Nationalismus in Kurdistan (1993)
Es gehört zum guten Ton, Thema und Gegenstand einer wissenschaftlichen Arbeit am Anfang derselben säuberlich einzugrenzen. In meinem Falle stünde daher hier wohl zunächst eine Definition an, wer denn eigentlich „die Kurden“ sind, ersatzweise ein Versuch zu klären, wie „die kurdische Gesellschaft“ als sozialwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand hinlänglich genau bestimmt werden kann. Zwar kann es angesichts der unbestreitbaren Tatsache, daß Hunderte, ja Tausende Menschen mißhandelt, getötet und gefoltert werden, weil sie darauf bestehen, „Kurden“ zu sein, und daß umgekehrt ebensoviele Menschen bereit sind, selbst zu töten oder notfalls auch zu sterben, um „Kurden“ sein zu können, keinen Zweifel daran geben, daß „die Kurden“ eine höchst handfeste Realität sind.[1] Das allein beantwortet allerdings nicht die soeben aufgeworfenen Fragen.
Glücklicherweise existiert eine kleine Monographie, die ganz diesem Thema gewidmet ist, und deren recht einleuchtende Darlegungen mir für einen Anfang gut geeignet scheinen. Sie stammt von dem namhaften kurdischen Gelehrten Jemal Nebez und trägt den schönen, barocken Titel: „Kurdische Zugehörigkeit: Wer ist Kurde? Was bedeutet Kurde sein? Ein Beitrag zur Erforschung der Identität eines aufgeteilten staatenlosen Volkes. Vortrag – gehalten am 27.12.1985 in Kopenhagen für die kurdischen Flüchtlinge in Dänemark – im Rahmen eines Seminars über die Kurdenproblematik“. Nebez beginnt seine Analyse mit einigen Vorüberlegungen, um alsbald zu einer Ausgangsthese zu gelangen, aus welcher die beabsichtigte Herangehensweise klar erkenntlich wird:
„Wenn wir über die Kurden sprechen, meinen wir [...] eine Gruppe von Menschen, die individuell gesehen einige objektive und naturgegebene Merkmale besitzen, durch die sie Angehörige einer eigenständigen, von anderen zu unterscheidenden Gruppe sind.“ (S.7)
Es geht also darum, diese „objektiven und naturgegebenen Merkmale“ auf ihre [– S.17 –] Tauglichkeit als Indikatoren für die Zugehörigkeit eines Menschen zu „den Kurden“ zu prüfen. Zunächst sei da die gemeinsame Sprache, denn – so Nebez – „diejenigen, die als ‚Kurden‘ bezeichnet werden, sprechen im allgemeinen eine Sprache“, Kurdisch nämlich. Nach kurzer Erörterung kommt er jedoch zu dem Ergebnis:
„Obgleich die Kenntnis der kurdischen Sprache ein sehr wichtiges Merkmal für die Unterscheidung zwischen Kurden und Nicht-Kurden ist, ist es nicht immer zutreffend und kann deshalb nur bedingt als Indikator für die kurdische Zugehörigkeit gelten.“ (S.12)
Eindeutig sei der Zusammenhang nur in der Hinsicht, daß jeder Mensch, der sich ausdrücklich als Kurde begreife, auch Kurdisch als „seine“ Sprache ansehe, selbst wenn er sie kaum beherrsche. Dies sei recht häufig der Fall bei Kurden, die aufgrund der Arbeitsemigration der Eltern in einer fremden Großstadt aufgewachsen seien und während der Schulbildung nur Türkisch, Arabisch oder Persisch erlernt hätten. Diesen Menschen ob ihrer Unkenntnis der kurdischen Sprache das „Kurdisch-Sein“ absprechen zu wollen, sei ebenso unsinnig, wie jene zu „Kurden“ zu erklären, die nach langjährigem Zusammenleben mit Kurden das Kurdische als alltägliche Umgangssprache angenommen haben, sich aber weiterhin etwa als „Araber“ begreifen. Nicht viel besser scheint es um das Merkmal „Abstammung“ zu stehen: „Weder die tatsächliche noch die angebliche Abstammung kann eindeutig etwas zur kurdischen Zugehörigkeit aussagen.“ (S.20) Es gebe schließlich genügend Menschen, die trotz gegebener Abstammung von kurdischen Eltern sich selbst als „Türken“ oder „Araber“ begriffen und das Prädikat „Kurde“ mit größter Entschiedenheit zurückwiesen.[2] Umgekehrt habe einer der bedeutendsten kurdischen Führer dieses Jahrhunderts, Sheikh Mahmud Barzinci, immer seine arabische Abstammung betont – seine Familie behaupte nämlich, vom Propheten Mohammed abzustammen. Legte man das Merkmal „Abstammung“ eng aus, müßte man den kurdischen Helden Mahmud folglich zum „Nicht-Kurden“ erklären – was Unsinn sei.[3] Auch das Merkmal „Heimat“, also territoriale Herkunft, hält einer Prüfung nicht stand:
„[...] die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Heimatland (hier im Falle der Kurden zu Kurdistan) [ist] unter den gegebenen Bedingungen nur als möglicher Indikator für die kurdische Identität zu [– S.18 –] betrachten [...] Mit anderen Worten: Ob jemand Kurde/Kurdin ist oder nicht, hat nicht unbedingt mit einer Zugehörigkeit zu Kurdistan zu tun.“ (S.34f)
Einmal sei problematisch, wodurch die Grenzen des Heimatlandes „Kurdistan“ eigentlich bestimmt seien – eine Frage, auf die es so ohne weiteres keine verbindliche Antwort gebe.[4] Sicher sei hingegen, daß in diesem – wie auch immer umrissenen – „Kurdistan“ viele „Nicht-Kurden“ lebten, während Millionen von Kurden durch die Macht der Umstände gezwungen seien, außerhalb Kurdistans zu leben, ja zum Großteil auch schon dort geboren wurden.
