Nationalismus in Kurdistan (1993)
Läßt man die knapp dreihundert Jahre der nicht immer freundschaflichen, aber funktionierenden ‚Kohabitation‘ von osmanischer Staatsmacht und der alteingesessenen Machtelite Kurdistans[1] von Çaldıran bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Revue passieren, erkennt man, daß das von manchen Autoren „Autonomiestatut“ genannte Werk Idris Bitlisis nur während des 16. Jahrhunderts wirklich von Bedeutung war, denn nach der durch die celali-Aufstände markierten großen Wende wurden die vormals „kurdisch“ genannten Sonderrechte praktisch zum Normalmodus der osmanischen Verwaltung. Von daher ist die in gängigen Darstellungen oft anzutreffende Behauptung, die von der Pforte 1515 gegebenen Autonomieversprechen seien schon „bald“ nichts mehr wert gewesen, bzw. das Osmanische Reich habe spätestens nach 1639 (Friedensschluß mit den Safaviden) aggressiv versucht, seine direkte Herrschaft nach Kurdistan auszudehnen, wenig erhellend.[2] Die wesentliche Schwäche dieser Behauptung ist, daß sie einen linearen — allenfalls von Phasen der Stagnation unterbrochenen — Verlust an Autonomie impliziert. D.h. man unterstellt, daß sich die lokalen Herrschaften in Kurdistan zum Zeitpunkt der Kooption durch das Osmanische Reich auf einem später nicht wieder erreichten Maximum an Autonomie befunden hätten und daß nach anfänglicher Einhaltung der ‚Versprechungen‘ der Zentralisierungsdruck seitens der Pforte stetig gewachsen sei, um schließlich seinen ‚logischen‘ Abschluß zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Auslöschung der Emirate Kurdistans zu finden.
Zum einen muß es bedenklich stimmen, daß hier zwei ganze Jahrhunderte komplexer gesellschaftlicher Entwicklung reduziert werden auf den Aspekt, [– S.118 –] ‚Vorgeschichte‘ der zwischen 1830 und 1850 statthabenden Kämpfe zwischen der Zentralmacht und ihren Vasallen in Bitlis, Cizre und Rawanduz usw. zu sein[3], zum anderen läßt die weiter oben in diesem Abschnitt dargestellte Erosion der osmanischen Zentralmacht während des 17./18. Jahrhunderts solch eine lineare Entwicklung sehr unwahrscheinlich erscheinen. Mein Eindruck ist, daß hier an die Stelle einer genaueren Beschäftigung mit den damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen eine Rückprojektion heutiger Analysen über den „kolonialen“ Status Kurdistans innerhalb der Türkischen Republik getreten ist. Das heißt, durch eine anachronistische Verwechslung der Staatsraison des Osmanischen Reiches mit türkisch-nationalen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts erscheint Kurdistan als Opfer einer zielstrebig seit 1515 vorangetriebenen türkischen „Kolonialisierung“.
In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung zu sehen, daß es 1639 zu einer „Teilung Kurdistans“ gekommen sei[4], ein Stereotyp, mit dem Kategorien zur Anwendung kommen, die zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Osmanischem und Persischem Reich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gänzlich unpassend sind. Zunächst einmal muß man sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß das Osmanische Reich — vom Persischen ganz zu schweigen — selbst auf dem Gipfelpunkt seiner Macht niemals eine „Territorialherrschaft“ ausübte, die mit heutigen Vorstellungen vergleichbar gewesen wäre.[5] Als ein [– S.119 –] dynastisches Reich definierte es sich über sein Zentrum, nicht über seine Grenzen.[6] Die allgemeine Feststellung de Planhols:
„Ein islamischer Staat ist zunächst eine Dynastie und eine Hauptstadt, eine Stadt, in der der Fürst in der Großen Moschee das Freitagsgebet in seinem Namen sprechen lassen kann. Von dieser Hauptstadt aus erstreckt sich die Autorität der Macht in einem mehr oder weniger weiten, doch meist ununterbrochenen Radius, um schließlich unbestimmter und bloß nominell zu werden. Jenseits des kontrollierten und beherrschten Landes, das der Stadt und der Armee zum Unterhalt dient, kommt man allmählich in Zonen bäuerlicher Unbotmäßigkeit, besonders wenn ein hinderndes Relief die Kontrolle des Landes erschwert.“[7]
