Nationalismus in Kurdistan (1993)
Nach dem Abflauen der langwierigen Kämpfe[1] ging man um 1517 an die Eingliederung Kurdistans in die osmanische Reichsstruktur. In einem klugen Schachzug hatte Sultan Selim I. für deren praktische Ausführung, die mehrere Jahre in Anspruch nahm, einen in Bitlis geborenen Granden zu seinem [– S.100 –] Generalbevollmächtigten ernannt.[2] Idris Bitlisi war ein in den gebildeten Kreisen der kurdischen Gesellschaft wohl bekannter und zudem politisch einflußreicher Gelehrter[3], der eine Regelung ganz im Sinne der etablierten Stammeselite aushandelte, die stark von der sonst im Osmanischen Reich gültigen Struktur abwich.[4]
Für die mächtigsten Herrscherhäuser, wie z.B. Hakkâri und Botan, wurden sogenannte kürd hükûmetis („kurdische Herrschaften“) eingerichtet. Diese waren völlig autonom, einzig der Emir beschwor dem Sultan seine Treue. Er zahlte keinen Tribut, stellte keine Soldaten und brauchte keine Ländereien an staatlich bestallte sipahis abzutreten.[5] Kurzum: es handelte sich um Vasallenfürstentümer außerhalb der Verfügungsgewalt des Sultans, die sich einzig dazu verpflichteten, nicht die Safaviden zu unterstützen. Daneben gab es für die nicht ganz so einflußreichen Potentaten die akrad beyliğis („kurdische Regierungsbezirke“). Um deren Besonderheit ermessen zu können, muß man sich kurz die normale Verwaltungsstruktur des Osmanischen Reiches vergegenwärtigen. Basisverwaltungeinheit in allen Provinzen war üblicherweise das sancak („Regierungsbezirk“).[6] Es umfaßte durchschnittlich (grob geschätzt) 100 000 Einwohner, die sich einerseits um vielleicht hundert timars und ein dutzend Groß-timars, sogenannte zeamet, gruppierten und andererseits unter die Gerichtsbarkeit mehrerer kazas („Gerichtsbezirke“) fielen.[7] Mehrere sancaks [– S.101 –] bildeten zusammen ein vilayet („Verwaltungseinheit“, „Provinz“), das einem beylerbeyi („Herr der Herren“) unterstand. Die akrad beyliğis entsprachen nun auf dem Papier einem normalen sancak, d.h. sie waren formell einem beylerbeyi untergeordnet und intern sowohl in timars als auch kazas gegliedert.
Das Amt des sancak-beys stellte jedoch das erbliche Vorrecht der eingesessenen Herrscherfamilien dar. Der beylerbeyi konnte nur insoweit in die Thronfolge eingreifen, als er den Erben bestätigen mußte und daher die Wahl des ihm genehmsten Anwärters durchsetzen konnte. Es war ihm jedoch unmöglich, die ganze Dynastie abzusetzen.[8] Überdies wurden die timars in den akrad beyliğis ebenfalls erblich an die Gefolgsleute des Emirs vergeben. Dazwischen gab es allerdings auch große havass-ı hümayun („Krongüter“), die ihre Revenuen direkt an die Pforte ablieferten. Da der Emir jedoch fast alle wichtigen Ämter persönlich vergab und selbst die kadıs („Richter“) auswählte, war die Situation in einem beylik wie Bitlis insgesamt kaum verschieden von der in den auch offiziell als autonom anerkannten kürd hükûmetis. Neben diesen „kurdischen“[9] Sonderrechten existierten allerdings auch sancaks, in denen die timars an abrufbare sipahis vergeben wurden und allein von der Pforte ausgewählte sancak-beys die Macht ausübten, so z.B. in Diyarbakır und Mardin.
Es ist sicher kein Zufall, daß gerade jene Regionen unter die unmittelbare Herrschaftsgewalt der Pforte gerieten, die zuvor längere Zeit mongolischen, turkmenischen oder safavidischen Statthaltern unterstanden. Das Arrangement zwischen den fürstlichen Spitzen der kurdischen Gesellschaft und der Pforte fixierte einfach den damals aktuellen Stand der Machtverhältnisse: Wo es starke einheimische Herren gab, wurden diese mit einer großherrlichen Investitur bedacht, wo hingegen die lokalen Anwärter in den Machtkämpfen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte den Kürzeren gezogen hatten, nahmen osmanische beys den Platz der besiegten safavidischen Statthalter ein.