Die Erörterung des Merkmals „Religionszugehörigkeit“ geht dann sehr knapp vonstatten, da Kurden den verschiedensten Religionen angehörten. Selbst die Existenz einiger Sekten, die sich ausschließlich aus Kurden zusammensetzten, helfe nicht weiter, da keineswegs alle Kurden Mitglieder dieser Sekten seien. „Die Zugehörigkeit zu einer Religion kann also nicht unbedingt als Indikator für die kurdische Zugehörigkeit gelten.“ (S.37) Dem Merkmal „Kultur“ gesteht Nebez hingegen schon etwas mehr Aussagekraft zu: „Es gibt [...] Normen und Wertvorstellungen, die in der kurdischen Gesellschaft als Ganzes existieren. Es gibt einige kulturelle Merkmale, die für fast alle Kurden zutreffen.“ (S.39) Sogleich muß er aber wieder einschränkend feststellen, daß
„[...] sicherlich eines der wichtigsten Merkmale für die Zugehörigkeit zu den Kurden die Teilhabe an der kurdischen Kultur ist, was im einzelnen zu beschreiben oder festzulegen aber schwierig sein dürfte.“ (S.45)
Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur zeichne mithin zwar „fast alle Kurden“ aus, was jedoch diese Kultur ausmache, lasse sich nicht sicher erfassen. Diese Unbestimmbarkeit macht daher auch das Merkmal „Kultur“ als Prüfstein für die Zugehörigkeit zu den Kurden untauglich. So bleibt zum Schluß nur noch der willentliche Entschluß und die gefühlte Zustimmung des Individuums, dem kurdischen Volk anzugehören: „[...] sich als Kurde/Kurdin zu fühlen und sich als Kurde/Kurdin verstehen zu geben, ist die Grundbedingung, Kurde/Kurdin zu sein.“ (S.46) Nebez präzisiert dies noch weiter dahingehend, daß die Erfahrung eines „die Kurden“ generell – d.h. jeden Kurden und jede Kurdin unterschiedslos und unabhängig von ihrem Wollen und Trachten – treffenden, gemeinsamen Schicksals das entscheidende Moment sei, das bestimmte [– S.19 –] Menschen sich als „Kurden“ fühlen lasse. Er endet mit der Feststellung (S.63): „Zusammenfassend kann man sagen, daß das gemeinsame kurdische Gefühl wichtiger ist als alle anderen Merkmale bei der Feststellung der Identität der Kurden.“
Schon ein kurzer vergleichender Blick auf Ernest Renans bekannten Vortrag «Qu'est-ce qu'une nation?» genügt, um zu zeigen, daß Nebez sich mit dieser Argumentation auf den breit ausgetretenen Pfaden der europäischen Nationendiskussion bewegt.[5] Die gleichen „Merkmale“ (Sprache, Abstammung, territoriale Herkunft, Religion etc.) hat Renan schon vor über hundert Jahren erwogen und wegen mangelnder Eindeutigkeit als Indikatoren verwerfen müssen. Am Ende kam er zu einem ähnlichen Schluß wie Nebez, daß nämlich gemeinsam gelitten zu haben mehr verbinde als alles andere. Die Nation sei eben eine durch Opfer gefestigte Solidargemeinschaft, die sich täglich im Konsens, sich auch weiterhin zu ihr zu bekennen, bewähren müsse.[6] Die Erkenntnis, daß man mit der bloßen Aufzählung von „objektiven Merkmalen“ nicht allzu weit kommt, wurde auch von anderen Wissenschaftlern wie Weber geteilt.[7] Nebez scheint sich hier zumindest in bester Gesellschaft zu befinden.
Bei etwas näherer Betrachtung verfliegt allerdings der zunächst so unabweisliche Eindruck, Nebez' anfängliche Gleichsetzung von „Kurde-Sein“ mit „einigen naturgegebenen Merkmalen“ sei nicht mehr als eine im Fortgang der Argumentation falsifizierte Arbeitshypothese gewesen. Obwohl er die von ihm angeführten „Merkmale“ tatsächlich eines nach dem anderen explizit verwirft, beruht seine ganze Diskussion unausgesprochen auf der vollkommen konträren Grundüberzeugung, daß man als „Kurde“ geboren werde, und daß es nur durch die Gewalt äußerer Umstände dazu kommen könne, daß einzelne Kurden sich [– S.20 –] ihres ab ovo gegebenen Kurde-Seins nicht bewußt würden; kurz: daß „Kurde-Sein“ schlechthin schon ein „naturgegebenes Merkmal“ sei.[8]
Die vielfältigen Hinweise auf staatliche Zwangsmaßnahmen, etwa das Verbot der kurdischen Sprache, Massendeportationen, die Weigerung, kurdische Namen amtlich zu registrieren etc., die viele Menschen zu „An-sich-Kurden“ degradiert hätten, also zu solchen, „die auf dem Weiterbestehen der natürlichen Merkmale des kurdischen Selbstverständnisses nicht beharren“ (S.68), weisen die eigentliche Richtung: Verworfen werden müssen die „naturgegebenen Merkmale“ bei Nebez bloß zur Konstitution der echten, der „Für-sich-Kurden“, die beharrlich sind „im Dienst ihrer eigentlichen Identität, eben durch die Pflege der natürlichen Merkmale ihres Selbstverständnisses“. (S.67) Sprache, Kultur, Herkunft etc. machen bei ihm einen Menschen eben doch zum „Kurden“ – wenn auch zunächst ‚nur‘ zum „An-sich-Kurden“ –, der sich dann noch durch Verinnerlichung der kurdisch-nationalistischen Gesinnung zur höheren Stufe, zum ‚richtigen‘ Kurden ‚erheben‘ muß. Dieser „Transformationsprozeß von ‚An-sich‘-Kurden zu ‚Für-sich‘-Kurden“ aber sei „ständig im Gange“, und nicht ohne Befriedigung sieht er die „Verschiebung vom ‚An-sich‘- zum ‚Für-sich‘-Status [...] von Tag zu Tag größer“ werden. (S.56)
Während Nebez das Definitionsproblem für sich offenbar in nationales Wohlgefallen aufzulösen vermag, zeigt sich die etwas skrupulösere Fachwelt eher ratlos. Erhard Franz, Autor des derzeit aktuellsten deutschsprachigen wissenschaftlichen Nachschlagewerkes zum Thema „Kurden“, stellt etwa fest:
„Ein Kurde ist eine Person, die sich selbst im Unterschied zu Angehörigen anderer Volksgruppen als Kurde identifiziert und von anderen Volksgruppen sowie von übrigen Kurden als Angehöriger des kurdischen Volkes anerkannt wird. Je nach Situation kann eine derartige Identifikation mit Gewinn oder Verlust von sozialem Prestige verbunden sein. [...] Die Definition, wer alles ein Kurde sei, bleibt daher unbestimmt und hinterfragbar.“[9]