trifft auch auf das Osmanische Reich zu. Man darf sich nicht täuschen lassen von den konventionellen historischen Karten, die mit ihren exakten Linienziehungen und präzis umrissenen Einfärbungen vorgeben, ebenso scharf begrenzte Staatsterritorien für alle möglichen Zeitalter festlegen zu können — ein Problem, daß der Geschichtswissenschaft natürlich nicht unbekannt ist.[8] Die Hoheit der Osmanlı endete an keiner genau definierbaren Stelle, theoretisch konnten sie im 16. Jahrhundert sogar die Souveränität über das Habsburger Reich, Venedig und Polen beanspruchen, da diese Staaten allesamt tributpflichtig waren.[9] Jenseits ihrer europäischen und anatolischen Kernprovinzen konnten die Osmanen immer nur die großen Zentren und deren Umfeld tatsächlich beherrschen. Dahinter [– S.120 –] verschwamm die staatliche Autorität in unzähligen Abschattierungen von Loyalität und Unbotmäßigkeit der lokalen Machthaber. Grenzen im modernen Sinne mit Fahnenmasten und permanent präsenten Grenzschutztruppen diesseits und jenseits einer imaginären Linie auf dem Boden hatte das Osmanische Reich im 17. Jahrhundert nicht. „Grenzen“ kannte es höchstens im Sinne eines labilen „Indifferenzzustandes von Defensive und Offensive“.[10]
Nun ist es schon fast ein Standard in der Kurdistanliteratur, zum Beleg für die Kontinuität der „Teilung Kurdistans“ durch Großmachtwillkür anzuführen, daß die „Grenzen“ zwischen Osmanischem und Persischem Reich seit dem Friedensschluß von 1639 praktisch bis auf den heutigen Tag unverändert geblieben seien:
„Die Teilung Kurdistans und des Volkes vom kurdischen Stamm, beruht [...] auf eben diesem KASR-I SIRIN-Abkommen von 1639, als die heute noch gültige Grenzziehung zwischen der Türkei und dem Iran festgelegt wurde.“[11]
„Eine einschneidende Änderung brachte 1639 der Vertrag von Zuhab zwischen den Osmanen unter Sultan Murad IV und den Persern unter Abbas II, der — abgesehen von zeitweiligen Verschiebungen — die heutige Grenze festlegte und beiderseits als verbindlich anerkannte.“[12]
„Sultan Murād IV. unterzeichnete [...] (1639) mit Persien einen Vertrag, der bis ins XIX.Jahrhundert der türkisch-persischen Grenzregulierung zugrunde lag. Damit aber wurde Kurdistan zwischen den beiden Reichen aufgeteilt.“[13]
Eine genauere Lektüre des Textes, der Mitte Mai 1639 im großherrlichen Feldlager auf der Ebene von Zuhab zwischen Murad IV. und einem Bevollmächtigten Schah Safi I. ausgehandelt wurde, scheint mir allerdings diese Interpretationen nicht zu unterstützen.[14] Von einer Grenzziehung im modernen Sinne kann keine Rede sein; man verständigte sich vielmehr darüber, welche befestigten Plätze wem untertan sein sollten, denn staatliche Autorität konnte unter den damaligen Umständen nur von solchen ‚Inseln‘ ausgehen. Die Hoheit über ein „legal abgegrenztes Territorium“[15] stand nicht zur Diskussion. Außerdem blieb Kurdistan praktisch bis zum Ende des Osmanischen Reiches eine für die [– S.121 –] Zentralgewalt nicht wirklich zu kontrollierende Region, deren häufige Unbotmäßigkeit hingenommen werden mußte und zumeist nur mit Zugeständnissen wettgemacht werden konnte. Die Verhältnisse auf der nominell persischen Seite sahen sogar noch konfuser aus, da das Persische Reich sich als Staat bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht über den Status einer Stammeskonföderation erhob.[16] Echte Anstrengungen zu einer dauerhaften Fixierung der Grenze im modernen, vermessungstechnischen Sinne wurden erst 1913/14 auf Druck Englands und Rußlands unternommen und trafen prompt auf massiven Widerstand der örtlichen Bevölkerung.[17]
Der Ausdruck „Teilung Kurdistans“ birgt aber noch weitere Tücken: So scheint eine Assoziation zu den „Teilungen Polens“ zunächst berechtigt und ist von jenen AutorInnen, die von einer „ersten“ und „zweiten“ Teilung Kurdistans sprechen[18], wohl auch beabsichtigt; tatsächlich jedoch existiert die durch die Begriffswahl nahegelegte Parallele nicht. Teilen kann man nämlich nur etwas, was eins ist, also eine durchgängig einheitliche Substanz aufweist, und Polen hatte schon mehrere Jahrhunderte Bestand als ein Königreich, als sein Staatsterritorium zerteilt und anderen Staaten zugeschlagen wurde, während ein Staat „Kurdistan“ weder vor noch nach 1639 jemals existiert hat und somit damals auch nicht geteilt werden konnte.