In der — für heutige kurdische Intellektuelle durchaus typischen — Darstellung Kendal Nezans wird diese Entwicklung anders interpretiert: Die Osmanen hätten „den Kurden“ bloß jene Gebiete „überlassen“, in denen „jede militärische Kontrolle reine Glückssache“ bliebe, sich selbst hingegen die „bedeutende[n] städtischen Zentren wie Diyarbakır, Siirt, Mardin, Kharpout usw“ gesichert.[10] Unausgesprochen liegt dieser These die Ansicht zugrunde, Städte wie Diyarbakır oder Mardin seien schon immer „kurdisch“ gewesen und gehörten folglich unter „kurdische“ Hoheit — sonst läge „Fremdherrschaft“ vor. [– S.102 –]
Wie wenig solche Konzepte mit der historischen Realität zu tun haben, läßt sich am Beispiel der Stadt Mardin ganz gut zeigen: Jahrzehntelang ein Streitapfel zwischen einer eingesessenen turkmenischen Dynastie (den „Ortokiden“), den Kara-Koyunlu und den Ak-Koyunlu, ging Mardin letztlich in den festen Besitz der Ak-Koyunlu über, für die die Stadt immer ein wichtiges Standbein in der Provinz Diyarbakır darstellte. Nicht zufällig hielt sich der Widerstand der Ak-Koyunlu gegen die Safaviden hier (neben Bagdad) am längsten, nämlich bis 1507.[11] Einmal eingenommen jedoch blieb die schwer bezwingbare Zitadelle von Mardin auch während der Aufstände nach Çaldıran fest in safavidischer Hand: Als anti-safavidisch gesinnten Stammeskriegern ein Einbruch nach Mardin gelang und sie an die Belagerung besagter Zitadelle gehen wollten, ergriffen die Bewohner Partei, vertrieben die Eindringlinge und luden die herannahenden safavidischen Entsatztruppen ein, ganz Mardin wieder in Besitz zu nehmen. Mit nationalen Souveränitätsvorbehalten à la Nezan scheint man sich damals nicht belastet zu haben.[12] Erst 1517 konnte Mardin von einer großen, aus Syrien kommenden osmanischen Expedition eingenommen werden. Folglich ging die Stadt in direkten osmanischen Besitz über.[13]
Anders stand es in Bitlis, einer früher hauptsächlich von Christen bewohnten Stadt, die sich jedoch bereits seit dem 14. Jahrhundert in der Hand der Stammeskonföderation der Ruzagi befand.[14] Über die aus zwei permanent rivalisierenden Hauptfraktionen, den Kawalisi und Bilbasi, zusammengesetzte Konföderation herrschte seitdem eine unabhängige Dynastie, die sich mit Hilfe einer zwischen den Parteigängern der Kawalisi und Bilbasi sorgfältig austarierten divide-et-impera-Strategie an der Macht erhielt.[15] Das prekäre Kräftegleichgewicht zerbrach, als in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Emir und fast alle seine Angehörigen im Kampf gegen die Ak-Koyunlu getötet wurden. Denn die Verjagung der Ak-Koyunlu gelang zwar aus eigener Kraft, aber anschließend schwang sich der Chef der Kawalisi als Protektor eines minderjährigen Nachkommen des Emirs zum alleinigen Herrn in Bitlis auf, woraufhin die Bilbasi prompt einen anderen überlebenden Sprößling in Muş zum Gegen-Emir kürten.[16] Man darf vermuten, daß die daraus resultierenden Kämpfe und die [– S.103 –] andauernde interne Uneinigkeit dazu beitrugen, daß Bitlis trotz seiner beträchtlichen ökonomischen Potenz von den Osmanen nur den Status eines autonomen beylik erlangte, während das nahegelegene, aber bei weitem nicht so reiche Hezu ein kürd hükûmeti werden konnte.[17]