Da man – wie Franz selbst feststellt[10] – mit solch einer ‚weichen‘ Definition kaum arbeiten kann, greift er zur Eingrenzung „der Kurden“ als Ganzes auf das vergleichsweise ‚harte‘ Datum „Sprache“ zurück. Schließlich diene die Sprache „einer Mehrzahl von Kurden“ als Ausdrucksmittel ihres „kulturelle[n] [– S.21 –] Zusammengehörigkeitsgefühl[s]“, und durch die Sprache wiesen sie sich als ein separates Volk aus: „Die Kurden sind ein Volk im Vorderen Orient mit einer eigenen iranischen Sprache, die sie von anderen Völkern und Bevölkerungsgruppen a bhebt.“[11] Die Definition über die Sprache hat zweifellos aus der Sicht des Pragmatikers den Vorteil, daß es ein in jedem Einzelfall vergleichsweise sicher zu verifizierendes Merkmal ist, da die allerwenigsten Menschen in mehr als einer Sprache volle Kompetenz vorweisen können. Im Falle der „Kurden“ kommt man allerdings auch damit rasch in Schwierigkeiten, denn auch wenn hier für gewöhnlich vom „Kurdischen“ schlechthin die Rede ist, erweist sich diese „eine“ Sprache in der Praxis eher als ein Bündel deutlich voneinander abweichender Dialekte, die bis heute noch nicht unter dem Dach einer Einheitshochsprache zusammengefaßt werden konnten. Einer der bedeutendsten Kenner der kurdischen Sprache, David MacKenzie, befand:
„Die vielen Sprachvarianten, die Außenstehenden als Kurdisch bekannt sind, stellen nicht eine einzige, einheitliche Sprache dar. Vielmehr kann man sagen, daß die zahlreichen kurdischen Dialekte, welche klar miteinander zusammenhängen und gleichzeitig unterscheidbar sind von den benachbarten, aber weiter entfernt verwandten westiranischen Sprachen, in drei Hauptgruppen zerfallen. Die Unterschiede zwischen den Dialekten sind im allgemeinen proportional zu ihrer räumlichen Entfernung zueinander. Jenseits einer bestimmten Entfernung verhindern diese Unterschiede sicherlich eine wechselseitige Verständigung.“[12] (engl. Original)
Es soll hier keinesfalls der irrige Eindruck erweckt werden, Kurdisch sei keine eigenständige, vollwertige Sprache. Auf diese Klarstellung lege ich vor allem deshalb wert, weil die Existenz einer – vom wissenschaftlichen Standpunkt her – konsistenten kurdischen Gesamtsprache in der Türkei insbesondere seit dem Militärputsch von 1980 in einer wahren Flut von Veröffentlichungen geleugnet wird.[13] So heißt es dort etwa: das „sogenannte Kurdisch“ sei bloß ein degeneriertes, bunt zusammengewürfeltes Kauderwelsch aus Wortbrocken jedweder Provenienz[14] und daher für einen ernsthaften Diskurs absolut untauglich, [– S.22 –] oder: bei Prüfung von knapp 9.000 „kurdo-türkischen“ Wörtern habe man lediglich 300 Wörter gefunden, die nicht aus dem Türkischen, Persischen, Armenischen etc. entlehnt seien, und selbst diese 300 seien als „proto-türkisch“ einzustufen.[15]
Die türkischen Kollegen stehen mit diesen ‚Thesen‘ recht isoliert da, stimmt doch die sonstige Fachwelt ausnahmslos darin überein, daß die von MacKenzie genannten drei Dialektgruppen so viele Gemeinsamkeiten untereinander aufweisen, daß es vollkommen gerechtfertigt ist, sie unter einem Namen zusammenfassen und gegen andere Sprachen abzugrenzen.[16] Die sprachwissenschaftliche Zuordnung zu einem separaten Zweig der iranischen Sprachgruppe ändert aber nichts daran, daß Sprecher zweier solchermaßen zusammengehöriger Dialekte sich in der Praxis oftmals nicht verständigen können, d.h. daß trotz „gemeinsamer Sprache“ ein störungsfreier Dialog nicht möglich ist.[17]
Man kennzeichnet die drei Dialektgruppen oft nach ihrer räumlichen Verteilung, wobei man zumeist eine „Nord“-, „Mittel“- und „Süd“-gruppe unterscheidet.[18] (Manche Autoren verwenden etwas andere Etikette, etwa: „West“, „Ost“ und„Süd“, oder: „Nord“, „Süd“ und „Südost“, meinen aber dieselbe Verteilung).[19] Geläufig sind auch die Bezeichnungen „Kurmanci“ für die Nordgruppe bzw. „Sorani“ für die Mittelgruppe, allerdings wird die Verwendung der letzteren von einigen Fachleuten nur ungern hingenommen.[20] Während sich [– S.23 –] unter den nördlichen und den mittleren Dialekten jeweils einer zu einer regional akzeptierten Schriftsprache entwickelt hat („Jeziri“ bzw. „Slemani“) und eventuell von daher ein etwas dichterer Zusammenhang innerhalb der Gruppen gefördert wurde, ist die Südgruppe völlig heterogen und weist keine Literatursprache auf.[21] Zusätzlich kompliziert wird die Lage durch die Existenz zweier weiterer, von beachtlich großen Menschengruppen gesprochener Dialekte, „Dimli“[22] und „Gorani“, die sich keiner der drei Hauptgruppen zuordnen lassen. Bezüglich des Gorani bestehen sogar Zweifel, ob es sich nach linguistischen Kriterien überhaupt um einen „kurdisch“ zu nennenden Dialekt handelt.[23] Ausgerechnet aus diesem Gorani ging eine Literatursprache hervor, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts „bis weit in den heutigen Irak hinein verbreitet“[24] war, also auch von Nicht-Gorani-Sprechern benutzt wurde. Das erwähnte Dimli schließlich ist räumlich innerhalb der Nordgruppe angesiedelt, weicht von diesen Dialekten jedoch so stark ab, daß zwischen Dimli- und Kurmanci-Sprechern eine Kommunikation fast unmöglich ist.[25]
Aber auch das nord-kurdische Kurmanci ist vom mittel-kurdischen Sorani durch markante Unterschiede getrennt.[26] Das zeigt sich vor allem im Wegfall [– S.24 –] von Kasus und Genus bei Substantiven und Pronomina im Sorani-Dialekt, Formen, die sich im insgesamt etwas „archaischeren“ Kurmanci erhalten haben. Man unterscheidet dort weiterhin zwischen Femininum und Maskulinum und verzichtet auf die im Sorani geläufigen Pronominal-Suffixe, wie auch auf eine gesonderte Passivkonjugation der Verben.[27] Dafür existiert im Kurmanci zumindest eine Futurform, eine Zeitstufe, die im Sorani vollständig fehlt.[28]
Im Irak, wo seit den englischen Mandatszeiten (1919-1932) in den vorwiegend kurdisch-sprachigen Landesteilen auch Schulunterricht in kurdischer Sprache erteilt wird, aus verschiedenen Gründen aber nur Lehrbücher in Sorani-Hochsprache existieren und verwendet werden[29] haben diese gravierenden Unterschiede dazu geführt, daß die Kinder kurmancisprachiger Eltern mehrheitlich den arabischen Unterricht besuchten: Wenn schon ein durchgängig muttersprachlicher Unterricht aufgrund des Sorani-Lehrmaterials praktisch unmöglich war, lag es nahe, die Kinder lieber gleich in der Universalsprache Arabisch lernen zu lassen.[30] Ganze Provinzen, wie etwa die Badinan-Region, nahmen [– S.25 –] daher kaum an der allmählich entstehenden modernen, kurdisch- oder besser soranisprachigen Kultur- und Literaturproduktion im Irak teil.
