Nationalismus in Kurdistan (1993)
Auch wenn es zunächst paradox klingen mag, nicht nur die Emirate in der östlichen Peripherie näherten sich in ihrer Struktur der des Osmanischen Reiches an, sondern umgekehrt erfuhr auch die reguläre osmanische Provinzialherrschaft im Laufe des 17./18. Jahrhunderts Veränderungen, die sie den Verhältnissen in Kurdistan durchaus ähnlicher werden ließ. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts begann sich z.B. der Begriff eyalet — bis dato für halbautonome Vasallenherrschaften wie jene in Kurdistan reserviert — als Bezeichnung aller Reichsprovinzen durchzusetzen; ein Ausdruck dafür, daß die osmanischen beylerbeyis in ihrem Gebaren gegenüber der Pforte fast genauso selbständig geworden waren [– S.109 –] wie die Potentaten von Bitlis, Cizre oder Sulaymaniya.[1] Dafür waren allerdings ganz andere Faktoren ausschlaggebend, als etwa die Rückwirkung der Emirate auf das Gesamtreich.
Mit dem Ende des 16. Jahrhunderts hatte das Osmanische Reich den Höhepunkt seiner Macht überschritten. Der sogenannte ‚Fünfzehnjährige Krieg‘ gegen Österreich (1593-1606), in dem die sipahis zu Tausenden im Kugelhagel der habsburger Söldnerheere verbluteten, deckte schonunglos die Hinfälligkeit der traditionellen sipahi-Kavallerie auf.[2] Anders als die permanent im Training stehenden Eliteverbände, die in Europa so gefürchteten „Janitscharen“[3], zeigten sich die nur während der sommerlichen ‚Kriegssaison‘ mobilisierten sipahis unfähig und auch unwillig, die gestiegene Bedeutung von Artillerie und Feuerwaffen zu akzeptieren. War die Eroberung befestigter Städte immer schon die Domäne der — für die damalige Zeit — hochtechnisierten Janitscharen gewesen, so erwies sich die sipahi-Kavallerie nun auch in offener Feldschlacht als nutzloser Ballast.[4]
Für die Finanzierung des unumgänglichen Ausbaus des Janitscharenkorps, das monatlich in Silber entsoldet sein wollte, und der anderen Folgekosten der veränderten Formen der Kriegsführung (Unterhaltung großer Waffenmanufakturen und kostspieliger Festungsanlagen) bediente sich die Pforte neben der vermehrten Erhebung von Steuern in Münze (wie der avariz) hauptsächlich der Institution des iltizams, der Steuerpacht.[5] İltizam bedeutete, daß der Staat das Recht auf die Erhebung bestimmter Abgaben (z.B. Transitzölle in einem Hafen) an kapitalkräftige Interessenten vergab, die die durchschnittlich zu erwartende Jahreseinnahme im voraus an die Staatskasse abführten. Der Pächter hatte anschließend bei der Wahrnehmung der so an ihn delegierten Staatsaufgaben selbst dafür zu sorgen, daß mehr für ihn abfiel, als er eingesetzt hatte.[6] Für den unter der Form der pauschalen Vorauszahlung erlangten zinslosen Kredit [– S.110 –] nahm die Pforte auch die daraus resultierende Überausbeutung der sultanlichen Revenuequellen billigend in Kauf, denn die Erhaltung der militärischen Schlagkraft ging über alles.