Als unter Süleyman I., dem „Gesetzgeber“ (1520-1566), die Reichsgrenze noch weiter nach Osten und Süden ausgedehnt werden konnte, verfuhr man mit den neu ‚eingemeindeten‘ lokalen Herrschaften nach dem bewährten Muster.[18] Nicht viel anderes ging man aber auch mit den neuen Provinzen Bagdad und Basra um. Die beiden gleichnamigen Städte waren allen osmanischen Triumphen in Çaldıran und danach zum Trotz fest in safavidischer Hand geblieben und kamen erst 1533 bzw. 1538 unter die Hoheit der Osmanlı.[19] Im Bewußtsein der extremen Verwundbarkeit beider Regionen durch die Grenzlage zu den Safaviden zum einen, ihrer fiskalischen Ergiebigkeit[20] zum anderen, zudem gewitzt durch die Erfahrung, daß anfängliche Versuche, die zentralistische timar-Verfassung durchzusetzen, zu ernsten Aufständen geführt hatten[21], überließ die Pforte die gesamten Revenuen jeweils einem allgewaltigen Gouverneur, der dafür jährlich eine (hohe) Pauschalsumme an die Schatzkammer des Sultans abzuführen hatte.[22] Ein autonom herrschender, dafür aber reichlich Tribut zahlender Vasall war in solch wichtigen, für direkte Interventionen jedoch zu entfernt gelegenen Regionen einfach die kostengünstigste Lösung.[23]
Es versteht sich von selbst, daß die Einhaltung solcher Arrangements neben äußeren Umständen vor allem von der realen Machtbalance zwischen Zentralgewalt und Lokalherrschern abhing. Das Vasallenfürstentum Dulgadir beispielsweise wurde noch unter Süleyman I. zu einem normalen vilayet degradiert.[24] Auch für Kurdistan sind mehrere Fälle belegt, in denen die Pforte eine momentane Schwäche dortiger Fürstenhäuser ausnutzte, um ihre Erbrechte zu kassieren. U.a. traf es die Herren von Hasankeyf und von Çemişkezek; beide Male hatte ein Thronfolgestreit das lokale Herrscherhaus so gespalten, daß irgendeine Fraktion die Pforte um Hilfe anrief, die sich diese Gelegenheit nicht entgehen ließ. Erstere wurden auf ferne Statthalterposten ‚weggelobt‘, letztere [– S.104 –] mußten eine Zerstückelung des vormaligen kürd hükûmeti zu mehreren kleinen akrad beyliğis hinnehmen.[25]
Man sollte also vermuten, daß die Zahl der „kurdischen“ Erbdynastien („kurdisch“ wiederum im nicht-nationalen Sinne der osmanischen Verwaltungsklassifizierung) sich allmählich reduzierte, zumal das Aussterben eines Herrscherhauses nicht gänzlich ungewöhnlich war. Tatsächlich verhielt es sich jedoch andersherum: die absolute Zahl der Erbrechte nahm letztlich zu[26], und auch die an sich mindere Autonomie der akrad beyliğis näherte sich mehr und mehr den völlig unabhängigen Herrschaften wie Botan oder Hakkâri.[27] Die Ursache hierfür ist in der Tatsache zu suchen, daß es den Osmanen trotz ihrer militärischen Überlegenheit nie gelang, die Safaviden wirklich zu unterwerfen. Dies nötigte sie rasch zu der Einsicht, daß die ständig invasionsbedrohten östlichen Provinzen des Reiches ohne die Kollaboration der dortigen tribalen Elite nicht zu sichern war. Der Zustand fast unausgesetzter Kriegsbereitschaft zwang die weit mächtigeren Herren in Istanbul und Täbris (später Isfahan), die Selbständigkeit der lokalen Herrscher unangetastet zu lassen[28], da der jeweilige Konkurrent immer bereit war, für den Gewinn einer ganzen Region das zu bieten, was der aktuelle Oberherr den Lokalfürsten der schwer zugänglichen Bergwelt Kurdistans streitig machen wollte.[29] Zwischenzeitliche Frontwechsel [– S.105 –] einzelner Emirate waren deshalb durchaus an der Tagesordnung.[30] Allein dieser Position als Streitapfel der Großmächte war es zu verdanken, daß die Autonomieversprechen, die die Pforte in der Kriegssituation von 1515 gab, selbst auf dem Höhepunkt der osmanischen Macht (Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts) weitestgehend eingehalten wurden.[31] Allerdings gab man im zentralen osmanischen Verwaltungsapparat nie die Ansicht auf, daß es sich bei der inneren Autonomie jener Emirate, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die politische Gestalt der kurdischen Gesellschaft prägen sollten, bloß um ein „mangels besserer Durchsetzungsmöglichkeiten gemachtes ‚Zugeständnis‘“[32] handelte. Dies kam schon allein dadurch zum Ausdruck, daß man zur Bezeichnung von Provinzen, in denen „kurdische“ Sonderrechte vorherrschten, im Gegensatz zum sonst üblichen vilayet, das ganz abstrakt „Verwaltung“ bedeutete, den Begriff eyalet benutzte, in dem eine Konnotation von Autonomie steckte.[33]
Anfang des 16. Jahrhunderts war somit politisch eine neuartige Situation entstanden: Früher war die Zentralgewalt entweder so stark gewesen, daß der Autonomiespielraum der Peripherie gegen Null strebte, oder aber sie war so schwach, daß die Peripherie ihr entglitt und sich dort kleinere Dynastien aus eigener Kraft etablieren konnten. Nun aber war die Zentralgewalt trotz ihrer Stärke nicht in der Lage, die Peripherie gänzlich zu beschneiden. Zweifellos hatten die Sultane die militärische Kraft, jedes der in Kurdistan existierenden Emirate auszulöschen, darüber konnte sich nach Çaldıran niemand mehr täuschen. Die Botmäßigkeit der (waffentragenden) Bevölkerung wäre dann jedoch nur um den Preis ständiger militärischer Besetzung zu haben gewesen, was [– S.106 –] zuviele Kräfte gebunden hätte, die an anderen Fronten benötigt wurden. Mit anderen Worten: die Osmanen hatten die überlegene Kraft, in kurzen Schlägen Aufsässigkeit zu bestrafen und punktuell Fügsamkeit zu erzwingen — nicht aber dauerhaft die einheimische Machtelite in Kurdistan zu ersetzen. Letztere konnte also von einem machtvollen Oberherren Autorität ableiten, ohne zugleich befürchten zu müssen, daß dieser seine Überlegenheit in wirksame Kontrolle umsetzen könnte. Tatsächlich sprang die Pforte auch schon mal mit eigenen Truppen ein, wenn Übergriffe benachbarter Potentaten die Herrschaft einer von ihr lizenzierten Dynastie zu stürzen drohten.[34]
Für die Binnenstruktur der lokalen Herrschaften in Kurdistan bedeutete dies eine Fixierung der Machtverhältnisse auf genau dem Stand, den sie im vormals recht dynamischen Kräftespiel der verschiedensten Stammesfraktionen mehr oder weniger zufällig zum Zeitpunkt des Anschlusses an das Osmanische Reich erreicht hatten.[35] Da die Klans, die zu diesem Zeitpunkt die Oberhand hatten, mit der großherrlichen Belehnung die Macht erhielten, ihre Gefolgsleute mit Ämtern und timar-Rechten zu versorgen, die selbst wiederum erblich waren, wurde ihre Herrschaft regelrecht zementiert.[36] Mit der staatlichen Garantie für ihre Ansprüche im Rücken konnten sie ihre internen Gegner ohne viel Rücksichtnahme auf überkommene Gewohnheitsrechte von der Teilhabe am abziehbaren Mehrprodukt der reaya ausschließen.