Darüber hinaus stellt aber auch die starke Differenzierung innerhalb der jeweiligen – ja bloß nach recht abstrakten linguistischen Kriterien zusammengehörigen – Hauptdialektgruppen weitere Kommunikationsbarrieren auf. Dies gilt besonders für die Nordgruppe, da die Kurmanci-Dialekte hauptsächlich auf dem Territorium der Türkischen Republik gesprochen werden, wo seit über sechzig Jahren eine legale Verbreitung und Pflege oder gar ein Studium der kurdischen Sprache staatlicherseits unmöglich gemacht wird.[31] Nicht nur ist dadurch eine mögliche Annäherung der vielen Mundarten – etwa durch den Einfluß einer über Radio und Zeitungen verbreiteten hochkurdischen Schriftsprache – unterblieben, schlimmer noch: Die radikalen Umbrüche der neueren Gesellschaftsentwicklung gingen fast spurlos an den nordkurdischen Dialekten vorüber, was dazu führte, daß sie weder von ihrer lexikalischen noch der strukturellen Spannweite her die sozio-politischen Realitäten des modernen gesellschaftlichen Lebens angemessen ausdrücken können.[32]
Dies hat für die kurdischen Nationalisten in der Türkischen Republik zu der paradoxen Situation geführt, daß sie selbst die illegale Propaganda für ihre Idee von einem kurdischen Staat vorwiegend auf Türkisch betreiben.[33] Ein im Frühjahr 1990 gedrehtes Propaganda-Video, das Guerillakämpfer der PKK[34] im Einsatz in den Cudi-Bergen zeigt und auf Informationsveranstaltungen der Kurdistan-Komitees in der BRD vorgeführt wurde, war z.B. komplett mit türkischem Kommentar unterlegt. Aber auch die darin (im Originalton) wiedergegebene politische Ansprache eines Kommandanten an seine Truppe fand in Türkisch [– S.26 –] statt. Nur die Slogans, die die Guerillas riefen, waren kurdisch. Abdullah Öcalan, Generalsekretär der PKK, stellte gegenüber dem Stern-Reporter Dietrich Willier anläßlich dessen Besuchs im Ausbildungslager der PKK in der libanesischen Bekaa-Ebene fest[35] „Die Hälfte von uns hier sprechen türkisch, und wir bilden in türkischer Sprache aus. Wir sind keine Feinde des Türkentum und der türkischen Sprache.“[36] Willier bestätigt in seinem Bericht, daß der Türkischunterricht für die Guerilla-Rekruten obligatorisch ist.[37] In Türkisch sind auch die mehrbändigen „Gesammelten Reden“ Öcalans erschienen und zwar nicht als Übersetzung, sondern in der Originalfassung. Öcalan selbst sagt in einem anderen Interview über sich:
„Ich bin der festen Überzeugung, daß Türkisch für meine Zwecke die bessere Sprache ist.“ „Ich habe als meine Denk- und Schaffenskraft vollkommen das Türkische entwikelt. Das Kurdische hingegen bleibt als Schaffens- und Denkkraft auf dem zweiten Platz.“[38]
Damit nicht genug, er stellt sogar klar, daß selbst in einem (noch zu erringenden) unabhängigen Kurdistan die Amtssprache wahrscheinlich zunächst Türkisch sein würde:
„Es gibt Dinge von sehr großem Wert, die vor der kurdischen Sprache befreit werden müssen. Das Kurdische wird zuletzt an die Reihe kommen. Selbst wenn wir die Unabhängigkeit erlangt haben werden, werden wir sie auf lange Zeit mit dem Türkischen vollziehen.“[39]
Was bleibt also noch vom Merkmal Sprache, wenn selbst radikale Nationalisten, die für die Befreiung „ihrer“ Nation ohne weiteres das eigene Leben riskieren, meinen, auch mit Türkisch als erster Sprache könne man problemlos „Kurde“ sein? Die „Kurden“ scheinen sich eben nicht deshalb als [– S.28 –] zusammengehörig zu begreifen, weil sie sich durch die „gemeinsame Sprache“ mit andern Kurden im Arbeitsprozeß und sonstigen sozialen Tätigkeiten am zuverlässigsten verständigen könnten, wie es der kommunikationstheoretisch orientierte Ansatz will, sondern umgekehrt: All jene, die sich selbst als Kurden begreifen, wissen sich trotz unabweislicher und gravierender Kommunikationshemmnisse als „Kurden“ zusammengehörig. Etliche aktiv Engagierte unter ihnen streben daher danach, „ihre“ Sprache für alle Kurden verständlich zu machen, also eine Vereinheitlichung der kurdischen Dialekte zu bewerkstelligen.[40]
Aus einer bestimmten – meist wohl europäischen – Perspektive mag dieses Bemühen „künstlich“ oder „unnatürlich“ erscheinen. Wenn man sich allerdings vor Augen hält, daß etwa zum Zeitpunkt der Französischen Revolution gut ein Viertel aller „Franzosen“ kein Französisch verstand[41] dann wird klar, daß weder die Menschen französischer Sprache noch die irgendeiner anderen heute fest etablierten Hochsprache – auch nicht der deutschen – „natürlicher“ zusammengekommen sind.