Je mehr mit dem Ausbau des stehenden Heeres der Geldbedarf der Pforte stieg, desto weiter wurde das Steuerpachtwesen ausgedehnt, was zum einen die — nicht unbegrenzt leidensfähigen — Lieferanten des Tributs, die Bauern, zur Flucht in die Berge trieb und zum anderen die verbliebenen sipahis rebellisch machte, denn je mehr ihr militärischer Nutzen gegen Null sank, desto unnachgiebiger drang die Pforte auf die Umwandlung von timars in Steuerpachten.[7] Solange jährlich noch neue Revenuequellen ‚erschlossen‘ wurden, blieben diese Turbulenzen beherrschbar, doch Ende des 16. Jahrhunderts war das Reich ringsum endgültig an die Grenzen seiner Expansionskraft gestoßen und schon die bloße Erhaltung des Reichsterritoriums begann, den Löwenanteil der Revenuen zu verschlucken.[8] Die gewaltige Aufblähung der besoldeten Infanterie ging zudem einher mit einem Absinken ihrer militärischen Schlagkraft, da an die Stelle der früher geübten scharfen Befähigungsprüfung notgedrungen ein wahlloses Rekrutierungssystem trat, wodurch auch noch die Disziplin in der Truppe litt.[9]
Das Ende der auf erfolgreicher Expansion gegründeten Einheit innerhalb der herrschenden Elite, sinnfällig verdeutlicht in der raschen Auflösung einer ganzen Klasse von staatstragenden Funktionären, der sipahis,binnen weniger Jahrzehnte[10], während gleichzeitig die Masse der reaya durch den gnadenlosen Anzug der Steuerschraube zum Aufruhr getrieben wurde, war mehr, als das Reich verkraften konnte.[11] Das aufgestaute Konfliktpotential entlud sich endlich in den gewaltigen celali-Aufständen der Zeit von 1598-1610, die Kernlande des Osmanischen Reiches gingen dabei in einem Inferno von Verwüstung, Raub und [– S.111 –] Hungersnöten unter.[12] In manchen Regionen blieb buchstäblich kein einziges Dorf mehr übrig.[13] Die Pforte vermochte sich letztlich in einer Aufbietung aller Reserven zu behaupten, sowohl an den äußeren Fronten gegenüber dem Habsburger Reich und den Safaviden, die aus dem Chaos in Anatolien Profit zu schlagen versucht hatten, als auch im Inneren: die celali-Rebellionen wurden im Blut erstickt. Das Reich hatte so zwar bewiesen, daß es trotz aller Schwierigkeiten immer noch eine überragende Großmacht war[14] , jedoch wurde die Gesellschaftsordnung seiner klassischen Periode bei diesem Gewaltakt endgültig vernichtet.
Da das Janitscharenkorps sich zusehends in ein für die Pforte nur noch schwer zu kontrollierendes Machtkartell verwandelte[15], hatte man, um ‚Sicherheit und Ordnung‘ in der Peripherie wenigstens teilweise wiederherzustellen, den Provinzstatthaltern, den beylerbeyis, notgedrungen die Kontrolle über die regionalen Revenuequellen abtreten müssen, damit diese eigene Truppen aufstellen konnten.[16] Außerdem wurden diese gegen Sold angeheuerten Privattruppen dringend benötigt, um die durch den unentwegten Aderlaß in endlosen Kriegen stark gelichteten Reihen des Reichsheeres aufzufüllen. Gerade aber die Verfügungsgewalt über Söldnertruppen, die nur ihnen allein unterstellt waren, verleitete die beylerbeyis dazu, ihren Anteil am Mehrprodukt auf Kosten der Pforte noch mehr zu vergrößern.[17]
„Das Ergebnis war, daß zur Mitte des 17. Jahrhunderts an allen Ecken des Reiches beylerbeyis auftraten, die enorme wirtschaftliche Ressourcen kontrollierten und über umfangreiche Gefolgschaften verfügten, jede so groß wie eine kleine Armee.“[18] (meine Übers.; engl. Original) [– S.112 –]
So gingen die Einkünfte der zentralen Staatskasse im 17. Jahrhundert also nicht nur absolut zurück durch den Niedergang des früher so einträglichen Asienhandels[19] und die auf Jahrhunderte nicht wieder zu behebende Zerrüttung der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft in weiten Teilen des Landes[20], es setzte obendrein ein verschärfter Verteilungskampf um den verbliebenen Betrag ein.
Erst als Mitte des 17. Jahrhunderts aufgrund einer fast zwei Jahre andauernden Blockade der Dardanellen durch venezianischen Kriegsschiffe die Versorgung der Hauptstadt selbst zusammenbrach und so das ganze Ausmaß der Schwächung des Reiches offengelegt wurde, konnte unter dem Eindruck der existenziellen Krise eine Art Notstandsdiktatur installiert werden. In dieser sogenannten „Ära der Köprülü-Wesire“ wurde auch der Staatsapparat in der Provinz einer rigorosen Säuberungswelle unterzogen.[21] Es gelang der Zentralgewalt zwar nie mehr, alle Fraktionen und Schichten der Gesellschaft gleichmäßig ihrer Kontrolle zu unterwerfen, aber es war möglich, die diversen Machtgruppen und Kraftzentren so zu schwächen und gegeneinander auszuspielen, daß keine allein stark genug war, die Zentralgewalt herauszufordern.