Die außerordentliche Dauerhaftigkeit des osmanisch-safavidischen Konflikts eröffnete den fürstlichen Spitzen der kurdischen Gesellschaft eine jahrhundertelange — wenn auch manchmal prekäre — Autonomie zwischen den Machtblöcken. Mit der von außen abgestützten Stabilisierung der Binnenmachtverteilung begann sich dabei der Charakter ihrer Herrschaft in Richtung feudal-staatlicher Organisation zu ändern.[37] Allerdings machte die — in einer vom Stammeswesen geprägten Gesellschaft unvermeidliche — Fragmentierung der sozialen Zusammenhänge in ein kompliziertes Netzwerk konkurrierender (Pseudo-)Verwandtschaftsgruppen die Herausbildung einer institutionalisierten Zentralgewalt sehr schwer. Eine starre und konsistente Hierarchie von Entscheidungsebenen erwächst im Rahmen der Stammesstruktur nicht von allein. Vielmehr können Handlungspartner in Angelegenheit A ohne weiteres bezüglich Angelegenheit B scharfe Konkurrenten sein und brauchen keineswegs in beiden Belangen den [– S.107 –] gleichen Führungsinstanzen zu folgen. Ein entscheidendes Hindernis für die Zentralisierung der Macht in den Händen der Emire blieb daher die Schwierigkeit, eine Zwangsgewalt aufzubauen, die in allen Lagen allein der Dynastie loyal blieb und nicht bei jedem Eingriff nach Stammesgruppenloyalitäten auseinanderfiel.
Auch wenn die von außen bewirkte erhöhte Legitimität ihrer Herrschaft es einzelnen Emiren erlaubte, ihre persönliche Garde zu einem kleinen stehenden Heer auszuweiten, reichte es doch nicht, um etwa bei gewichtigen Entscheidungen den Willen des Emirs gegen einen anderslautenden Konsens der bewaffneten Stammesleute durchzusetzen. Zudem trieb die Macht der segmentären Konkurrenz jene Elite-Fraktionen, die durch ihre traditionellen Allianzen und Feindschaften von den Vorteilen der neu befestigten Macht ausgeschlossen blieben, fast automatisch in schärfste Opposition zur herrschenden Fraktion.[38]
Darüberhinaus sah auch die Pforte selbst zu, daß kein von ihr protegierter Lokalfürst übermächtig wurde. Zwar waren direkte Eingriffe selten, man war jedoch in Istanbul sehr genau über die Entwicklung der inneren Opposition bei den Vasallen informiert und stimulierte diese beizeiten, um zu selbstherrliche Fürsten zugunsten einer kooperationsbereiteren Linie der Herrscherdynastie zu ersetzen.[39] Trotz allem gibt es Anzeichen dafür, daß unter der jahrhundertelang stabilen Herrschaft einiger Dynastien das tribale System innerhalb der kurdischen Gesellschaft allmählich erodierte. Barth berichtet etwa, daß das Phänomen der institutionalisierten, nach dem Prinzip der Kollektivverantwortung funktionierenden Blutrache — deren intensiven Zusammenhang mit der Stammesorganisation er betont — in Süd-Kurdistan nur noch sehr schwach ausgeprägt sei[40], und führt dies auf die langanhaltende Dauer der Fürstentumsstaatlichkeit unter den Herrschern von Baban (Zentrum Sulaimaniya) zurück.[41]
Weiter vermute ich, daß mit der großherrlichen Belehnung nicht nur eine Stabilisierung der politischen Macht der Emire erfolgte, sondern daß auch eine [– S.108 –] erhebliche Verfeinerung der ideologischen Repräsentation und Absicherung ihrer Herrschaft stattfand, so daß die Aneignung des Mehrprodukts der Untertanenklasse sich über das Niveau der tribalen Razzien erhob, sich also nicht mehr bloß durch nackte Gewalt legitimierte, sondern — zumindest der Tendenz nach — als Ausfluß legitimer Herrschaft erscheinen konnte. Der Untermauerung ihrer Souveränitätsansprüche diente auch die Ausschmückung ihrer Residenzen mit Moscheen, Koranschulen, öffentlichen Brunnen und Märkten. Eine Stadt wie Bitlis, im 17. Jahrhundert auf nicht mehr als 30 000 Einwohner geschätzt, unterhielt nicht weniger als vier medresen („Theologenseminare“).[42] Der Wunsch, es dem osmanischen Vorbild gleichzutun, war zweifellos vorhanden, allein das gegebene soziale Umfeld ließ dies nur in beschränktem Maße zu.[43]
zurück zum Kapitel „Der Aufstieg des Safaviden-Reiches“
weiter zum Kapitel „Der Zusammenbruch der klassisch-osmanischen Gesellschaftsordnung“
weiter zum
nächsten Kapitel
zurück zum
vorigen Kapitel
aufwärts zum
Inhaltsverzeichnis
Fußnoten