Das (heute allmählich aussterbende) „Plattdeutsch“ beispielsweise stellt im linguistischen Sinne eigentlich keinen Dialekt, sondern eine andere Sprache dar als Hochdeutsch: Das Platt verweist nämlich auf die frühere Gespaltenheit des deutschen Sprachraumes in einen „hoch“- (im Sinne von: „süd“-)deutschen und einen „nieder“- (bzw. „nord“-)deutschen Zweig, welche jeweils eine eigene Hoch- und Literatursprache ausgebildet hatten.[42]
Die einheitliche deutsche Schrift- und Hochsprache, wie man sie heute kennt, ist nun nicht etwa aus einer ‚organischen‘ Verschmelzung dieser beiden Zweige entstanden, sondern entwickelte sich anfänglich durch das zeitgleiche, aber unkoordinierte Bemühen süddeutscher Buchdrucker um größere Absatzmärkte für ihre Produkte. Zu diesem Zweck schuf ein jeder Buchdrucker aus den jeweils regional vorherrschenden Dialekten auf eigene Faust eine Art „Kunstsprache“ für die überregionale Verbreitung seiner [– S.28 –] Druckerzeugnisse:[43]
„Die Schriftsprache, wie sie in den großen Buchdruckzentren Köln, Mainz, Straßburg, Basel, Augsburg, Nürnberg verwendet wurde, war von Anfang an weit davon entfernt, die phonetische Umschrift irgend eines gesprochenen Dialektes zu sein. Nirgendwo sprach man so, wie gedruckt oder geschrieben wurde.“[44]
Wenn seit den 30er Jahren immer wieder Intellektuellenzirkel mit dem Ziel der Schaffung einer einheitlichen kurdischen Hochsprache entstehen, so stehen sie durchaus in einer Linie mit den deutschen „Sprachgesellschaften“ des 17. Jahrhunderts, die wie sie durch Herausgabe von Dichterwerken, Sprachlehren und Wörterbüchern für eine Vereinheitlichung von Rede und Schreibung stritten und durch vorbildliche Übersetzungen versuchten, den Formenschatz der eigenen Sprache zu bereichern.[45] Effektive sprachliche Einheit für Millionen von Menschen ergab und ergibt sich eben nirgends von allein, sie muß aktiv geschaffen und bewußt aufrechterhalten werden.
Zusammenfassend kann man feststellen, daß sich die Gesamtheit „der Kurden“ nicht über ihre „einheitliche Sprache“ festmachen läßt – zumal wenn sich die historische Perspektive über etliche Jahrhunderte erstrecken soll. Die meisten AutorInnen zum Thema scheint dies jedoch nicht sonderlich anzufechten, im Gegenteil: die Definition über die gemeinsame Sprache ist in der vorhandenen Literatur fast schon ein Standard.[46] Selbst Martin van Bruinessen, der seit seiner viel beachteten Dissertation (1978) in zahlreichen Aufsätzen wichtige Beiträge zur Kenntnis der kurdischen Gesellschaft geleistet hat, greift beim Versuch, die Kurden in der Türkischen Republik zu charakterisieren, „aus pragmatischen Gründen“ auf die Gemeinsamkeit an Sprache zurück:
„Ich benutze aus pragmatischen Gründen eine recht ungenaue und weit gespannte Definition, die all jene einschließt, die als Muttersprache einen Dialekt haben, der zu den iranischen Sprachen Kurmangi oder Zaza gehört, zusätzlich schließe ich auch jene türkischsprachigen Menschen ein, die für sich in Anspruch nehmen, von Sprechern des Kurmangi oder Zaza abzustammen, und die sich immer noch (oder bereits wieder) als Kurden begreifen.“[47] (meine Übersetzung, engl. Original)
Wie Franz ist sich van Bruinessen bewußt, daß es ‚eigentlich‘ kein wirklich [– S.29 –] zuverlässiges Kriterium gibt, um „Kurden“ von „Nicht-Kurden“ zu scheiden.[48] Ginge man aber etwa nach den Kriterien „Religion“ oder „materielle Kultur“ vor, käme man zu noch weniger befriedigenden Ergebnissen. So gehöre zwar die große Mehrheit aller Kurden zur schafiitischen Rechtsschule innerhalb der sunnitischen Strömung des Islams, es gebe aber auch beträchtliche Gruppen religiös anders gesinnter Kurden, insbesondere die Aleviten[49] und die Yeziden[50], zu denen die sunnitisch-schafiitische Mehrheit ein teilweise sehr gespanntes Verhältnis habe:
„Viele schafiitische Kurden weigern sich tatsächlich die Aleviten und Yeziden als Kurden anzuerkennen. Mischehen zwischen diesen Religionsgruppen sind ausgesprochen selten, wesentlich seltener als solche zwischen türkischen und kurdischen Aleviten oder selbst zwischen türkischen und kurdischen Sunniten. Tatsächlich könnte es zutreffender sein, von den Kurden nicht als einer ethnischen Gruppe, sondern als einem Set ethnischer Gruppen zu sprechen.“[51] (meine Übersetzung, engl. Original)
Zur materiellen Kultur stellt van Bruinessen – ganz wie Barth[52] und Minorsky[53] vor ihm – fest: [– S.30 –]
„Andere, sekundäre Symbole sind sogar noch untauglicher zum Zwecke einer Grenzziehung: die ‚kurdische‘ Kleidung, Musik, Folklore, Küche etc. weisen große regionale Verschiedenheiten auf, während die Ähnlichkeit mit denjenigen [entsprechenden Merkmalen] anderer ethnischer Gruppen in der gleichen Region manchmal auffällig groß ist.“[54] (engl. Original)
Nimmt man nur das Beispiel Kleidung, so ist in der Literatur häufig von einer „kurdischen“ oder einer „traditionellen kurdischen“ Kleidung die Rede.[55] Es geht dabei um die Bekleidung von Bäuerinnen und Hirten, die unter harten klimatischen Bedingungen arbeiten, die daher den Anforderungen der Umwelt und der zu erledigenden Arbeiten angepaßt wurde. So vielfältig wie die Landschaftstypen sind notwendig auch die Kleidungsformen, denn unter den Bedingungen weitgehender Subsistenzwirtschaft produziert jede Wirtschaftseinheit auch ihre Bekleidung vor Ort selbst; „traditionelle“ Zuschnitte, Farben und Webarten variieren daher von Tal zu Berg, von Hochplateau zu Flachland, aber auch von Tal zu Tal.[56]
Ich denke, aus dieser Vielfalt einen spezifisch „kurdischen“ Grundtyp herausdestillieren zu wollen, ist allein schon vom Ansatz her verkehrt. Warum sollten Bergbewohner und Städter, Vollnomaden und Bauern, reiche Notabeln und Tagelöhner auch nur vom Grundtypus her die gleiche Kleidung tragen?[57] Etwas anders wird die Lage, wenn den Menschen einer ganzen Region von [– S.31 –] Staats wegen gewaltsam vorgeschrieben wird, was sie nicht tragen, nicht denken und nicht sprechen sollen. Interessant ist hier van Bruinessens Beobachtung, daß gerade die radikale Unterdrückung der lokalen bäuerlichen Traditionen in der Türkischen Republik eine Art tabula rasa geschaffen habe, was mit verantwortlich dafür sei, daß mit dem Aufschwung der Nationalbewegung seit Anfang der 70er Jahre eine neue, vereinheitlichte „traditionelle“ Kleidung als Ausdruck von Widerstand und aufkeimendem Nationalstolz Verbreitung habe finden können:
„Diese Symbole von Eigenständigkeit sind von der republikanischen Regierung seit Ende der 20er Jahre unterdrückt worden, paradoxerweise hat dies es der nationalistischen Bewegung der 70er Jahre ermöglicht, eine aufs neue erfundene, stärker vereinheitlichte kurdische Tradition zu verbreiten [...]“ „Die Menschen begannen wieder, kurdische Kleidung zu tragen – in vielen Fällen trug man Fantasiekostüme, die sich an das anlehnten, was von den irakischen Kurden getragen wurde.“[58] (meine Übersetzung, engl. Original)
Wieder tritt einem das Phänomen entgegen, daß Menschen sich nicht wegen vorab vorhandener Gemeinsamkeiten zusammengehörig fühlen, sondern vielmehr bemüht sind, einer verbindlich gefühlten Zusammengehörigkeit auch äußere Repräsentanz zu geben. Es scheint, daß die ganze Herangehensweise, die eingangs anhand Nebez' Vortrag vorgestellt wurde, unbrauchbar ist. Wenn „wir über die Kurden sprechen“, so ist es offenbar wenig zweckdienlich, darunter „eine Gruppe von Menschen“ zu verstehen, „die individuell gesehen einige objektive und naturgegebene Merkmale besitzen, durch die sie Angehörige einer eigenständigen, von anderen zu unterscheidenden Gruppe sind.“[59]
Um die „Merkmale“-Diskussion endgültig abschließen zu können, muß ich allerdings noch einen letzten Aspekt erörtern: die Frage der „Herkunft“. Das Merkmal „Herkunft“ – in genealogischer wie in territorialer Hinsicht – fließt nämlich in der gängigen Literatur fast schon gewohnheitsmäßig mit ein in die Bestimmung „der Kurden“, es wird allerdings selten explizit genannt und verbirgt sich stattdessen hinter Floskeln wie: „Die Kurden sind ein Volk, das ...“.[60] Statt also zu sagen, daß „die Kurden“ eine Menge von Menschen sind, auf die individuell die Bedingungen A biz Z zutreffen, werden sie hier global dem Typus „Volk“ zugeordnet, was sinngemäß bedeutet, daß die als bekannt vorauszusetzenden Zuordnungsregeln für den Typus „Volk“ auch auf „die Kurden“ anzuwenden sind. [– S.32 –] Freilich sind die „Zuordnungsregeln“ für den Typus „Volk“ nur auf die Art und Weise allgemein ‚bekannt‘, daß man sie genau solange bestens zu wissen glaubt, solange man nicht danach gefragt wird. Zudem verlaufen die Begriffe „Volk“ und „Nation“ – zumindest im deutschen Sprachgebrauch – fließend ineinander, genauer gesagt hat das aktuelle Verständnis von „Nation“ die Auffassung von „Volk“ so eindeutig besetzt, daß man oft genug das Wort „Volk“ getrost durch „Nation“ ersetzen kann.[61] Wo immer aber der Begriff „Volk“ bewußt gegen „Nation“ abgegrenzt wird, werden eher naturhafte, „organisch gewachsene“ bzw. vormoderne Aspekte wie eben „Abstammungsgemeinschaft“ oder die Verbundenheit mit der „Erde der Heimat“ in den Vordergrund gestellt.[62]
Das Merkmal „Abstammung“ für sich allein genommen allerdings weist durch seinen rekursiven Gehalt einen schweren Mangel auf: Das zu Bestimmende setzt sich selbst bereits voraus. Wenn „Kurde ist, wer genetisch von Kurden abstammt“, so gerät man bei der Frage, wie die notwendige Bedingung des „Kurde-Seins“ der Elterngeneration zu verifizieren sei, in einen unendlichen Regreß bis zu hypothetischen, historisch „ersten“ Kurden. Deren Herkunft wiederum kann dann nur noch durch einen Urschöpfungsakt göttlicher oder anderer Art ‚erklärt‘ werden, d.h. der wissenschaftliche Gebrauchswert einer ausschließlich auf Abstammung fußenden Definition wäre nicht viel höher als ein Erklärungsmodell auf Grundlage der Kategorie „Rasse“.[63] [– S.33 –] Man muß die „Abstammung“ schon mit einem anderen Merkmal verbinden, um diesen Mangel abzustellen, ganz wie van Bruinessen es mit seiner „recht ungenaue[n] und weit gespannte[n] Definition“ vorgeführt hat. Hier kam die Herkunft nur verknüpft mit der Bedingung zum Tragen, daß die Eltern SprecherInnen bestimmter Dialekte sind. Wenn also die Zugehörigkeit zu den Kurden per Abstammung bestimmt wird, ist das „Kurde-Sein“ der Elterngeneration nach dem Merkmal „Sprache“ zu verifizieren.
Daß das Merkmal der „territorialen Herkunft“ mit kaum weniger Schwierigkeiten verbunden ist, trat schon bei der Erörterung des Vortrags von Jemal Nebez zutage. Wenn „Kurde ist, wer in ‚Kurdistan‘ geboren ist“, dann wäre nämlich vor allem eine exakte Abgrenzung des Territoriums namens „Kurdistan“ vonnöten.[64] Wo jedoch „Kurdistan“ anfängt bzw. aufhört, darüber haben selbst die Vorkämpfer des kurdischen Nationalismus keine Einigkeit erzielen können.[65] Dies ist nicht etwa ein besonderes ‚Versagen‘, es liegt einfach in der Natur der Sache. Grundsätzlich betrachtet sind alle räumlichen Gliederungen – und um eine solche handelt es sich bei einem „Territorium“ – notwendig veränderlich und können selbst unter Aufbietung größter Anstrengungen immer nur zeitweilig stabil gehalten werden, denn es handelt sich keineswegs um Gestaltungen des realen Naturraumes, sondern um Grenzziehungen zwischen Menschen, also um Gestaltungen des permanent in Veränderung begriffenen sozialen Raumes. Sehr einleuchtend finde ich die Überlegungen Simmels:
„Ein geographischer Umfang von so und so vielen Quadratmeilen bildet nicht ein großes Reich, sondern das tun die psychologischen Kräfte, die die Bewohner eines solchen Gebietes von einem herrschenden Mittelpunkt her politisch zusammenhalten. Nicht die Form räumlicher Nähe oder Distanz schafft die besonderen Erscheinungen der Nachbarschaft oder Fremdheit, so unabweislich diese scheinen mag. Vielmehr sind auch dies rein durch seelische Inhalte erzeugte Tatsachen [...] Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.“[66] [– S.34 –]
Definitive und auf Millimeter präzisierbare Grenzen können nur hochgradig durchorganisierte Territorialstaaten produzieren und langfristig aufrecht erhalten. Dieser Typus Staat existiert erst seit historisch kurzer Zeit, selbst noch die machtvollsten Reiche des Mittelalters waren dazu nicht in der Lage – es war für sie allerdings auch kein erstrebenswertes Ziel. Wo „Kurdistan“ zu verorten ist, bleibt folglich solange eine im Fluß befindliche Sache, bis eine eigens dafür konstituierte Machtorganisation sich dauerhaft fähig zeigt, notfalls das hinreichende Maß an Gewalt anzuwenden, um einen präzisen Grenzverlauf zu erzwingen.