Um etwa die beylerbeyis an der Herausbildung und Festigung einer eigenen Hausmacht zu hindern, begann die Pforte, die Inhaber dieser Ämter immer häufiger zu versetzen.[22] Dadurch blieb den Kandidaten keine Zeit, große Klientelnetze für eigene Machtpläne aufzubauen, andererseits litt notwendig ihre Verwaltungskompetenz darunter, denn in der Kürze konnten sie sich kaum ein eigenes Bild von den regionalen Gegebenheiten machen, was sie in Abhängigkeit von der Kooperation mit den eingesessenen Größen trieb, die sie ja eigentlich kontrollieren sollten. Weiterhin wies man den beylerbeyis zu ihrer persönlichen finanziellen Versorgung möglichst sancaks oder hass außerhalb ihres eyalets zu, die diese nur durch Stellvertreter (mütesselim) ‚bewirtschaften‘ lassen konnten — auch hierbei boten sich ortskundigen Notabeln als effektivste Eintreiber an —, und drittens stärkte die Pforte den lokalen kadıs den Rücken, [– S.113 –] um so den Gouverneuren vor Ort eine weitere Kraft entgegenzusetzen. Ungewollt führte diese „Nullsummen“-Politik zu einer „Lokalisierung der Macht“.[23]
War das 17. Jahrhundert noch hauptsächlich gekennzeichnet vom Konflikt zwischen Zentralmacht und Provinzgouverneuren[24] , also der obersten und mittleren Instanzenebene, wurde das Kräftespiel mit dem Aufkommen der mächtigen neuen Schicht der Lokalpotentaten, den ayan, im beginnenden 18. Jahrhundert deutlich komplizierter. Die ayan wuchsen in das Kompetenzvakuum hinein, das die Patt-Situation zwischen beylerbeyis und Pforte hinterlassen hatte.[25] Ihre ökonomisch-politische Grundlage bildeten das mütesselim-Wesen und die Steuerpacht.[26] Sie organisierten sich in städtischen „Räten“ unter dem Vorsitz des örtlichen kadıs, und während die beylerbeyis rasch wechselten, konnten sie ihre Klientelnetze vor Ort mit jeder Periode als mütesselim oder Steuerpächter weiter festigen, bis am Ende die ayan-Räte auch die Aufstellung der Steuerregister sowie die Vergabe von Steuerpachten und mütesselim-Posten kontrollierten.[27] Während des 18. Jahrhunderts und selbst noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts stellten sie daher die eigentlichen Herren in den osmanischen Provinzen dar.[28]
Die Pforte arrangierte sich notgedrungen mit den Gegebenheiten und bezog die neue Kraft in ihre divide-et-impera-Strategie ein, indem sie einerseits ayan mit Privilegien bedachte oder sie ihnen verweigerte und andererseits die jeweiligen Konkurrenten im Wartestand aufstachelte oder fallenließ. Trotz der teilweise beträchtlichen Machtvollkommenheit der ayan gelang es so, sie immer in das osmanische Gesamtsystem eingebunden zu halten; die Pforte war und blieb der Fixpunkt ihres Buhlens um Protektion und Anerkennung.[29] Was die Pforte allerdings nicht verhindern konnte, war, daß die einflußreichsten ayan sich die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über den Boden sicherten und sich dadurch zu faktischen Grundherren aufschwangen.[30] [– S.114 –]
Mangels staatlicher Rückendeckung bei der Eintreibung der anstehenden Abgaben hatten auch sie Söldnertruppen aufgestellt, um ihr per iltizam erkauftes Monopol — etwa auf die Ausbeutung von Bauerndörfern — realisieren zu können.[31] Obwohl sie mit ihren Privatarmeen die Bauern erbarmungslos auspreßten, stellten sie zugleich eine Art ‚öffentliche Sicherheit‘ wieder her, indem sie durchsetzten, daß außer ihnen niemand anderes die Dörfler zusätzlich ausplünderte.[32] Im Vergleich zur früheren pax ottomanica war ein solches ayan-Protektorat jedoch nur ein minderwertiges Suggorat, da seine allein auf faktische Macht gegründete Dauer angesichts der Vielzahl an konkurrierenden Machtanwärtern immer fraglich blieb.[33] Trotzdem kam es zu einer vorläufigen Konsolidierung der desolaten Landwirtschaft[34], wobei allerdings eine Rückkehr zur alten Produktionsautonomie der halbautarken Dorfeinheiten unter dem Regime der ayan unmöglich war.
Da Geldvermögen die Basis ihrer Machtstellung bildete, waren die neuen Herren bestrebt, den Anbau von Produkten, die sich auf den regionalen Märkten versilbern ließen, zu forcieren. Sie mischten sich dazu direkt in die Produktion ein und nahmen vor allem die Arbeitskraft der Bauern unter verschärfte Kontrolle, denn das zentrale Problem war nicht so sehr der Besitz von Land — gerade in Anatolien waren mit dem Niedergang des Nomadentums große Reserven an wieder zu erschließendem Land freigeworden —, sondern die Verfügungsgewalt über Arbeitskraft.[35] Wenn die ayan den reaya immer höhere [– S.115 –] Abgaben auferlegten, zielten sie weniger auf deren Vertreibung als auf die Aneignung ihrer Arbeitskraft durch Schuldknechtschaft, um sie dann auf großen Gütern (sog. çiftlik) zusammenfassen zu können. Obwohl sich dadurch das Verhältnis der urbanen ayan zu ‚ihren‘ reaya — zumindest in der äußeren Form — einer Art von Leibeigenschaft näherte, kann es nur bedingt ‚feudal‘ genannt werden, da die Verfügung über Boden und Arbeitskraft für die ayan nur eine Form der Kapitalvermehrung neben ihren anderweitigen Geldgeschäften in Ämtern, Lizenzen, Handel und Wucher darstellte.[36] Die Auswirkung der ayan-Herrschaft war denn auch eher eine Kommerzialisierung als eine Feudalisierung[37] , d.h. eine Zurückdrängung der Subsistenzwirtschaft zugunsten einer verstärkt marktorientierten Produktion.