Sieht man von der staatlichen Dimension ab und versteht „Kurdistan“ als geographisch-physikalischen Raum, so erscheint der Begriff „Teilung“ schon allein deshalb unangemessen, weil die Erdoberfläche als solche sich nicht wie eine Beute teilen und davonschleppen läßt. „Teilen“ sowie „Zusammenfassen“ des Raumes zu Einheiten sind rein menschliche Transaktionen, als einziger physikalischer Aspekt einer solchen Grenzziehung käme allenfalls eine eventuell eintretende Einschränkung menschlicher Bewegungsfreiheit im Raum infrage, [– S.122 –] etwa dergestalt, daß Menschen nicht mehr umstandslos von Ort A nach Ort B gelangen können. Doch muß man sich — wie schon oben erläutert — die Realität der damaligen Grenzen ganz anders vorstellen als etwa nach dem Modell „Berliner Mauer“, nämlich eher so, wie auch heute noch ein Grenzübertritt von Jordanien nach dem Irak vonstatten geht: Nach Verlassen des letzten festen Ortes, dessen lokale Obrigkeit dem einen Herrscher hörig ist, durchquert man Hunderte Kilometer staatlich völlig indifferenter Wüste, um dann erst wieder bei Erreichen des nächsten festen Ortes überhaupt Anzeichen von Hoheit festzustellen, nur eben anderer Hoheit. Eine Staatsgrenze stellte damals kein relevantes Hindernis für die Freizügigkeit im Raum dar, jedenfalls haben sich die viehzüchtenden Stämme bei ihren saisonalen Wanderungen mit ihren Herden nie um theoretische Linien auf irgendwelchen Karten gekümmert.[19] Erst seitdem in diesem Jahrhundert die Möglichkeit des Angriffs aus der Luft hinzukam, reichte das Zwangsinstrumentarium der beteiligten Staaten aus, um auch die Nomaden zur ‚Respektierung‘ von Grenzen zu zwingen.[20]
Es wurde also mit dem Vertrag von 1639 weder der Raum als Staatsterritorium noch der physikalische Raum als Ort menschlicher Bewegungen und Begegnungen geteilt[21], Gegenstand waren allein Ansprüche auf Herrschaft über Menschen.[22] Wenn trotzdem von einer „Teilung Kurdistans“ die Rede ist, dann steht der einheitliche räumliche Ausdruck „Kurdistan“ letztlich nicht für ein Stück Erdoberfläche, sondern für eine angenommene Einheit von Menschen: „Kurdistan“ bildet nämlich nur dann ein teilungsfähiges Ganzes, sofern man es als kollektiven Wohnsitz einer einheitlichen Nation von „Kurden“ begreift. Die [– S.123 –] Verwendung des Begriffs „Teilung Kurdistans“ hat dann notwendig auch die Annahme von „Fremdherrschaft“ zur Folge, denn eine Nation zu teilen und in getrennte Herrschaftsgebilde einzugliedern, bedeutet in der bewußten Logik, ihr Recht auf Selbstbestimmung zu negieren. Somit impliziert der Begriff aus sich heraus schon jenen Wust von Postulaten und Fehlurteilen, dessen Untauglichkeit für die historische Analyse ich bereits im Abschnitt „Fremdherrschaft“ behandelt habe. Wenn man im übrigen bedenkt, daß der Niedergang der osmanischen Zentralgewalt im vollen Gange war und etwa die 1638 unter großem Aufwand von den Safaviden zurückeroberte Provinz Bagdad sogleich wieder in einen Zustand der Halbautonomie zurückfiel und sich ab 1704 endgültig in ein Vasallenfürstentum verwandelte, dann mag es nicht recht einleuchten, warum sich durch den Vertrag von Zuhab Grundsätzliches im Verhältnis zwischen Pforte und der Machtelite Kurdistans hätte verändert haben sollen.[23]