Die gegenwärtig verbreiteten Karten von „Kurdistan“ formulieren daher letztlich nur den Anspruch, daß auf der schraffierten, gepunkteten oder sonst wie hervorgehobenen Fläche ein souveräner Staat Kurdistan errichtet werden soll. Sie geben jedoch etwas anderes vor, nämlich einen objektiv in der Realität gegebenen Tatbestand zu repräsentieren: etwa das „Hauptsiedlungsgebiet der Kurden“ oder das „Gebiet, das traditionell vorwiegend von Kurden bewohnt wird“.[67]
Nun haben jene vier Staaten, die durch die hypothetische Gründung eines Staates Kurdistan am meisten Territorium zu verlieren hätten, die Siedlungsverhältnisse im bewußten Gebiet in den letzten siebzig Jahren durch Zwangsumsiedlungen, Terror und Massaker massiv verändert. Aber selbst wenn dadurch ganze Landstriche von „Kurden“ entblößt wären, kämen kurdische Nationalisten nicht auf den Gedanken, ihre Karten entsprechend umzuzeichnen, da diese Änderungen durch Gewaltakte zustande kamen, die ihrer Meinung nach bestehende „historische Rechte“ mißachteten. Dieselben Nationalisten lassen indessen solche Skrupel vermissen, wenn es um die Berücksichtigung der Gewaltakte geht, die zwischen 1915 und 1920 an der armenisch-christlichen Bevölkerung der Region begangen wurden: Durch die hunderttausendfache Vertreibung und Ermordung dieser Menschen waren riesige Gebiete entvölkert und anschließend von anderen, hauptsächlich kurdischsprachigen Muslimen neubesiedelt worden, während eine Rückkehr der noch überlebenden armenisch-christlichen [– S.35 –] Vertreibungsopfer gewaltsam verhindert wurde. Diese Gebiete werden seitdem konstant von den kurdischen Nationalisten zum „traditionellen Siedlungsraum der Kurden“ gerechnet und alle Irredenta-Ansprüche armenischer Nationalisten in scharfem Ton zurückgewiesen.[68]
Keinesfalls möchte ich mich damit in die Debatte einlassen, ob bestimmte Gebiete nun „armenisch“ oder „kurdisch“ seien. Ebensogut hätte ich mich auf den – weit weniger emotional aufgeladenen – Streit beziehen können, ob die „Luren“ zu den „Kurden“ zu zählen seien und folglich deren Siedlungsgebiet „Luristan“ in den „traditionellen Siedlungsraum der Kurden“ einzubeziehen sei.[69] Es geht mir nur darum, darauf hinzuweisen, daß die von Menschenhand bewirkte und aufrechterhaltene Heraustrennung eines „Territoriums“ aus der Kontinuität der Erdoberfläche prinzipiell immer einen Willkürakt darstellt, der seine Realität ausschließlich durch faktische Macht, also Gewalt, die Menschen gegen andere Menschen ausüben, erhält. Man könnte auch sagen, die gesellschaftlichen Raumgestaltungen sind gelebte Formen der Herrschafts- und Produktionsverhältnisse, oder wie Simmel es ausdrückt:
„In der Art, wie der Raum zusammengefaßt oder verteilt wird, wie die Raumpunkte sich fixieren oder sich verschieben, gerinnen gleichsam die soziologischen Beziehungsformen der Herrschaft zu anschaulichen Gestaltungen.“[70]
Von daher sind Konstruktionen wie „historisch erworbene Anrechte“ oder „organisch gewachsene Verhältnisse“ völlig fehl am Platz, zumal andernfalls sofort die fruchtlose Diskussion anstünde, wie lange exakt Rechte ausgeübt worden sein müssen (reichen siebzig Jahre aus?), um das Prädikat „historisch“ beanspruchen zu können, und ab welcher Zeit ein einmal erworbenes Recht durch ‚Nichtwahrnehmung‘ verwirkt ist, bzw. ob es überhaupt verfallen kann.[71] [– S.36 –] Ich gehe davon aus, daß der Ausdruck „natürliche Grenzen“ ein Widerspruch in sich ist, da es nur „willkürliche“ Grenzen gibt, denn allein schon der Begriff „Grenze“ setzt Willkür – im Sinne von politischem Wollen und Handeln – notwendig voraus.[72] Oder ganz generell ausgedrückt:
„[...] ‚Volk‘, ‚Nation‘, ‚Minderheit‘ und ihre zahlreichen semantischen Derivate stellen keineswegs neutrale analytische Begriffe vor, sondern implizieren von vornherein Ansprüche auf politische Herrschaft bzw. gewisse ‚Rechte‘: etwa den Anspruch eines ‚Volkes‘ auf einen eigenen ‚Nationalstaat‘, eines ‚Nationalstaates‘ auf irredentistische Interventionspolitik im Ausland, einer ‚Minderheit‘ auf Minderheitenschutz, Autonomie oder Sezession. [...] Kurz: ‚Volk‘, ‚Nation‘ und ‚Minderheit‘ sind [...] begriffslogisch als Elemente politischer Diskurse konstruiert. Ihr ideologischer Charakter besteht dabei gerade darin, sich als Ergebnis wissenschaftlicher Argumentation zu präsentieren: [...] im Anspruch, dieses Volk als vorgegebene Größe in der Realität vorfinden zu können und im Glauben, die Frage, wer zu ihm gehöre, mit objektiven natur- bzw. kulturwissenschaftlichen Methoden definitiv beantworten zu können.“[73]