Mit kapitalistischen Formen hatte diese Kommerzialisierung dabei wenig gemeinsam. Den Absatz ihrer ‚Waren‘ sicherte nicht deren Konkurrenzfähigkeit auf einem offenen Markt, sondern militärische und politische Machtentfaltung, also Marktbeherrschung durch außer-ökonomische Mittel. Nicht Investitionen zur Produktivitätssteigerung vermehrten ihr Vermögen, sondern die Entfaltung hinlänglicher Feuerkraft, das Buhlen um die richtige Protektion und nicht zuletzt die Demonstration von Macht in Luxus und Pracht.[38] Langfristig allerdings führte das zusammen mit der ungebremsten Ausbeutung der reaya nach einem anfänglichen Aufschwung zu Stagnation und schleichendem Ruin in der Landwirtschaft.
Betrachtet man nun die Entwicklung der „kurdischen“ Sonderrechte im Zusammenhang mit dem Aufkommen der ayan, ist die oben vermerkte ‚wundersame Vermehrung‘ dieser Privilegien kein Rätsel mehr. Im Wettkampf um einen möglichst großen Anteil am abschöpfbaren Mehrprodukt der reaya-Klasse hatte die tribale Elite gar keine schlechte Ausgangsposition, da ihren Exponenten im Gegensatz zu vielen anderen Mitbewerbern von Hause aus eine schlagkräftige Gefolgschaft zu Gebote stand. So wie sich in den von der osmanischen Elite dominierten Städten (z.B. Diyarbakır, Mardin oder Siirt) die Herrschaft der ayan über das Umland durchsetzte, gingen die Bergregionen und ihre Ausläufer [– S.116 –] in die Hände der tribalen Elite der kurdischen Gesellschaft über.[39] Selbst in Regionen, die weit von ihren angestammten Gebieten entfernt lagen, konnten sich einige Stammesfürsten zu sog. derebeys („Talfürsten“) aufschwingen.
Es wird kein Zufall sein, daß gerade im 17. Jahrhundert immer mehr Stämme von der zuvor mehrheitlich betriebenen Kurzstreckenwanderung zwischen Sommeralm und festen Winterquartieren in den Bergtälern zu Wanderungen über lange Strecken übergingen. Zum einen nutzten sie das Vakuum, das die staatlich forcierte Zerschlagung der Turkmenenkonföderationen hinterlassen hatte, zum anderen aber muß der Anreiz, sich auch einen ‚Claim‘ abzustecken, groß gewesen sein. Unter solchen Bedingungen konnte das Vollnomadentum innerhalb des tribalen Sektors der kurdischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert stetig zunehmen und erreichte es seinen Höhepunkt erst Mitte des 19. Jahrhunderts, d.h. zu einem Zeitpunkt, als die Nomaden Westanatoliens sich gegenüber den Seßhaften bereits hoffnungslos in der Defensive befanden.[40] Die Pforte war an dieser Entwicklung selbst nicht ganz unschuldig, hatte sie doch gezielt Nomadenstämme aus Kurdistan auf das armenische Hochplateau verpflanzt, um sie als Grenzschutz gegenüber dem safavidischen Persien einzusetzen.[41] Die dabei großzügig gewährten Privilegien und Erbrechte kamen einer staatlichen Sanktionierung der Vorherrschaft der Nomaden über die seßhaften armenisch-christlichen Bauern gleich.[42] Auf diese und andere, weniger gesetzestreue Weisen entstanden unzählige derebey-Herrschaften, erlangten sie teilweise staatliche Anerkennung[43] und vergingen wieder, vernichtet durch Angriffe anderer derebeys, durch Intrigen der Pforte oder durch eine Kombination von beidem.[44] [– S.117 –]
zurück zu Kapitel „Kurdistan unter den Osmanen“
weiter zum Kapitel „Die Auswirkungen auf Kurdistan“
weiter zum
nächsten Kapitel
zurück zum
vorigen Kapitel
aufwärts zum
Inhaltsverzeichnis
Fußnoten: