Willen zur staatlichen Zentralisierung, wie Uzun Hasans gründlicher Versuch zur Sanierung des Steuer(un)wesens[80] oder die Vorstöße seines Sohnes und ersten Nachfolgers Yaqub gegen das suyurghal-Wesen zeigen.[81] Bei längerer Stabilität der Dynastie wäre das Projekt vielleicht sogar geglückt[82] die Thronfolgestreitigkeiten nach dem Tode Yaqubs (1490) stürzten das Reich jedoch in einen zehnjährigen ‚Bruder‘krieg. Kein Wunder, daß gerade in dieser Phase des Untergangs der Zentralmacht mehr suyurghals ausgegeben wurden denn je zuvor.[83]
Insgesamt kann man die verfehlte Politik der Ak-Koyunlu in Kurdistan vielleicht als einen überstürzten und letztlich gescheiterten Vorgriff zu einem Übergang vom tribalen Herrschaftsmodus zum ‚despotischen Zentralismus‘ verstehen.[84] [– S.85 –]
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