Wenn es sich nun so verhält, daß an der Existenz „der Kurden“ nicht gerüttelt werden kann, die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe hingegen mit „mit objektiven natur- bzw. kulturwissenschaftlichen Methoden“ trotz allem nicht zweifelsfrei zu bestimmen ist[74] dann liegt es nahe, sich hier auf die Willensentscheidung der je betroffenen Menschen zu verlassen. Nicht umsonst verlangte van Bruinessens Definition zusätzlich zur Abstammung von SprecherInnen bestimmter Dialekte noch das aktive Bekenntnis der so als „Kurden“ bestimmten Menschen zu ihrem „Kurde-Sein“. Also ist „Kurde“, wer sich als „Kurde“ fühlt und verhält?[75] [– S.37 –] Ein Blick auf Franz' weiter oben zitierte Definition erweist allerdings, daß mit diesem scheinbar befreienden Schlag der ‚Gordische Knoten‘ keineswegs gelöst ist, denn zum einen ist nach Franz' Meinung die Akzeptanz des eigenen „Kurde-Seins“ durch andere Mit-Kurden ebenso wichtig wie die aktive Selbstidentifizierung des Betreffenden, zum anderen wirke das soziale Umfeld auch direkt auf die Selbstidentifizierung des Einzelnen ein, z.B. dergestalt, daß ein Bekenntnis zum „Kurde-Sein“ mit Verlust an sozialem Prestige verbunden sein kann.[76] Aber auch ohne Zwang mag ein Mensch, der sich vormals als „Kurde“ verstanden und dargestellt hat, es vorziehen, zukünftig „Türke“[77] oder „Deutscher“ [78] zu sein. Tatsächlich ist auf individueller Ebene die Aufgabe der Muttersprache und die Annahme einer neuen Sprache als primäres Denk- und Kommunikationsmedium gar nicht so selten. Erst die nationalistisch-romantische Überhöhung der je besonderen „Nationalsprache“ führte zu der unsinnigen Vorstellung, Sprachkonvertiten seien bedauernswerte psychische Krüppel oder gar jedes „inneren Wertes“ entblößte „Verräter“ am eigenen Selbst.[79] Mit der [– S.38 –] historischen Realität hat das wenig zu tun. Van Bruinessen bietet sogar Beispiele dafür, daß selbst ganze Stämme innerhalb weniger Generationen geschlossen alle relevanten Sprach-, Kultur- und Religionsgrenzen überschritten:
„Die Dümbeli beispielsweise werden im Šarafnama als ein kurmancisprachiger Stamm erwähnt, ursprünglich seien sie Yeziden gewesen, später jedoch zum Sunni-Islam konvertiert. Als ein Teil des Stammes von den Bergen südlich des Van-Sees in die Region von Khoi ausgewandert war, verbündeten sich ihre Häuptlinge mit den Safaviden [...] In den darauffolgenden Jahrhunderten spielten die Dümbeli in der regionalen Politik zumeist eine gewichtige Rolle, unter allmählicher Annahme türkischer Eigenarten. Gegenwärtig sind alle Dümbeli türkischsprachige Anhänger der [...] Zwölfer-Schia. Ein Beispiel für die gegenläufige Entwicklung ist der Stamm der halbnomadischen Karakeçili, die auf den Abhängen des Karacadağ-Berges südwestlich von Diyarbakır leben. Sie sind kurdischsprachig, doch besagt eine lokale Überlieferung, daß sie ursprünglich Turkmenen aus Westanatolien waren, die von Sultan Selim I. nach der Eroberung der Region hierhin zwangsumgesiedelt worden sind. Die Gliederungen des Karakeçili-Stammes, die in Westanatolien zurückblieben, behielten ihre turkmenische Identität bei; diejenigen, die sich am Karacadağ niederließen, wurden allmählich zu Kurden aufgrund von Mischehen und Einbeziehung kurdischer Alliierter in den Stamm.“[80] (meine Übersetzung, engl. Original)
Er erwähnt auch, daß zu Ende des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Zahl von christlich-armenischen Dörflern es vorzog, „Kurden“ zu werden, daß sie also zum Islam konvertierten und die kurdische Sprache annahmen und daß ihre Nachfahren heute allgemein als „Kurden“ akzeptiert werden.[81] Ist auf diese Weise das „Sich-als-Kurde-verstehen“ schon in der Perspektive mehrerer Generationen überaus fließend, macht die folgende Feststellung Tappers auch die letzte Hoffnung hinfällig, mit dem Ausweichen auf den Willensentscheid des je konkreten Individuums sichereren Grund gewonnen zu haben:
„Nur selten prüfen Forscher, die mit vermuteten ethnischen Namen hantieren, deren Verwendung in der Praxis: Zu leichtfertig wird unterstellt, daß beispielsweise Belutsche, Kurde und Paschtune vergleichbare Identitäten sind, daß eine jede davon – wo immer sie zur Anwendung kommt – einen gleichbleibenden Bedeutungsgehalt hat und daß jede eine ‚reale‘ Ganzheit von Herkunft und Kultur repräsentiert. Eine Untersuchung des ungeheuer vielfältigen und komplexen Alltagssprachgebrauchs zeigt, daß kulturelle Identitäten – seien sie ‚ethnisch‘, ‚tribal‘ oder sonstige – nur in einem sozialen Kontext sinnvoll sein können. Sie sind im wesentlichen verhandelbare Gegenstände strategischer Manipulationen; Individuen beanspruchen in unterschiedlichen Kontexten auf unterschiedliche Weise Status für sich, wie sie sich selbst auch unterschiedlich präsentieren. Und wie sie dies tun, hängt besonders von Machtverhältnissen und lokalen Hierarchien ab – allerdings auch von staatlichen Maßnahmen und Kategorisierungen.“[82] (meine Übersetzung, engl. Original)
Je mehr man sich offenbar bemüht, die zunächst so ‚hart‘ scheinenden Kategorien „Kurde“, „kurdisches Volk“ oder „die Kurden“ zu fassen, desto mehr zerinnen sie einem zwischen den Fingern. Wenn also Autoren wie van Bruinessen und Franz, denen wohl kaum mangelnde Einsicht in die [– S.39 –] Unzulänglichkeit der existierenden ‚Definitionen‘ vorgeworfen werden kann, letztlich doch zu eingestandenermaßen unbefriedigenden Behelfskonstruktionen greifen, dann offensichtlich nur, weil trotz gründlichster Erwägung eine ‚richtige‘ Lösung sich nicht einstellen will.
Das zu beschreibende Phänomen aber existiert und schert sich wenig darum, daß die Wissenschaft es nicht in ihre Raster gepreßt bekommt. Man mag sich damit trösten, daß es in anderen Fachgebieten nicht besser steht, und fragen, warum nicht auch die Kurdenforschung mit ihrer Arbeit fortfahren sollte, obwohl es bis dato nur wenig brauchbare Definitionen ihres Forschungsgegenstandes gibt. Diese Art von ‚Lösung‘ empfinde ich allerdings als sehr unbefriedigend.
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