Ich gehe vielmehr davon aus, daß die fast dreihundert Jahre, die seit der Kooption Kurdistans in das Osmanische Reich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vergingen, bei allen Turbulenzen an der Ereignisoberfläche eine Phase größter sozialer und politischer Stabilität darstellten. Allerdings könnte man ebensogut Stagnation darin erblicken, denn trotz der periodisch wiederkehrenden Kriege mit Persien, später auch mit Rußland[24], die regelmäßig auch Kurdistan betrafen, trotz aller lokalen Aufstände und Kriege zwischen den einzelnen Emiraten und der sich dadurch ergebenden politischen Kräfteverschiebungen unter den Herrschenden sowie des Auftretens mindestens eines mahdis[25] , blieben die grundlegenden Verhältnisse innerhalb der kurdischen Gesellschaft weitgehend unberührt.
Seit den Anfängen des 16. Jahrhunderts hatten sich weder die sozio-politischen Organisationsformen noch die Produktionstechniken, noch die Formen der Aneignung des Mehrprodukts wesentlich geändert. Es waren immer noch die gleichen Emire und Stammeschefs, die — anders als etwa die kommerzialisierte osmanische ayan-Schicht — mit den überkommenen Formen der einfachen Tributabpressung das unverändert schmale Mehrprodukt der vielen kleinen Subsistenzeinheiten abschöpften. Selbst jene Umwälzungen, die das Osmanische Reich gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den Grundfesten erschütterten, hatten in Kurdistan kaum Auswirkungen gehabt, denn die timars der [– S.124 –] dortigen Herren konnten kaum eingezogen werden[26], und auch der dramatische Autoritätsschwund der Zentralgewalt — überall sonst im Reich begleitet vom Aufstieg regionaler und lokaler Usurpatoren, erhöhter Ausbeutung und Verfall der sozialen Sicherheit — bedeutete für die östliche Peripherie keinen Verlust an Normalität.[27] Im Gegenteil, die alteingesessenen Herrschaften konnten dort ihre Autorität weiter festigen.
Ebenso wirkten sich die mit dem allgemeinen Niedergang des Osmanischen Reiches verbundenen ökonomischen Aspekte, wie der Zusammenbruch des Gewürzhandels mit Indien, nicht so stark auf die Peripherie aus, denn die Pfefferkarawanen waren dem unwegsamen Bergterrain schon zu Uzun Hasans Zeiten ausgewichen.[28] Der Handel mit Rohseide aus Gilan und Shirvan hingegen verebbte nie ganz. Bitlis beispielsweise war auf der Route der Seidenkarawanen von Täbris nach Aleppo gelegen und fuhr fort, von seiner Rolle als Umschlagsplatz zu profitieren — zumindest solange kriegsbedingte Handelsblockaden das Geschäft nicht unterbanden.[29]
So waren die Grundlagen der gesellschaftlichen Beziehungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts gegenüber den Zeiten Idris Bitlisis und Sultan Selims I. nahezu unverändert: Die Stammesleute herrschten über die reaya, welche fügsam (oder zähneknirschend) ihr Mehrprodukt ablieferten. Die von der Pforte anerkannten Emire entfalteten ihren Hofstaat und sahen zu, daß die Streitigkeiten unter den Stammesleuten nicht ausstarben, aber auch nicht überhandnahmen. Und die Vorrangstellung des Nomadentums fand seine Schranken einzig in den Interessen der städtischen Eliten, besonders in jenen Provinzzentren wie Diyarbakır, Silvan oder Mardin, wo es keine „kurdischen“ Sonderrechte gab und osmanische ayan das Sagen hatten. Erst nach 1812 traten fühlbare Veränderungen an diesen Zuständen auf. [– S.125 –]
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